Ticker

6/recent/ticker-posts

Ad Code

Responsive Advertisement

Spionage, Sex und Scham: Überwachung im Namen des Herrn

Evangelikale Kirchen in den USA setzen auf Überwachungs-Apps, um das Verhalten ihrer Mitglieder zu kontrollieren. Bis ins kleinste Detail zeichnen die Programme das digitale Verhalten von Nutzer:innen auf und informieren Pastoren über angeblich „fragwürdige Aktivitäten“ wie Porno-Konsum oder Homosexualität.

Ein Smartphone mit einem bunten Kirchenglasfenster, vor dem der Schatten einer Statue von Jesus am Kreuz abgezeichnet ist
Man empfehle, die Anwendung nicht in Beziehungen mit einem Machtgefälle einzusetzen, sagen die Hersteller von Accountability-Apps. (Symbolbild) – Alle Rechte vorbehalten Imago / UIG

Sie überwachen den Browser-Verlauf, machen ständig Screenshots von genutzten Anwendungen, und geben sogenannten Partnern automatisch Alarm, wenn sie unerwünschte Inhalte finden. Die Überwachungs-Apps, die das Tech-Magazin Wired in einer Recherche beleuchtet, sind mächtige Instrumente. Angeblich sollen sie helfen, Betroffene von vermeintlicher Pornosucht zu befreien, doch evangelikale Kirchen in den USA nutzen sie, um ihre Mitglieder zu kontrollieren und Homosexualität zu stigmatisieren.

“Accountability Apps” heißen die Programme offiziell, zu Deutsch etwa: Rechenschafts-Apps. Anders als klassische Spionage-Apps, sogenannte Spyware, wissen die Betroffenen hier, dass sie die Anwendung auf dem Telefon haben. Denn erst durch dieses Wissen, dass sie permanent unter Beobachtung durch übergeordnete Personen stehen, soll der disziplinierende Effekt erzeugt werden. Shameware nennt deshalb ein Betroffener die Apps, sie funktionieren wie ein Panopticon der Scham.

Sünder:innen im Blick behalten

Im Wired-Artikel erzählt unter anderem ein ehemaliges Mitglied der evangelikalen Baptistenkirche „Gracepoint“ von seinen Erfahrungen mit der App „Covenant Eyes“. Nachdem er sich als schwul geoutet hatte, forderte eine Führungsperson seiner Gemeinde ihn auf, die Anwendung zu installieren. Es dauerte nicht lange, bis er vorwurfsvolle E-Mails von dem Pastor erhielt: „Irgendetwas, das du mir erzählen solltest?“ Im Anhang Berichte über das gesamte Surfverhalten der Woche, jeder digitale Inhalt, den er sich angesehen hatte. Insbesondere interessierte sich der Kirchenmann für eine Suche nach dem Schlagwort „schwul“.

Die Scham-Apps richten sich laut Wired in ihrem Marketing primär an Familien und Studierende, würden jedoch auch häufig von Evangelikalen Kirchen genutzt. Die Anwendung „Accountable2You“ beispielsweise habe extra Webseiten und spezielle Mengenrabatte für Kirchen eingerichtet, auf denen sich Mitglieder einzelner Kirchen anmelden können. Die Konkurrenz-App Covenant Eyes habe sogar einen Direktorenposten für den Vertrieb bei Kirchen. Allein bei den Südstaaten-Baptisten von Gracepoint gibt es laut Wired mehrere hundert Nutzer:innen, das Magazin berichtet zudem von einer Kirche in Kalifornien, bei der die App verpflichtend für alle Mitarbeitenden sei.

Sie würden davon abraten, die Anwendung in einem Verhältnis mit Machtgefälle einzusetzen, sagen Hersteller und Kirchenverantwortliche zu Wired. Doch bei allen fünf Fällen, die das Magazin aufgespürt hat, waren es kirchliche Führungspersonen, die die Aufsicht hatten. So berichtet Wired auch von einem jungen Mädchen, das Accountable2You installieren musste, weil ihre Eltern sie beim Pornoschauen erwischt haben. Als „Accountability Partner“ überwachte sie nicht nur ihre Mutter, sondern auch der Pastor der Gemeinde.

