Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger ist Leiter des Instituts für Cyberkriminologie an der Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg. Er forscht und arbeitet zu digitalen Formen der Polizeiarbeit und digitalen Straftaten (Cyberkriminologie).
netzpolitik.org: Sexualisierte Gewalt an Kindern und Darstellungen dieser Taten zählen zu den schlimmsten und geächtetsten Straftaten. Der klassische und juristische Begriff dafür ist „Kinderpornografie“. Viele kritisieren diesen Begriff als problematisch. Warum?
Rüdiger: Der Begriff als solches ist durchaus problematisch und er wird aus meiner Sicht zu Recht regelmäßig kritisiert. Mit „Pornografie“ assoziieren viele Menschen professionelle oder amateurhafte Videoaufnahmen von sexuellen, prinzipiell gleichberechtigten Handlungen zwischen Erwachsenen. Bereits hieraus erkennt man, dass der Begriff völlig falsch angebracht ist bei schwersten sexuellen Gewalthandlungen an Kindern.
netzpolitik.org: Das EU-Parlament forderte 2017, statt „Kinderpornografie“ den Begriff „Darstellungen von sexuellem Missbrauch von Kindern“ zu verwenden. Er betont die Perspektive der Opfer. Ist dieser Begriff ein guter Ersatz?
Rüdiger: Der Begriff ist ähnlich diskutabel wie der artverwandte Begriff „kinderpornografische Inhalte“. Er assoziiert, dass man Kinder im Umkehrschluss „gebrauchen“ könnte.
netzpolitik.org: Die Begriffe „Kinderpornografie“ und „Sexueller Missbrauch von Kindern“ sind also schlecht. Warum werden sie dann verwendet?
Rüdiger: Beide Begriffe sind zumindest im deutschen Strafrecht in der jeweiligen Form verankert. Das führt dazu, dass man in der kriminalpolitischen und juristischen Diskussion auch diese Begriffe nutzen muss, da die Gesetze diese festschreiben.
netzpolitik.org: Andere schlagen einen dritten Begriff vor: „Darstellungen sexualisierter Gewalt an Kindern“. Der nennt Gewalt als erste Straftat und betont ebenfalls die Perspektive der Opfer. Ist dieser Begriff ein guter Ersatz?
Rüdiger: Es fehlt einfach an wirklich passenden Begrifflichkeiten. Persönlich finde ich den Begriff der „sexualisierten Gewalt an Kindern“ noch am besten, auch wenn dieser wiederum formal-juristische Probleme auslöst.
Alle Begriffe problematisch
netzpolitik.org: Welche Probleme?
Rüdiger: Dieser Begriff spiegelt nicht die ganze Bandbreite der kriminologischen Phänomene in diesem Zusammenhang hinreichend wider. Der Gedanke hinter den relevanten Tatbeständen wie dem Paragraf für „kinderpornografische Inhalte“ ist ja, dass es sich um schwere Machtgefälle und schwerste Gewalthandlungen an den Wehrlosesten einer Gesellschaft handelt. Mittlerweile gibt es aber Entwicklungen, dass Kinder mit annähernd Gleichaltrigen beispielsweise sogenanntes „Sexting“ betreiben, als Form der eigenen ersten sexuellen Erfahrungen.
netzpolitik.org: Wikipedia schreibt zu „Sexting“: „Im Deutschen wird das Wort hauptsächlich für das Versenden von erotischen Selbstaufnahmen per Smartphone oder Internet verwendet.“ Und weiter: „In Deutschland kann Sexting bei Minderjährigen eine Strafbarkeit bis zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe […] begründen.“
Rüdiger: Wenn ein 13-jähriges Mädchen an ihren 14-jährigen Freund ein entsprechendes Nacktbild von sich sendet, dann kann hier ein „kinderpornographischer Inhalt“ entstehen, ohne dass man automatisch von „Gewalt“ oder einem „Machtgefälle“ sprechen kann. Diese Tatsache spiegelt sich aber noch nicht hinreichend in der kriminalpolitischen Diskussion wider.
netzpolitik.org: Letztes Jahr hat der Bundestag ein neues Gesetzespaket zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder beschlossen. Ging es dabei auch um dieses Problem?
