Jugendliche wollen sich über Sex informieren und landen dabei auf Pornoseiten. Mit Sperren und Verboten lässt sich das nicht lösen, erklärt Jessica Euler, Geschäftsführerin des Vereins „Aktion Kinder- und Jugendschutz“, im Interview – und empfiehlt konkrete Angebote.
Hilfe, mein Kind hat eine Pornoseite besucht – mit solchen Anliegen wenden sich besorgte Mütter und Väter an Jessica Euler vom Verein Aktion Kinder- und Jugendschutz aus Brandenburg. Der Verein gibt Workshops für Eltern und pädagogische Fachkräfte, zum Beispiel aus Jugendclubs, Kitas und der Jugendhilfe. Grundlage ist das Sozialgesetzgebuch, in dem steht: Jugendliche und Erziehungsberechtigte sollen Angebote für „erzieherischen Kinder- und Jugendschutz“ bekommen.
Dafür bekommt der Verein Geld vom Land Brandenburg. Euler, seit 2001 Geschäftsführerin, erklärt im Interview, wieso Jugendliche immer wieder auf Pornoseiten landen, welche Rechte sie dabei haben – und woran Schulen und Eltern oft scheitern.
netzpolitik.org: Jessica Euler, welche Rolle spielen Pornoseiten für Jugendliche?
Jessica Euler: Jugendliche stoßen bei dem Versuch, sich sexuell zu bilden, oft auf Pornoseiten, das merken wir durch Gespräche. Aber Pornoseiten vermitteln kein realistisches Bild von Sexualität. Jugendliche haben noch keinen Vergleich aus dem realen Leben, wie Sexualität aussehen kann. Deshalb brauchen sie Gesprächsräume. Sie müssen zum Beispiel lernen, ihre eigene Sexualität und ihre Grenzen zu spüren und wie man selbst solche Grenzen setzt. Wenn zum Beispiel jemand ständig Dickpics geschickt bekommt, kann die Person denken: Das ist normal, damit muss ich leben. Aber Jugendliche müssen lernen: Wenn du mir gegen meinen Willen ein Dickpic zeigst, ist das eine Grenzverletzung, und dann tue ich was dagegen.
netzpolitik.org: Können Schulen das nicht vermitteln?
Jessica Euler: Meistens nicht ausreichend. Viele Lehrkräfte sind beim Thema Pornos zögerlich und glauben, die Jugendlichen wissen darüber schon mehr als sie selbst. Aber Zögerlichkeit ist genau das, was Jugendliche nicht brauchen. Sie brauchen Lehrkräfte, die sagen: Lasst uns über Penisse sprechen! Lasst uns über Vulven sprechen! Lasst uns über Sexualität, über Selbstbestimmung und deren Grenzen reden! Viele Erwachsene haben schon Probleme, diese Worte überhaupt zu sagen. Neben dem Unterricht sollte es mehr Angebote außerhalb der Schule geben, um über Sexualität zu sprechen. Nicht immer sind Lehrkräfte die passenden Ansprechpartner:innen oder Schulen der passende Raum.
Selbstverständliches Verhalten
netzpolitik.org: Wie sieht es mit den Eltern aus?
Jessica Euler: Die meisten Eltern scheuen auch davor zurück, mit Jugendlichen über Sexualität zu sprechen. Das ist immer noch ein Tabu. Bei uns rufen Eltern an und sagen: Mein Kind war auf einer Pornoseite. Sie wollen wissen, was sie am Handy einstellen müssen, damit das nicht wieder passiert. Wir fragen erst mal, wie alt das Kind ist. Dann sagen sie zum Beispiel: 14 Jahre. Tja, in diesem Alter ist es ein selbstverständliches Verhalten, sich über Sexualität informieren zu wollen. Technische Hürden haben nur begrenzte Wirkung und können Jugendliche kaum aufhalten. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
netzpolitik.org: Was raten Sie den Eltern?
Jessica Euler: Wir nehmen die Sorgen der Eltern ernst und versuchen, sie im Sinne der Kinderrechte zu beraten. Das heißt: Im Mittelpunkt steht das Kind, das ein Bedürfnis hat. Das ist zum Beispiel das Bedürfnis, sich über Sexualität zu informieren. Dabei hat das Kind mehrere Rechte. Es hat das Recht, vor schädlichen Inhalten geschützt zu werden – man nennt das auch: sozialethisch desorientierende Inhalte.
netzpolitik.org: … in diesem Fall also: Pornos.