Google nimmt Apps aus dem Store

Wie oft die Apps genau eingesetzt werden, lässt sich schwer beziffern. Wired geht von hunderttausenden Downloads aus. Das Marketing konzentriert sich auf die USA, unklar ist, ob sie auch in Deutschland genutzt wird

In der Zwischenzeit hat Google sowohl Accountable2You als auch Covenant Eyes aus dem Android-App-Store geschmissen. Der Konzern steht immer wieder in der Kritik, weil er zu lasch gegen Apps vorgeht, die von Stalker:innen und gewalttätigen Partner:innen genutzt werden können. Grundsätzlich erlaubt Google auch Accountability-Apps dort, allerdings nutzten die beiden Anwendungen für ihre Überwachung spezielle Berechtigungen, die eigentlich nur für Apps gedacht sind, mit denen Menschen mit Behinderung unterstützt werden. Im App-Store von Apple sind die Anwendungen allerdings weiterhin verfügbar.

Ein besonderes Feature, das Covenant Eyes hervorhebt, ist die angebliche automatische Erkennung von pornographischen Inhalten. Entwickelt hat es laut Wired ein ehemaliger NSA-Mathematiker. “Ich wusste es damals noch nicht, aber Gott hat mich zu dieser Zeit an diese Stelle gebracht, damit ich einen Zweck erfüllen kann, der größer ist als ich“, erzählte der Entwickler laut Wired bei der evangelikalen Zeitung Christian Post. „Genau dafür hatten ich und andere gebetet.”

Kontrolle durch Überwachung

Für die Betroffenen allerdings ist die Anwendung Wired zufolge alles andere als ein Segen. Während die Apps behaupten, vielen Menschen dabei geholfen zu haben, eine Pornosucht hinter sich zu lassen, sind Expert:innen für’s Thema sexuelle Gesundheit skeptisch bezüglich der Langzeitfolgen. Sie kenne keine Person, die sich langfristig nach Nutzung derartiger Anwendungen besser fühlten, erzählt etwa Nicole Praus von der Universität Kalifornien „Die Menschen bekommen am Ende das Gefühl, dass etwas nicht mit ihnen stimmt, auch wenn es in Wirklichkeit vermutlich kein gravierendes Problem gibt.“

Darüber hinaus öffnen die Anwendungen Tür und Tor für Machtmissbrauch. Wired demonstriert zudem, wie fehleranfällig die automatisierten Filter der Scham-Apps sind. In einem Test habe zum Beispiel die Anwendung Accountable2You angeschlagen, wenn man die Website der US-Gesundheitsbehörde mit Informationen zum Thema LGTBQ für junge Menschen aufruft. „Das Telefon, das wir als Accountabilty-Partner ausgewählt hatten, wurde sofort mehr SMS und E-Mail informiert und bekam einen „Bericht über fragwürdige Aktivitäten“ zugeschickt.

Ohnehin gehe es nicht nur um Pornographie, erzählt eine junge Frau bei Wired. „Es geht darum, dich konform mit den Wünschen deines Pastors zu machen.“ In ihrem Fall habe der Priester sie etwa darauf angesprochen, dass sie auf Wikipedia einen Artikel über Atheismus gelesen hat.

Wer Informationen darüber hat, dass diese oder ähnliche Apps auch in Deutschland eingesetzt werden, kann sich vertrauensvoll an ingo.dachwitz@netzpolitik.org wenden.


Die Arbeit von netzpolitik.org finanziert sich zu fast 100% aus den Spenden unserer Leser:innen.
Werde Teil dieser einzigartigen Community und unterstütze auch Du unseren gemeinwohlorientierten, werbe- und trackingfreien Journalismus jetzt mit einer Spende.

Enregistrer un commentaire

0 Commentaires