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Massenüberwachung: Das sagen Kinderschutz-Organisationen zur Chatkontrolle

Mutter und Tochter schauen auf ein Handy; ein Polizist kontrolliert mit Taschenlampe
Chatkontrolle heißt, dass im Zweifel nicht nur Erziehungsberechtigte ihren Nachwuchs beaufsichtigen (Symbolbild) – Polizist: IMAGO / YAY Images, IMAGO / MASKOT, Montage: netzpolitik.org

Weder Erwachsene noch Kinder und Jugendliche möchten wohl ihre privaten Online-Chats jemandem zur Kontrolle vorlegen. Aber wie wäre das, wenn Chat-Anbiter und Polizei zur Sicherheit einen Blick hinein werfen? Ein solches Szenario wäre durch die Chatkontrolle möglich, die ein Entwurf der EU-Kommission einfordert.

Anbieter unter anderem von Chat-Apps müssten auf Anordnung Inhalte scannen. Entdeckt die Software einen Verdacht auf sogenannte Missbrauchsdarstellungen oder Kontaktanbahnungen durch Erwachsene, dann schlägt sie Alarm. Die Inhalte sollen zunächst an die Anbieter gehen, dann an Ermittlungsbehörden. Dabei kann es passieren, dass auch harmlose Aufnahmen auf dem Schreibtisch der Polizei landen.

Die Folge wäre, dass private Kommunikation nicht mehr vertraulich ist. Das könnte auch Familienchats und intime Chats unter Jugendlichen und Kindern betreffen. Ist das im Sinne des Kinderschutzes? Wir haben Kinderschutzorganisationen um eine Einschätzung gebeten – und gemischte Antworten erhalten.

Deutscher Kinderverein: „Kinderschutz darf nicht missbraucht werden“

Der Deutsche Kinderverein versteht sich als Impulsgeber und Kinderschutz-Lobbyist auf Grundlage der UN-Kinderrechtskonvention. Kinderschutz sei eine der größten sozialen Baustellen in unserem Land, heißt es auf der Website. Geschäftsführer Rainer Rettinger bezeichnet die geplante Chatkontrolle gegenüber netzpolitik.org als „massiven Eingriff in rechtsstaatliche Grundsätze“.

Rettinger verweist auf Recherchen, die zeigen: Dem BKA mangelt es schon jetzt nicht an Hinweisen auf Aufnahmen sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Entdeckte Fotos und Videos bleiben online, weil Ermittler:innen die Provider nicht strukturiert dazu auffordern, sie zu löschen. „Allein dies ist schon ein Skandal und für Betroffene ein unerträglicher Zustand“, schreibt Rettinger. „Nun will man eine anlasslose Massenüberwachung starten, hat aber derzeit kein Personal, um diese Massen bewältigen zu können.“

Rettinger hinterfragt: „Wer garantiert, dass die Technologie fehlerfrei arbeitet?“ Auch IT-Expert:innen warnen vor den unvermeidlichen Fehlerquoten automatischer Erkennungstechnologien. Außerdem könnte eine Chatkontrolle zum Kinderschutz laut Rettinger ein „Türöffner“ sein für Ermittlungen zu anderen Fällen. Dafür dürfe „Kinderschutz nicht missbraucht werden“.

Statt einer Chatkontrolle sieht Rettinger viele, drängendere Aufgaben. Dazu gehörten unter anderem eine „Verdopplung der Fachkräfte im Jugendamt“, „bessere Ausstattung der Jugendämter“ und eine „deutschlandweite, verpflichtende Ausbildung im Kinderschutz“. Kinder müssten wissen, wo es Hilfe gibt; was Erwachsene dürfen und was nicht. Lehr- und Erziehungspersonal müsse geschult und sensibilisiert werden, um mögliche Betroffene zu erkennen. Hier solle die EU aktiv werden. Mit Bilck auf die Chatkontrolle schreibt Rettinger: „Solange die Hausaufgaben der Politik nicht gemacht sind, solange brauchen wir über diese Maßnahmen nicht reden.“

Innocence in Danger: „gegen das Dunkelfeld“

Eine klare Gegenposition vertritt der deutsche Ableger der internationalen Organisation Innocence in Danger. Vorstand Julia von Weiler schreibt netzpolitik.org: „Der Begriff Chatkontrolle ordnet das Vorhaben in eine Big-Brother-artige Totalüberwachung ein – und gibt meines Erachtens das Gesetzesvorhaben der EU falsch wieder.“ Außerdem schreibt sie: „Sollte das vorgeschlagene Gesetz der EU Wirklichkeit werden, wären Kinder und Betroffene viel besser geschützt als vorher. Alleine durch die Tatsache, dass Provider die Risiken für gelingenden Kinder- und Jugendschutz evaluieren und adressieren müssen.“

Im vergangenen Jahr habe sich die Zahl der angezeigten Missbrauchsabbildungen im Netz verdoppelt. „Die neue Maßnahme würde sicherlich gegen das riesige Dunkelfeld wirksam werden“, schreibt von Weiler. Große Anbieter würden bereits jetzt „Milliarden von Missbrauchsabbildungen“ aus ihrem Kommunikationsbestand fischen. „Das ist für Kinder und Jugendliche, deren Erleiden sexualisierter Gewalt millionenfach digital geteilt wird, ein Segen.“

Zur Einordnung: Die US-Organisation National Center for Missing & Exploited Children (NCMEC) führt Buch über gemeldete Missbrauchsdarstellungen im Netz. Daten liefern unter anderem Tech-Konzerne wie Facebook, Google und Microsoft. Im Jahr 2021 gingen demnach 29,3 Millionen Meldungen ein. Das NCMEC befasst sich nicht nur mit sexualisierter Gewalt, sondern auch mit vermissten Kindern. Nach eigenen Angaben zählte das NCMEC in den vergangenen 37 Jahren „Milliarden Fotos vermisster Kinder“.