Rüdiger: Der Gesetzgeber hat hierbei im Paragraf „Sexueller Missbrauch von Kindern“ eine Öffnungsklausel integriert. Damit kann ein Gericht von Strafe bei „sexuellem Kindesmissbrauch“ absehen, wenn der Alters- und Reifeunterschied zwischen Kind und Täter:in gering ist und die Handlungen freiwillig und einvernehmlich erfolgen. Diese Regel soll also unerwünschte Kriminalisierungstendenzen im Rahmen der sexuellen Erfahrungen zwischen Minderjährigen vermeiden. Bei digitalen Delikten wie „Cybergrooming“ und auch bei „kinderpornografischen Inhalten“ gibt es eine solche Regel aber nicht.
netzpolitik.org: Warum nicht?
Rüdiger: Das kann ich so nicht klar beantworten. Meine Vermutung ist, dass diese Auswirkungen offenbar schlicht nicht hinreichend klar skizziert wurden in der politischen Debatte oder argumentativ nicht durchgedrungen sind.
„Kinderpornografie“ im Internet
netzpolitik.org: Wie hat sich die Verbreitung „kinderpornografischer“ Inhalte in den letzten Jahren entwickelt?
Rüdiger: Zunächst kann man das nie mit Bestimmtheit sagen, schlicht weil man dafür eigentlich einen Überblick haben müsste, was wirklich stattgefunden hat. Das würde regelmäßige, im Prinzip weltweite Dunkelfeldstudien erfordern. Und selbst dabei würde immer noch eine Form des absoluten Dunkelfelds existieren, das man nicht erhellen kann.
netzpolitik.org: Das BKA veröffentlicht jedes Jahr die Polizeiliche Kriminalstatistik, zuletzt vor einem Monat.
Rüdiger: Auch das polizeiliche Hellfeld, das sich in Form der Polizeilichen Kriminalstatistik zeigt, hat seine bekannten Schwächen. Jedoch kann man hier zumindest Trends ablesen, wie sich bei der Polizei angezeigte Sachverhalte, die dann auch an die Staatsanwaltschaft abgegeben werden, entwickelt haben.
netzpolitik.org: Und was sind die Trends?
Rüdiger: In der Polizeilichen Kriminalstatistik kann man, grob gesagt, zwei Entwicklungen herauslesen. Zunächst haben digitale Deliktsformen eine durchaus massive Zunahme zu verzeichnen, darunter auch „Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornografischer Inhalte“. Gleichzeitig haben sich die festgestellten Tatverdächtigen signifikant verjüngt.
netzpolitik.org: Was bedeutet das?
Rüdiger: Bei der Zunahme der Delikte muss man in der Polizeilichen Kriminalstatistik zwei Felder unterscheiden. Einmal alle begangenen Delikte, also kinderpornografische Straftaten, die sowohl analog als auch digital begangen werden. Und einmal eine Eingrenzung auf Delikte, die über das Tatmittel Internet begangen werden. Dies ist wichtig für die Entwicklung der minderjährigen Tatverdächtigen.
netzpolitik.org: Wie ist die Entwicklung im Internet?
Rüdiger: Noch 2018 wurden „nur“ 5.199 Fälle über das Tatmittel Internet registriert, 2021 sind es nun 31.383 Fälle.
Tatverdächtige Kinder und Jugendliche
netzpolitik.org: Welche Rolle spielen minderjährige Tatverdächtige?
Rüdiger: Der Anteil der minderjährigen Tatverdächtigen kann bei einer Eingrenzung über das Tatmittel Internet nur durch eine spezielle Auswertung der Kriminalstatistik erfolgen. Diese hat die polizeiliche Kriminalprävention vorgelegt. Demnach sind von 28.661 Tatverdächtigen insgesamt 13.125 erwachsen, aber 15.536 minderjährig. Das heißt, 54 Prozent der Tatverdächtigen, also die Mehrheit, sind selbst Kinder und Jugendliche.
netzpolitik.org: Warum ist das so?
Rüdiger: Auch hier müssen wir differenzieren. Vereinfacht dargestellt sind drei phänomenologische Ausprägungen denkbar. Es kann sich um Minderjährige handeln, die tatsächlich beispielhaft im Darknet kinderpornografische Inhalte herunterladen, teilen oder gar bewusst anfertigen. Diese Variante halte ich persönlich für die seltenste.