Jessica Euler: Genau. Das Kind hat aber auch das Recht auf Information, Meinungsfreiheit und Teilhabe. Es hat das Recht, die eigene Sexualität zu entwickeln und befähigt zu werden, sich selbst gute Informationen zu suchen. Zugleich haben Eltern laut Grundgesetz einen Erziehungsauftrag und Kinder haben ein Recht auf Erziehung. Das muss miteinander abgewogen werden.
Positiv, einvernehmlich, lustbetont
netzpolitik.org: OK, und welche konkreten Tipps springen dabei heraus?
Jessica Euler: Wir raten zum Beispiel: Sprechen Sie mit dem Kind darüber, dass das, was dort dargestellt wird, nicht der Realität entspricht. Damit das Kind eine realistische Vorstellung von Sexualität bekommt. Eine große Hilfe sind auch Angebote für sexuelle Bildung, die – für Jugendliche angemessen – Sexualität als positiv, einvernehmlich und lustbetont vermitteln. Solche Angebote sind leider kaum bekannt. Es ist ein Problem, dass Nachrichtenmedien vor allem über große Pornoseiten berichten.
netzpolitik.org: Welche Angebote können Sie empfehlen?
Jessica Euler: Es gibt zahlreiche Aufklärungsseiten, die das Thema Sexualität sachlich für junge Menschen aufbereiten:
- profamilia.de
- safer-sexting.de
- verein.leichtlesen.at
- jungsfragen.de
- youtube.com/c/aufklo/videos
- tiktok.com/@wahrscheinlichpeinlich
- instagram.com/maedelsabende/
Plattformen mit ausschließlich guten Angeboten, die junge Menschen lustvoll ansprechen, sind mir nicht bekannt.
netzpolitik.org: Es gibt Filterprogramme wie JusProg, die Websites nach Altersstufen sortieren, etwa: ab 12, ab 16, ab 18. Eltern können den Filter auf den Geräten ihrer Kinder installieren. Was halten Sie davon?
Jessica Euler: Im Jugendmedienschutz geht es immer um Altersgrenzen. Aber das Problem ist, dass sich Kinder unterschiedlich schnell entwickeln. Ich spreche deshalb lieber von der Entwicklungsangemessenheit. Kinder haben das Recht, sich zu informieren, und die Angebote müssen ihrer Entwicklung angemessen sein. Das muss nicht deckungsgleich sein mit Altersgrenzen wie „ab 12“ oder „ab 18“. Trotzdem können solche Filter-Programme helfen.
„Uns fehlt immer Geld“
netzpolitik.org: Inwiefern?
Jessica Euler: Viele Kinder interessieren sich zum Beispiel dafür, wie Körperteile aussehen. Aber sie sagen, sie finden Pornos doof und eklig und haben darauf keine Lust. Vielleicht suchen sie also nach Informationen über Nacktheit und Sexualität. Dazu gibt es ja auch Info-Angebote, die ihrer Entwicklung angemessen sind. Und Filterprogramme können helfen, dass Kinder dabei nicht auf Inhalte stoßen, die sie nicht sehen wollen.
netzpolitik.org: Welche Rolle spielt das Thema in Ihrer alltäglichen Arbeit?
Jessica Euler: In unseren Workshops kümmern wir uns um die komplette Lebensrealität von Kindern und Jugendlichen. Sexuelle Entwicklung ist zwar schon ein großes Thema, aber es gibt noch viel mehr, zum Beispiel körperliche Gewalt oder Cannabis. Das Interesse an den Workshops ist viel größer als wir bedienen können. Unser Team besteht nur aus vier Leuten mit Teilzeitstellen.
netzpolitik.org: Heißt das, Sie brauchen mehr Geld?
Jessica Euler: Uns fehlt immer Geld! Unser Verein ist in Brandenburg aktiv, in den meisten Bundesländern gibt es ähnliche Vereine. Erzieherischer Jugendschutz ist zwar auch ein staatlicher Auftrag, läuft aber leider oft unter dem Radar, weil wir – in Anführungszeichen – nur pädagogische, präventive Angebote machen. Wenn dagegen die Medienaufsicht eine Pornoseite verbietet, dann geht das viel mehr durch die Presse.
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