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Datenvisualisierung: Website sammelt tödliche Polizeischüsse

Eine Pistole vor weißem Hintergrund, stilisiert mit Streifen

Der Softwareentwickler, Datenwissenschaftler und Datenanalyst Johannes Filter entwickelt Open-Source-Software, um freien Zugang zu Informationen zu ermöglichen. Matthias Monroy schreibt regelmäßig für netzpolitik.org.

Das größte Risiko, in Deutschland von einer Polizeikugel tödlich getroffen zu werden, besteht seit 1976 in den Bundesländern Hamburg und Hessen. Insgesamt ist Berlin mit 28 Opfern (davon 10 in Westberlin) die tödlichste Stadt. Am häufigsten betroffen sind 25-jährige Männer, gefährlichster Monat ist der Dezember. Auch eine Häufung an einzelnen Wochentagen ist erkennbar, es überwiegt der Donnerstag und der sechste Tag im Monat. Am Wochenende sterben weniger Menschen durch den polizeilichen Schusswaffengebrauch, dort fällt ebenso die Beteiligung von Spezialeinheiten an den tödlichen Einsätzen deutlich geringer aus.

Die Schlussfolgerungen ergeben sich aus jährlichen Statistiken der Zeitschrift CILIP, die wir jetzt neu sortieren und darstellen. Seit 1976 zählt die CILIP tödliche Polizeischüsse und gleicht diese mit anderen Informationen ab. Im Auftrag der Ständigen Konferenz der Innenminister*innen und -senator*innen der Länder (IMK) erstellt die Deutsche Hochschule der Polizei (DHPol) eine jährliche Schusswaffengebrauchsstatistik, die im Frühjahr oder spätestens im Sommer des Folgejahres abgeschlossen und auf Anfrage herausgegeben wird.

Neben Warnschüssen unterscheidet die Übersicht zwischen dem Gebrauch gegen Tiere, Sachen und gegen Personen. Eine weitere Kategorie ist der unzulässige Schusswaffengebrauch, darunter auch gegen Unbeteiligte. Gezählt werden schließlich auch Verletzte und Tote.

306 Erschossene seit 1989

Seit dem Fall der Mauer wurden 306 Menschen von der deutschen Polizei erschossen, von 1976 bis 1990 zählen wir weitere 146 Opfer in Westdeutschland. Mit unserer Übersicht können wir die These stützen, dass eine beträchtliche Zahl von psychisch beeinträchtigten Menschen Opfer von Polizeischüssen werden. In rund einem Fünftel aller Fälle finden wir entsprechende Hinweise; viele der Betroffenen werden dabei in ihrer eigenen Wohnung getötet, etwa wenn sie als Reaktion auf das polizeiliche Eindringen oder im Gefühl des Bedrohtseins plötzlich zu einem Messer greifen. In einer Mehrzahl der Fälle sind die späteren Opfer bewaffnet, heutzutage allerdings eher mit einer Stich- und seltener mit einer Schusswaffe. Sichtbar wird auch, dass im letzten Jahrhundert häufiger bei Banküberfällen geschossen wurde.

Ein Balkendiagramm, dass die Anzahl von Todesschüssen seit 1976 pro Jahr zeigt
Polizeiliche Todesschüsse von 1976 bis 2021 - polizeischuesse.cilip.de/

Wir zählen alle Fälle, in denen Menschen durch eine Polizeikugel gestorben sind. Aufgeführt ist jedoch nur die dienstliche Verwendung der Waffen. Deshalb beziehen wir die zahlreichen „erweiterten Suizide“, in denen Polizisten zuvor Partnerinnen oder Angehörige töten, nicht ein. Ebenfalls nicht gezählt sind Situationen, in denen dies außerhalb des Dienstes erfolgt. Dies betrifft mindestens zwei Fälle von 1986 und 1995, in denen Polizisten zur Aushilfe an einer Tankstelle arbeiteten und bei einem Überfall ihre Dienstwaffe eingesetzt haben.

