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Haftungsfreiheit: US-Höchstgericht prüft Privilegien der Tech-Konzerne

Bislang schützt das Providerprivileg die Betreiber von Online-Diensten, um nicht für die Inhalte ihrer Nutzer:innen verantwortlich gemacht zu werden. Ohne dieses Prinzip wäre das heutige Internet undenkbar. Erstmals wird nun das US-Verfassungsgericht zwei Fälle dazu verhandeln.

Gebäude des U.S. Supreme Court
Das US-Verfassungsgericht behandelt in der kommenden Periode Grundsatzfragen rund um eines der Grundprinzipien des Internets. Foto: Joe Ravi / Bearbeitung: netzpolitik.org

Der Supreme Court der USA wird in den kommenden Monaten zwei netzpolitisch wegweisende Fälle behandeln. Im Kern dreht es sich um die Frage, ob Online-Dienste wie Youtube oder Facebook direkt für die Inhalte Dritter verantwortlich gemacht werden können, insbesondere wenn ihre Empfehlungssysteme bestimmte Inhalte vorschlagen. Es ist das erste Mal, dass sich das US-Verfassungsgericht dieser Grundsatzfrage annimmt.

Geklagt hatten die Familien von Terroropfern. In einem Fall geht es um die Studentin Nohemi Gonzalez, die im November 2015 bei einem islamistischen Terroranschlag in Paris getötet wurde. Den Anwälten zufolge hätten Propagandavideos des sogenannten Islamischen Staates eine „entscheidende Rolle“ dabei gespielt, Kämpfer:innen zu rekrutieren und sie dazu anzustacheln, Anschläge zu verüben. Aufgrund der aktiven Rolle, die die Algorithmen von Youtube bei der Verbreitung solcher Inhalte gespielt hätten, würde die Haftungsfreiheit für den Videodienst erlöschen.

Wer ist für Inhalte verantwortlich?

Das sogenannte Providerprivileg stellt Online-Anbieter von der unmittelbaren Haftung für Inhalte von Nutzer:innen frei, die sie auf den Diensten hinterlassen. In den USA regelt das der Abschnitt 230 des Communications Decency Act (CDA), in der EU spielt die E-Commerce-Richtlinie beziehungsweise künftig das Gesetz für digitale Dienste eine ähnliche Rolle. Die für das bisherige Internet zentrale Regelung sorgt dafür, dass Online-Anbieter ihre Dienste rechtssicher betreiben können, ohne für die Inhalte anderer vor Gericht geschleppt zu werden.

Seit einigen Jahren kommt das Prinzip jedoch aus unterschiedlichen Richtungen unter Beschuss. Manche argumentieren, darunter die nun klagenden Parteien, dass es zur Verbreitung schädlicher Inhalte beiträgt. Andere wiederum prangern die „privatisierte Rechtsdurchsetzung“ an, weil die Regelung es den Anbietern überlässt, wie sie mit nutzergenerierten Inhalten umgehen. Die Annahme der beiden Fälle durch das konservativ dominierte Höchstgericht dürfte auch den parteipolitisch geprägten Streit um die Macht der Tech-Konzerne noch befeuern.

Konservativer Angriff auf Providerprivileg

In den USA laufen dagegen vor allem Konservative Sturm, die sich in ihrer Meinungsfreiheit beschränkt fühlen. So hatte etwa der Ex-Präsident Donald Trump eine inzwischen im Sande verlaufene Verfügung erlassen, um Twitter am Faktencheck seiner Kurznachrichten zu hindern. Zugleich hatten mit Florida und Texas zwei republikanisch regierte Bundesstaaten Gesetze erlassen, die sozialen Medien die Moderation bestimmter Inhalte untersagen: Was sie als ihr Recht auf Meinungsfreiheit sehen, ist für andere etwa gefährliche Hassrede. Um beide Gesetze wird derzeit vor Gerichten gestritten, sie könnten ebenfalls vor dem Supreme Court landen.

Die Verteidigung der Online-Dienste dürfte dann ähnlich ausfallen wie im aktuellen Fall. Nutzer:innen posten dermaßen viele Inhalte im Netz, schreibt Google in seiner Eingabe an das Verfassungsgericht, dass es für die Anbieter gar keine Möglichkeit gebe, alle Inhalte auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen. Zudem stelle der Abschnitt 230 des CDA ausdrücklich klar, dass es sich bei Betreibern von Online-Diensten nicht um „Herausgeber“ (Publisher) handle, die Inhalte Dritter kuratieren würden – und sie für diese Inhalte nicht verantwortlich seien.

Im zweiten vom Supreme Court angenommenen Fall geht es nur indirekt um die bedingte Haftungsfreiheit. Darin werfen die Kläger Twitter, Facebook und Google vor, Islamisten die Nutzung ihrer Dienste erlaubt und damit gegen den Anti-Terrorism Act verstoßen zu haben. Twitter hatte das Höchstgericht gebeten, auch diesen Fall zu behandeln, sollte es den Gonzalez-Fall annehmen.

Sorge um Grundprinzip des Internets

Dass es nun dazu gekommen ist, hat unter Expert:innen Verstörung ausgelöst – auch deshalb, weil der jüngste Rechtsruck des US-Verfassungsgerichts jahrzehntealte Spruchpraxis über Bord geworfen hat. Wie die aktuelle Besetzung des Supreme Courts mit den Haftungsfragen rund um Empfehlungsalgorithmen umgehen könnte, sei „angsteinflößend“, schrieb die Regulierungsexpertin Daphne Keller auf Twitter.

Anderswo mutmaßte das Fachblog Scotusblog, dass dies der Rechtsstreit sei, auf den der erzkonservative Höchstrichter Clarence Thomas gewartet habe. Dieser hatte im Vorjahr am Rande durchblicken lassen, dass er große soziale Medien als „grundlegende Dienste“ (Common Carrier) sieht, die deshalb nicht nach ihren privaten Gemeinschaftsregeln moderieren könnten. „Der gesamte Umfang des Abschnittes 230 könnte auf dem Spiel stehen“, sagte der Universitätsprofessor Jeff Kosseff der Washington Post.


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