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Breakpoint: Besessen vom Internet

Ist das Internet schuld daran, dass Menschen anderen Gewalt antun, weil es so einfach ist? Nein, findet unsere Kolumnistin. Die „Gefahren des Internets“ sind Gefahren, die von Menschen ausgehen. Und da müssen wir ansetzen.

Vier Auberginen
Wer ungewollte Dickpicks verschickt, tut anderen Gewalt an und entscheidet sich ganz freiwillig dafür. Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com charlesdeluvio

Ein ganz normaler Montagabend, du sitzt auf der Couch, schaust „hartaberfair“: Plötzlich überkommt dich eine unbekannte Macht. Wie durch die neueste 3.500-Euro-VR-Brille siehst du dich selbst im 3rd-Person-Mode. Deine linke Hand greift zum Handy, deine rechte Hand zieht die Hose runter. Klick – ein Foto von deinem Penis. Dein Körper gehorcht dir nicht! Dein Zeigefinger öffnet den Chat mit einer Bekannten. Klick. Das Foto ist verschickt. Du bist wie besessen. Besessen vom Internet.

Das Internet schränkt den freien Willen ein. Bekanntermaßen. So meint der Musikproduzent Thomas Stein in der ARD-Talkshow „hartaberfair“. Angesichts der Vorwürfe gegen den Rammstein-Sänger sollte es um Männer gehen, die ihre Macht ausnutzen. Von Gewaltvorwürfen auf Konzerten wechselt die Diskussion zu sexualisierter Belästigung im Netz.

Auf die Frage, wer schuld am Versenden von ungewollten Dickpics sei – die Männer oder das Internet – sagt Stein: „Es liegt auch am Internet. Weil die Einfachheit, die Vermittlung der Dinge, einfach extrem schnell geht“.

Wer macht das Foto?

Zur großen Überraschung vieler Kulturpessimist:innen kann man das Verb „vermitteln“ auch in der aktiven und nicht nur in der passiven Form verwenden: Etwas „wird“ nicht vermittelt, sondern Menschen vermitteln etwas. Oder macht das Internet „einfach“ Fotos von Genitalien und verschickt sie?

Die von Stein beschriebene „schnelle Vermittlung“ von Dickpics könnte überhaupt nicht geschehen, wenn es diese Fotos gar nichts erst gäbe. Und: Einen Menschen der sie verschicken will. Einen Menschen, der sexualisierte Gewalt ausüben will. Und das ganz ohne von dem als hirnfressenden Virus beschriebenen Mythos „Internet“ befallen worden zu sein.

Diese Erkenntnis muss zu einer bedrückenden – und für manche Menschen wohl auch überraschenden – Einsicht führen: Sexualisierte Übergriffe im Netz „passieren“ nicht einfach so. Täter:innen vollziehen sie. Aktiv. Gewaltvoll. Freiwillig.

Der Sündenfall der Moderne

Immer wieder wird dieses berüchtigte „Internet“ von einem bloßen Werkzeug zu einem lebendigen Wesen erhoben, das selbst die besten Menschen zu den übelsten Taten verführt. Als wäre es eine Schlange und die Menschen eine naive Eva, die es schlicht nicht besser weiß als in den Apfel zu beißen und andere online zu belästigen, zu verunglimpfen und zu bedrohen: Das Internet als Sündenfall der Moderne.

Dabei vergessen wir: Es ist ein menschengemachtes, menschengenutztes Instrument. Es besitzt weder einen eigenen Willen, noch eigene Handlungsoptionen. Aber es ist einfacher, Verantwortung abzugeben als sie zu übernehmen: statt menschlichen Handlungen ihre Werkzeuge zu regulieren.

Nicht zuletzt bei der Chatkontrolle blieb unberücksichtigt, wer über Neuronen verfügt: Menschen, keine Computer. Sonst hätte ich bei den letzten Dickpics, die mir geschickt wurden, Kabel und keine Venen gesehen.

Statt Cybergrooming zu verhindern, sollen Chats durchleuchtet werden. Statt misogynem, rassistischen und homophoben Hass in der Gesellschaft entgegenzuwirken, sollen User leichter identifizierbar sein.

Deine freie Entscheidung

Dabei sind „Gefahren des Internets“ in erster Linie Gefahren, die von Menschen ausgehen. Deswegen sind selbst starke Freiheitsbeschränkungen im Netz oftmals lediglich Symptombehandlungen.

Stattdessen gilt es, das Verhalten von Täter:innen zu verändern, um die Freiheit der Anderen zu bewahren. Sowie die Existenz von Straßen keine Ursache für Catcalling ist, sorgt auch das Internet nicht dafür, dass Personen andere mit Dickpicks belästigen.

Was dich da überkommen hat, an einem ganz normalen Montagabend, auf deiner Couch, während du „hartaberfair“ geschaut hast: Das war keine Besessenheit, kein Kontrollverlust, kein Vernunftverlust – es war deine freie Entscheidung, anderen Gewalt anzutun.


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