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Digitales Gesundheitssystem: Chaos rund um das E-Rezept

E-Rezept

Zum 1. Januar soll es also losgehen, auf Teufel komm raus: Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) hält weiterhin am geplanten Datum für den bundesweit verpflichtenden Start des E-Rezepts fest. Und das, obwohl sich Bedenken aus allen Ecken des Gesundheitssystems mehren und die Testphase alles andere als erfolgreich verlaufen ist. Seit dem Start des Tests im Juli wurden gerade mal 42 E-Rezepte erfolgreich ausgestellt und abgerechnet.

Geplant war ursprünglich eine dreimonatige Testphase in der Region Berlin-Brandenburg. Ab dem 1. Oktober sollten dann Praxen und Apotheken bundesweit E-Rezepte testen können. Weil die Technik immer wieder Probleme machte, wurde die regionale Testphase bis Ende November verlängert. Doch auch mit der Verlängerung gelang es der verantwortlichen Gematik nicht, die angepeilten 1.000 Testrezepte auszustellen und abzurechnen.

Die Gematik ist die Gesellschaft, die für die Digitalisierung des Gesundheitswesens verantwortliche ist. Das Gesundheitsministerium hält 51 Prozent der Anteile und damit die Stimmmehrheit im Unternehmen. Die Gematik betreut unter anderem die Telematikinfrastruktur (TI), also das geschützte Netzwerk, über das alle Akteure des Gesundheitssystems kommunizieren. Über die TI sollen unter anderem auch die E-Rezepte zwischen Arztpraxen, Krankenhäusern, Apotheken und Krankenkassen ausgetauscht werden.

Bundesärztekammer will Einführung stoppen

Neben dem BMG sind zum Beispiel auch die Bundesärztekammer, die Deutsche Krankenhausgesellschaft, der Deutsche Apothekerverband und die Kassenärztliche Bundesvereinigung Gesellschafter der Gematik. Mit einigen anderen Verbänden haben diese Organisationen sich nun zusammengetan, um die bundesweite Einführung des E-Rezepts zu verhindern: „Die Ärzte, Zahnärzte, Apotheker und Krankenhäuser appellieren […] dringend an den Gesetzgeber, die Anwendung des eRezeptes erst nach einer ausreichenden Testphase und erwiesener Praxistauglichkeit für den Regelbetrieb in den Praxen vorzusehen.“

Die Verbände kritisieren, dass die Gematik die Testphase als „erfolgreich“ bezeichnet hat: „Das Gegenteil ist der Fall: Tatsächlich sind die Tests in der Fokusregion Berlin-Brandenburg nicht aussagekräftig“, heißt es in einer gemeinsamen Pressemitteilung. Neben der geringen Anzahl an ausgestellten E-Rezepten kritisieren die Verbände auch, dass bislang zu wenige Praxen, Apotheken und Krankenkassen am Test beteiligt gewesen seien. Krankenhäuser seien noch gar nicht zum Zug gekommen.

Über das Problem der fehlenden Beteiligung ist man sich auch bei der Gematik im Klaren. Die Verantwortung schiebt der Geschäftsführer Markus Leyck Dieken in einer lesenswerten Twitter-Auseinandersetzung mit dem Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen aber den Kassen selbst zu. Diese hätten sich nicht ausreichend beteiligt und hätten ihren Versicherten etwa keine elektronischen Gesundheitskarten zugeschickt.

Ein digitales Angebot, das Sie nicht ablehnen können

Leyck Dieken spielt darauf an, dass zur Nutzung der E-Rezept-App der Gematik eine moderne elektronische Gesundheitskarte (eGK) vonnöten ist, die Versicherte von ihren Kassen bekommen können. Denn nur mit diesen neuen Karten und einer PIN können die Nutzer:innen sich mit der Karte in der App eindeutig identifizieren. Wer die App nicht nutzen kann oder nutzen möchte, bekommt stattdessen in der Praxis einen QR-Code ausgedruckt.

