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Ausscheidender EU-Berater: Gilles de Kerchove erfindet „linksterroristische“ Gefahr

Das Bild zeigt ein Graffiti zu den neun Ermordeten in Hanau und ihre Namen.

Im Terrorismus-Jahresbericht für das Jahr 2020 hat Europol kürzlich 24 linke und anarchistische Terroranschläge gezählt. Die Vorfälle haben sich demnach sämtlich in Italien ereignet, bei keinem davon kamen Menschen zu Schaden. Angegriffen wurden hauptsächlich Mobilfunkmasten und andere Infrastruktur von Telekommunikation, etwa Relais oder Kabel. Der gleiche Bericht zählt indes mit Hanau nur einen einzigen rechtsterroristischen Anschlag, der neun Tote hinterließ, sowie sechs dschihadistische Anschläge, die zwölf Menschen getötet haben.

Jedes Land kann selbst bestimmen, ob die im Jahresbericht genannten Vorfälle als „extremistisch“ oder „terroristisch“ eingestuft werden. Es ist offensichtlich, dass die hohen Zahlen für „Linksterrorismus“ der speziellen Zählweise italienischer Behörden geschuldet ist. Trotzdem hat der EU-Anti-Terrorismus-Koordinator Gilles de Kerchove nun ein Papier vorgelegt, das Initiativen gegen einen darin beschworenen „Linksterrorismus“ vorschlägt. Die britische Bürgerrechtsorganisation Statewatch hat es veröffentlicht.

Mau gegen Rechts

De Kerchove schreibt, dass einige Mitgliedstaaten Straftaten als „Terrorismus“ verfolgen, die in anderen nicht als solcher angesehen würden. Gleichzeitig schlägt er zahlreiche linke Themenfelder und Kampagnen „linken und anarchistischen Gewaltextremisten“ zu, darunter Kämpfe gegen Repression, Militarismus, Kolonialismus und Faschismus sowie Tierrechte, „Umweltanliegen“ und staatliche Migrationspolitik.

Das Dokument richtet sich an die Ratsarbeitsgruppe „Terrorismus“, in die jeder EU-Mitgliedstaat eine Vertreter:in entsendet. Sie trifft Richtungsentscheidungen für zukünftige Maßnahmen, die dann in Papieren wie der „EU-Agenda zur Terrorismusbekämpfung“ festgeschrieben werden. Die Kommission, die EU-Agenturen und die Behörden der Mitgliedstaaten sind anschließend für deren Umsetzung zuständig.

In seiner Eingabe bleibt de Kerchove vage, was die tatsächliche Gefahr der beschriebenen Vorfälle betrifft. Für den Fall, dass die Ratsarbeitsgruppe jedoch zu dem Schluss kommt, „linkem und anarchistischem Gewaltextremismus und Terrorismus“ größere Aufmerksamkeit zu schenken, regt er „eine Reihe spezifischer Maßnahmen“ an.

Erkenntnisse des geheimdienstlichen EU-Lagezentrums

Die Vorschläge knüpfen an vier Aktionsbereiche an, die vom Ministerrat für Inneres und Justiz vor zwei Jahren gegen „gewalttätigen Rechtsextremismus und -terrorismus“ beschlossen wurden. Die damit beauftragte EU-Kommission hat die Umsetzung jedoch verschleppt. Weder hat sie die geforderte Kartierung rechtsterroristischer Gruppen vorgelegt, noch gab es ernsthafte Versuche der Bekämpfung rechter Aktivitäten.

Nun soll das Instrumentarium gegen Links eingesetzt werden. De Kerchove gründet seine Vorschläge unter anderem auf Erkenntnisse des geheimdienstlichen EU-Lagezentrums INTCEN. Die dort versammelten Inlandsgeheimdienste könnten demnach aufgefordert werden, ihren Austausch über die „von linken und anarchistischen Gewaltextremisten angewandten Angriffsstrategien und -methoden“ zu intensivieren und regelmäßige Einschätzungen über die von ihnen ausgehende Bedrohung vorzulegen. Aus Deutschland ist im INTCEN das Bundesamt für Verfassungsschutz vertreten.