Netzwerk Kinderrechte: „mit Maximalforderungen reingehen“

Eher abwägend argumentiert Jutta Croll, Vorstandsmitglied des Netzwerks Kinderrechte Deutschland. Das Netzwerk nimmt sich die UN-Kinderrechtskonvention zur Grundlage, rund 100 Organisationen sind dort Mitglied. „Wir haben den Entwurf der EU-Kommission begrüßt“, sagt Croll im Gespräch mit netzpolitik.org. Es sei das erste Mal, dass ein Gesetzentwurf der EU einen grundsätzlich kinderrechtlichen Ansatz verfolge und den Vorrang des Kindeswohls gemäß der EU-Grundrechtecharta in den Fokus rücke.

„Die geplanten Maßnahmen zur Chatkontrolle greifen schwerwiegend in Grundrechte und Persönlichkeitsrechte ein“, sagt Croll. Aber der Entwurf mache sehr klar, dass die EU-Kommission sich dessen bewusst sei. Die Kommission habe entsprechende Mechanismen eingezogen, damit aus der Chatkontrolle keine anlasslose Überwachung sämtlicher persönlicher Kommunikation werde. „Ob diese Mechanismen ausreichen, lässt sich jetzt noch nicht absehen“, sagt Croll.

Genau hier ist der Knackpunkt, an dem die Einschätzungen auseinandergehen: Kritiker:innen, IT-Expert:innen und Bürgerrechtler:innen befürchten eine verheerende Ausweitung der Chatkontrolle auf Millionen Nutzer:innen zahlreicher Dienste.

Warum die Chatkontrolle Grundrechte bedroht

Croll finde den Entwurf der EU „argumentativ gründlich ausgearbeitet“. Es brauche eine Balance zwischen dem Recht auf Privatsphäre und dem Schutz von Kindern und Jugendlichen. Auch der Fokus auf private Chats sei wichtig, weil hier Täter:innen Kontakt zu Kindern und Jugendlichen anbahnen. „Es ist eine weit verbreitete Grooming-Strategie, dass sich Täter:innen zuerst als Jugendliche ausgeben. Sobald sie ein Bild haben, verlangen sie mehr und drohen damit, etwa der Familie Bescheid zu sagen.“ Diese Art von Erpressung setze Kinder massiv unter Druck.

Dass eine Chatkontrolle schon allein technisch nicht ohne Fehler ablaufen kann, ist Croll bewusst. „Es ist durchaus denkbar, dass auch ganz harmloses, einvernehmliches Sexting zwischen Jugendlichen in das Raster einer Chatkontrolle fällt“, sagt sie. „Das könnte auch heißen, dass Mitarbeitende der Ermittlungsbehörden die Bilder sehen.“ Harmlose, intime Bilder von Minderjährigen auf den Bildschirmen von Beamt:innen – ist das OK? Croll sagt: Auch hier gehe um eine Abwägung, um gravierende Fälle sexuellen Missbrauchs zu verhindern.

Kinderschutzbund: „unverhältnismäßig und nicht zielführend“

Croll rechnet mit ungefähr zwei Jahren Verhandlungen über das Gesetz. „Es ist klar, dass der Entwurf dabei geschliffen wird. Ich finde es aus reiner Kinderrechtsperspektive gut, mit Maximalforderungen reinzugehen.“ Wichtiger als die Chatkontrolle ist für Croll das „Risk Assesssment“ (Risikoabschätzung). Das heißt, Anbieter sollen selbst untersuchen, wie ihre Dienste für sexualisierte Gewalt gegen Kinder missbraucht werden können, und Gegenmaßnahmen ergreifen. Für Croll ist der Entwurf ein wichtiger Anstoß, um auch Anbieter in die Verantwortung zum Schutz von Kindern zu nehmen.

Die Meinungen innerhalb des Netzwerks Kinderrechte Deutschland sind offenbar nicht einheitlich. Deutlich kritischer positioniert sich der Deutsche Kinderschutzbund, auch Mitglied des Netzwerks. Der Deutschen Presse-Agentur sagte Bundesvorstand Joachim Türk: „Verschlüsselte Kommunikation spielt bei der Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen kaum eine Rolle.“ Der Kinderschutzbund halte deshalb „anlasslose Scans von verschlüsselter Kommunikation für unverhältnismäßig und nicht zielführend.“

Auch von Politiker:innen der Ampelparteien gab es scharfe Kritik an dem Vorhaben, zuletzt etwa von Digitalminister Volker Wissing (FDP): „Es darf nicht passieren, dass unbescholtene Bürgerinnen und Bürger unbegründet des Kindesmissbrauchs verdächtigt werden“. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte den EU-Vorstoß aber auf Twitter begrüßt. Es steht daher noch nicht fest, welche Position Deutschland bei bevorstehenden Verhandlungen im EU-Rat einnehmen wird.


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