Dann kann es sich um Minderjährige handeln, die in Chatgruppen aktiv sind. Wenn hier irgendjemand kinderpornografische Sticker, GIFs oder andere Medien postet, kann der Anfangsverdacht des Besitzes faktisch für alle Teilnehmer dieser Gruppe bestehen. Hintergrund ist hier unter anderem die selten ausgeschaltete automatische Downloadfunktion für Medien. Damit hat man die Medien direkt auf dem Smartphone. Das scheint aktuell mit das häufigste Problem zu sein, so gibt es Berichterstattungen darüber, dass alleine in Dortmund gegen 400 Schüler:innen wegen Chatdelikten Ermittlungen laufen.
Die letzte Möglichkeit ist die bereits beschriebene im Rahmen von Sexting-Handlungen zwischen Minderjährigen. Ich persönlich halte die Entwicklungen des Austauschs über Chatgruppen für die relevanteste, da so gegen viele Nutzer:innen auf einmal Ermittlungsmaßnahmen eingeleitet werden.
Gesetzgeber muss handeln
netzpolitik.org: Wie könnte man dieser Entwicklung effektiv begegnen?
Rüdiger: Ich glaube, wir müssen den Umgang mit diesem Phänomen kriminalpolitisch neu denken. Strafverschärfungen, wie in der Vergangenheit, bringen hier nichts und sind im Zweifel sogar kontraproduktiv. Hier müsste man zudem eher über Anpassungen im strafprozessualen Bereich nachdenken, beispielhaft beim Legalitätsprinzip.
netzpolitik.org: Nach dem Legalitätsprinzip sind Strafverfolgungsbehörden verpflichtet, ein Ermittlungsverfahren zu eröffnen, wenn sie Kenntnis von einer möglichen Straftat erlangen.
Rüdiger: Man stelle sich vor, Schüler:innen eines Chats, in dem kinderpornografische Inhalte gepostet werden, möchten dies zur Anzeige bringen. Was werden die Kinder oder auch ihre Eltern vermutlich im ersten Moment machen? Screenshots vom Chat und den Bildern anfertigen. Oder die Schüler leiten das ihren Eltern oder Lehrer:innen sogar weiter. Dann kann hier zunächst auch gegen alle Beteiligten – Schüler:innen, Lehrer:innen oder auch Eltern – der Anfangsverdacht des Besitzes, Anfertigens oder auch des Verbreitens von kinderpornografischen Inhalten bestehen. Die Polizei wird dann im Zweifel gegen alle Beteiligten Ermittlungsverfahren einleiten müssen. Durch das „Legalitätsprinzip“ ist sie faktisch dazu verpflichtet und hat keinerlei Spielraum.
netzpolitik.org: Was sollte man stattdessen tun, um sich nicht strafbar zu machen?
Rüdiger: Richtig wäre, erst die Polizei zu informieren und dann den Anweisungen zu folgen. Hintergrund ist, dass ja erst ermittelt werden muss, ob die Aussagen überhaupt stimmen und um Schutzbehauptungen ausschließen zu können.
Auf eigentliche Täter konzentrieren
netzpolitik.org: Sollte der Gesetzgeber das Gesetz ändern?
Rüdiger: Ich glaube tatsächlich, dass der gesamte Tatbestand an diese Entwicklung angepasst werden müsste. Vielleicht müsste das Gesetz sogar gänzlich neu strukturiert werden, damit nur die Tätergruppierungen erfasst werden, um die es geht. Minderjährige im Rahmen ihrer gleichberechtigten sexuellen Entwicklung untereinander sollten nicht vom Strafrecht erfasst werden.
netzpolitik.org: Hat die Änderung des Gesetzes letztes Jahr etwas verbessert?
Rüdiger: Es hat die Situation meiner Einschätzung nach eher verschärft. Ein besonderes Problem stellt die Erhöhung des Paragrafen zu kinderpornographischen Inhalten vom Vergehen zum Verbrechen. Dadurch haben all die beschriebenen Konstellationen Mindeststrafen von einem Jahr Freiheitsstrafe. Das grenzt die Handlungsspielräume ein. Wie das aufgelöst wird, ist mir noch nicht ganz klar.