Die Mitgliedstaaten könnten außerdem „ermutigt werden“, das seit 2016 bei Europol bestehende „Europäische Zentrum für Terrorismusbekämpfung“ bei Ermittlungen zu „linkem und anarchistischem Gewaltextremismus und Terrorismus“ verstärkt um Unterstützung zu bitten. Europol könnte dem Papier zufolge das Phänomen außerdem in sein jährliches Arbeitsprogramm aufnehmen. Eurojust, die EU-Agentur für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, würde die Mitgliedstaaten dann bei der Strafverfolgung unterstützen.

Entfernung von „Hassreden“

Unter anderem könnte die Meldestelle für Internetinhalte bei Europol „gewalttätigen Linksextremismus“ verfolgen. Die Abteilung war 2016 gegen dschihadistischen Terrorismus eingerichtet worden, ihr Aufgabenbereich wurde 2019 auf gewalttätigen Rechtsextremismus erweitert. De Kerchove regt an, das Internet jetzt nach linken „Hassreden“ zu durchsuchen und die betreffenden Provider zur Entfernung aufzufordern.

Laut de Kerchove nutzen Linke das Internet auch für sogenanntes Doxing, also das Sammeln und Veröffentlichen persönlicher Daten von rechtsextremistischen Aktivist:innen oder Politiker:innen. Im Rahmen des EU-Internetforums könnte die Meldestelle mit den dort vertretenen Internetfirmen Maßnahmen dagegen entwickeln. Die Unternehmen sollen Doxing in ihren Geschäftsbedingungen verbieten und entsprechende Postings sofort entfernen.

Der Anti-Terrorismus-Koordinator attestiert Linken eine „etwas altmodische“ Nutzung des Internets und vergleicht dies mit Rechtsextremen, die sich stattdessen einer „verschlüsselten Sprache und gruppeninterner Meme bedienen“. Damit hätten sie es geschafft, „sich ganze, zuvor politisch neutrale Webforen anzueignen“. „Linke und anarchistische Gewaltextremisten“ verzichteten hingegen oft „ganz auf Online-Kommunikation“, um nicht von Behörden überwacht zu werden. Linke würden das Internet indes dafür nutzen, das „Sicherheitsbewusstsein ihrer Anhänger“ entsprechend zu fördern.

Input vom Verfassungsschutz

Es ist unklar, was de Kerchove mit seinem Papier bezweckt. Seine 14jährige Amtszeit wird inzwischen als zu lange bewertet, bald soll er von einer Nachfolger:in abgelöst werden. Der Aufgabenbereich wird dann deutlich erweitert, auch das bereits jetzt hochrangige Personal wird vermutlich aufgestockt. Es gibt Gerüchte, wonach das Bundesinnenministerium eine Person aus Deutschland für den Posten vorschlägt.

An mehreren Stellen nennt das Papier Initiativen aus Deutschland, das Bundesamt für Verfassungsschutz hat demnach Zahlen und Informationen zugeliefert. So beobachte der deutsche Dienst „zunehmende Versuche linker Gewaltextremisten, gewaltfreie linke Bewegungen zu radikalisieren und zu instrumentalisieren“, darunter etwa „Gruppen, die sich gegen Mieterhöhungen und die globale Erwärmung wehren“. Eigens erwähnt werden die Proteste im Hambacher Forst sowie das Abschalten der Webseite von Indymedia Linksunten.

Am Ende empfiehlt de Kerchove, dass die Kommission die Mitgliedstaaten im Austausch über „Linksextremismus“-Präventions- und Ausstiegsprogramme unterstützt. Er nimmt dabei Bezug auf ein elf Jahre altes Projekt aus Deutschland, das die Europäische Jugendbildungsstätte Weimar damals im Auftrag des Familienministeriums mit 500 Jugendlichen durchgeführt hat. Deren Leiter konnte aber im „Linksextremismus“ keine Gefahr für die Demokratie erkennen. Stattdessen konstatierte er zum Ende des Projekts: „Die Demokratie wird hier von anderer Seite gefährdet, der problematische Mainstream ist klar rechts.“


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