Die Todesschüsse recherchiert der CILIP-Redakteur Otto Diederichs gewöhnlich in der Presse. Früher erfolgte dies durch die Sichtung von gedruckten Tageszeitungen, heute ausschließlich im Internet. Die Medienberichte sind mit Vorsicht zu genießen, denn oft überwiegt darin die Darstellung und mithin die Sichtweise der Polizei.

Weitere Details erfragen wir anschließend bei den zuständigen Polizeibehörden oder Staatsanwaltschaften. Manchmal müssen wir dann Fälle ergänzen, die uns nicht bekannt wurden. Mitunter korrigieren wir unsere Zählung auch, etwa wenn die von uns gezählten Todesschüsse lediglich zu einer schweren Verletzung geführt haben. Einige Fälle haben wir womöglich auch nicht korrekt dargestellt, zum Beispiel wenn in späteren Untersuchungen neue Sachverhalte bekannt wurden.

Diskrepanzen zur polizeilichen Zählung ergeben sich, wenn die staatsanwaltlichen Ermittlungen zur Todesursache nach einem Schusswaffengebrauch nicht abgeschlossen sind. Dann werden die Fälle als „offen“ bewertet, sie tauchen also in der offiziellen Jahresstatistik nicht als „Tote“ auf. Dies hat die DHPol erst ab 2014 mit der neuen Rubrik „noch nicht klassifizierte Fälle (Folgen)“ berücksichtigt.

Balkendiagramm zur Wochentagsverteilung der Polizeischüsse
Durchschnittliche Todesschüsse von 1976 bis 2021 pro Wochentag, unterteilt nach SEK-Beteiligung - polizeischuesse.cilip.de/

Für die Visualisierung haben wir die Fälle nach Hinweisen auf eine psychische Ausnahmesituation der Opfer durchsucht und markiert. Uns haben auch Schussabgaben innerhalb und außerhalb von Gebäuden interessiert, nicht immer ließ sich dies jedoch rekonstruieren.
Unsere Fallbeschreibungen sind erst mit den Jahren umfangreicher geworden. So bleibt etwa das Geschlecht der Getöteten bis zum Jahr 1982 häufig offen. In der neuen Übersicht haben wir ab der Jahrtausendwende Online-Quellen nachgetragen. Nachweise zu den früheren Ereignissen finden sich in unserem Zeitungsarchiv, in das wir auf Anfrage gern Einblick gewähren.

Tod durch Taser

Seit 2021 sammeln wir auch Todesfälle durch den polizeilichen Einsatz von Tasern (technisch „Elektroimpuls-Distanzwaffen“). Bis vor einigen Jahren waren lediglich Spezialeinheiten damit ausgerüstet. In einigen Bundesländern ist dies bereits auf „geschlossenen Einheiten“ der Landespolizei ausgeweitet (Bayern), in anderen gehören die Geräte zur „Grundausstattung“ mehrerer Polizeipräsidien (Nordrhein-Westfalen, Hessen, Saarland). In Rheinland-Pfalz hat angeblich „jeder Streifenwagen“ einen Taser an Bord.

Die Taser-Statistik stellen wir gesondert dar, denn die Elektroschocks führen zu deutlich anderen Todesursachen als Munition aus Schusswaffen. Die Opfer sterben an Herz- oder Kreislaufstillstand, Organversagen oder sie ersticken an Erbrochenem. Unsere Liste zeigt, dass bislang fast alle Opfer innerhalb von Gebäuden getasert werden. Bei allen Getöteten lassen die Presseberichte auf eine psychische Ausnahmesituation, beziehungsweise Drogenkonsum schließen.

Der Artikel erscheint kommende Woche in der gedruckten Ausgabe der Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/CILIP. Das Heft 127 „Polizeirecht – Entgrenzung und Protest“ kann hier bestellt werden.


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