Teilweise wird bei Minderjährigen darauf hingewiesen, dass das über das Konstrukt des Diversionsverfahrens im Jugendstrafrecht gelöst werden kann. Dass sie also keine entsprechenden Strafen erwarten müssen.
netzpolitik.org: Aber das ist ja nicht nur ein juristisches Problem?
Rüdiger: Ja. Was hierbei aus meiner Sicht viel zu wenig bedacht wird: Was macht es mit Minderjährigen, wenn sie mit einem der schwersten Vorwürfe konfrontiert wird, die das Strafrecht im Prinzip kennt? Allein dafür, dass sie in einem Chat waren, in dem jemand anderes das gepostet hat? Oder dafür, dass sie gleichberechtigtes Sexting betrieben haben?
Das Ergebnis kann auch sein, dass die Polizei ihre Smartphones beschlagnahmt oder sicherstellt, im ungünstigsten Fall sind auch Hausdurchsuchungen denkbar. Was alleine der Vorwurf für Auswirkungen auch auf die Eltern und das soziale Umfeld haben kann, müsste jedem eigentlich klar sein. Eine Kampagne der Polizeilichen Kriminalprävention zeigt diese Auswirkungen in mehreren Videoclips sehr eindrücklich.
Medienkompetenz und Bildung
netzpolitik.org: Was sollte getan werden, um die Situation zu verbessern?
Rüdiger: Für mich ist neben einer Änderung des Rechtsrahmens, der gegenwärtig wichtigste Weg die frühzeitige Vermittlung von Medienkompetenz, nicht nur, aber vor allem an Kinder und Jugendliche. Dazu gehört dann auch die Aufklärung über solche Zusammenhänge. Genauso wichtig erscheint mir aber auch, dass der Gesetzgeber solche Fragen angeht und Lösungen präsentiert und nicht einfach nur jedes Mal am Strafrahmen dreht.
netzpolitik.org: Welche Lösungen wären aus ihrer Sicht sinnvoll und schnell umzusetzen?
Rüdiger: Endlich Medienkompetenz ab der ersten Klasse an jeder Schule, in diesem Rahmen sollten solche Themen angesprochen werden. Ich könnte mir auch die Übertragung der Öffnungsklausel aus dem Paragraf für Sexuellen Missbrauch von Kindern für freiwillige Handlungen zwischen annähernd gleichaltrigen Minderjährigen auf alle digitalen Sexualdelikte vorstellen. Das müssten aber dann spezialisierte Jurist:innen in Abstimmung mit der kriminalpolitischen Praxis durchdenken und entsprechend formulieren.
Aufklärung und Chatkonrolle
netzpolitik.org: Wie viele Fälle von „Kinderpornografie“ werden aufgeklärt?
Rüdiger: Die Aufklärungsquote bei kinderpornografischen Delikten liegt bei 92,5 Prozent. Unter Beachtung der hohen Zahlen minderjähriger Tatverdächtige wäre meine These: Minderjährige wissen nicht, dass sie sich strafbar machen, sind entsprechend leicht ermittelbar. Wirklich „Täter:innen“ betreiben tendenziell mehr Aufwand, um ihre Identität zu verschleiern und die Delikte sind entsprechend schwerer aufzuklären. Die Tätergruppierungen, um die es einer Gesellschaft eher gehen sollte, sind schwerer zu identifizieren als der 14-jährige Schüler im Klassenchat.
netzpolitik.org: Am Mittwoch hat die EU-Kommission einen Gesetzesvorschlag zum Schutz von Kindern präsentiert. Danach sollen Anbieter von Internet-Diensten Kommunikation wie Chats nach „Kinderpornografie“ durchsuchen. Was halten Sie von diesem Vorschlag?
Rüdiger: Ich sehe hierbei die Gefahr, dass auch bei solchen vollautomatisierten Kontrollen am ehesten die erwischt werden, die sich im Zweifel der Strafbarkeit gar nicht bewusst sind – die Minderjährigen. Die Tätergruppierungen, um die es der Gesellschaft geht, werden vermutlich sehr schnell auf andere Mechanismen umsteigen.
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