Der QR-Code ist, egal ob digital oder ausgedruckt, der Schlüssel zum eigentlichen Rezept, das dann nur noch digital auf den Servern der Gematik vorhanden sein wird. Das bedeutet, dass auch die Rezepte von Patient:innen ohne Smartphone oder E-Rezept-App digital ausgestellt werden. Es gibt keine Möglichkeit, sich gegen das E-Rezept zu entscheiden.

Gründe dagegen gäbe es derweil genug – sowohl für Patient:innen als auch für Ärzt:innen. Schon vor der Einführung kritisierte der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber, dass das System für die E-Rezepte zentral angelegt ist. Alle Rezepte landen auf einem Server der Gematik. Kelber favorisierte eine dezentrale Datenspeicherung bei den Patient:innen selbst.

Chaos scheint vorprogrammiert

So wären die Daten in der Hand der einzelnen Nutzer:innen, die sie selbst verwalten könnten. Das System wäre auch besser gegen Ausfälle der Telematikinfrastruktur geschützt. Diese Ausfälle kommen immer wieder vor und legen im schlimmsten Fall die Praxen für Tage oder Wochen lahm. Wenn die TI ausfällt, können E-Rezept weder ausgestellt noch eingelöst oder abgerechnet werden. Chaos scheint vorprogrammiert – und das inmitten einer Pandemie und einer stotternden Impfkampagne.

Expert:innen kritisieren auch immer wieder die technische Ausarbeitung des E-Rezepts. Kürzlich zerpflückte ein IT-Experte das System für das Online-Portal Apotheke Adhoc. Die QR-Codes, also die Schlüssel zu den eigentlichen Rezepten, seien unnötig kompliziert und damit fehleranfällig. Auch an der Sicherheit hat der Experte so seine Zweifel. Die Rezepte seien nicht Ende-zu-Ende-verschlüsselt und somit potenziell für die Gematik lesbar.

Die betont immer wieder, dass sie technisch von der Datenverarbeitung ausgeschlossen sei. Man könne die Daten auf den eigenen Servern nicht einsehen. Die fehlende Ende-zu-Ende-Verschlüsselung begründete sie im Juli gegenüber netzpolitik.org unter anderem mit der „Ausbaufähigkeit“, die vom Gesetzgeber verlangt worden sei. Es seien „Workflows“ für digitale Gesundheitsanwendungen oder Hilfsmittelanträge vorgesehen, „die eine individuelle Verarbeitung erfordern“. Außerdem werde serverseitig überprüft, ob die E-Rezepte korrekt ausgestellt seien. Mit einer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung sei das nicht möglich gewesen.

Was macht Karl Lauterbach?

Allerhand offene Fragen für ein System, das weniger als einen Monat vor der verpflichtenden bundesweiten Einführung steht. Und die Gematik? Bleibt entspannt. Gegenüber der Ärztezeitung bezeichnete eine Führungskraft das E-Rezept als „beherrschbar“. Die Test mit fiktiven Rezepten seien vielversprechend. So vielversprechend offenbar, dass die Gematik sich nicht davor fürchtet, auf flächendeckende, reale Tests zu verzichten und sofort zum Ernstfall übergeht.

Neu wäre das nicht. Überhastete Digitalisierungsmaßnahmen haben im deutschen Gesundheitssystem seit der Amtszeit von Jens Spahn eine gewisse Tradition. Anfang Oktober ging beispielsweise die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, kurz eAU an den Start. Noch Mitte November konnten nur etwa vier Prozent aller Praxen die Bescheinigungen problemlos an die Arbeitgeber und an die Kassen versenden. Bei der Hälfte aller Praxen funktionierte der Versand überhaupt nicht.

Ob der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach bei der Digitalisierung auf die Bremse tritt, ist noch offen. Lauterbach äußerte sich in der Vergangenheit immer wieder positiv gegenüber digitalen Hilfsmitteln im Gesundheitswesen. Ob er dabei allerdings mehr Wert auf einen reibungslosen Ablauf und den Schutz und die Sicherheit der Gesundheitsdaten legt, bleibt abzuwarten. Der Koalitionsvertrag liest sich in dieser Hinsicht allerdings bedenklich: Die Ampel möchte das E-Rezept und andere Digitalisierungsmaßnahmen „beschleunigen“.


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