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Digitale Gewalt: Richter:innen sollen Accounts sperren lassen

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Können Accountsperren digitale Gewalt stoppen? (Symbolbild) – Bild: Pixabay; Montage: netzpolitik.org

Jede Woche neue Todesdrohungen: Manche erleben Hass und Hetze im Netz nicht nur während eines Shitstorms, sondern dauerhaft. Dann wird diese Form von Gewalt zum Teil des Lebens. Wer dagegen etwas tun möchte, kann nur begrenzt auf die Hilfe von Plattformen hoffen. Teils sperren Anbieter wie Facebook und Twitter gewaltsame Accounts selbst, teils nicht. Alternativ können Betroffene mutmaßliche Straftaten wie etwa Volksverhetzung bei der Polizei anzeigen. Doch manchmal passiert daraufhin monatelang nichts, wie jüngst Recherchen des ZDF Magazin Royale gezeigt haben.

Ein anderes mögliches Werkzeug gegen digitale Gewalt könnten „richterlich angeordnete Accountsperren“ sein. SPD, Grüne und FDP haben sich im Koalitionsvertrag vorgenommen, das möglich zu machen. Auf Anfrage von netzpolitik.org schreibt das Justizministerium, es befinde sich zu dem Gesetzgebungsvorhaben in einer „umfassenden Prüfphase“. Das heißt, es steht mindestens auf einer To-do-Liste.

Konkret könnten solche Accountsperren zum Beispiel so aussehen: Wer etwa auf Facebook Todesdrohungen erhält, könnte sich zivilrechtlich gegen den betreffenden Facebook-Account wehren. Richter:innen in Deutschland können dann entscheiden, dass Facebook den Account aufgrund der Posts zumindest zeitweise sperren muss. Dafür wäre es nicht einmal nötig, die Identität der mutmaßlichen Täter:innen zu ermitteln.

GFF will schneller Entwurf vorlegen als Regierung

Richter:innen, die Accounts von Unbekannten sperren lassen – die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) verspricht sich  davon nicht etwa weniger Freiheit im Netz, sondern mehr. Das klingt zunächst paradox, und genau damit spielt die GFF im Titel ihres Vortrags auf der Digitalkonferenz re:publica: „Sperren für die Freiheit“. Wie soll das gehen?

Digitale Gewalt treffe nicht alle gleich, schreibt die GFF, die sich mit der Marie-Munk-Initative für Rechtssicherheit gegen Hass und Hetze im Netz einsetzt. Für Frauen und andere marginalisierte Menschen sei sie Alltag. „Sie droht ausgerechnet die Menschen auszuschließen, die offene digitale Diskursräume am meisten bräuchten.“ Accountsperren könnten Betroffene schnell vor weiteren digitalen Attacken schützen. Wer hinter dem betroffenen Account steckt, sei zunächst irrelevant. „Damit entfällt auch das Bedürfnis nach immer neuen Formen der Massenüberwachung, insbesondere der Vorratsdatenspeicherung.“

Auf der re:publica haben Ulf Buermeyer und Sina Laubenstein von der GFF am heutigen Donnertag skizziert, wie solche richterlich angeordneten Accountsperren aussehen könnten. Mit ihrem eigenen Gesetzesentwurf möchte die GFF „schneller sein als die Bundesregierung“, sagte Laubenstein.

„Wer mit seinem Auto Mist baut, riskiert auch ein Fahrverbot“

Als mögliche Frist für Accountsperren könne sich die GFF beispielsweise sieben Tage vorstellen, wie Buermeyer erklärt. Das traue er Gerichten zu. Plattformen müssten die Kommunikation mit dem Gericht betroffenen Nutzer:innen mitteilen – und gesperrte Personen sollten ein Recht haben, die Entscheidung anzufechten.

Unerwünschte Accounts sperren, so etwas würde auch autoritären Regimen sicher gefallen. Was, wenn manche Staaten Accountsperren missbrauchen, um marginalisierte Gruppen zum Schweigen zu bringen? Ulf Buermeyer sagte dazu am Rande der re:publica zu netzpolitik.org: „Unrechtsstaaten brauchen keine Vorwände, um Accounts zu sperren. Dass andere Staaten Accountsperren missbrauchen können, ist daher zwar richtig, zugleich aber kein Argument gegen einen rechtsstaatlichen Einsatz.“

Einige große Plattformen sind außerdem wichtige Orte des öffentlichen Lebens. Eine Accountsperre könnte Menschen die Teilhabe an diesen Orten verwehren. Ist das angemessen? „Wer mit seinem Auto Mist baut, riskiert auch ein Fahrverbot“, so Buermeyer. Menschen hätten selbst in der Hand, sich rechtmäßig zu verhalten. „Das ist der Vorteil gerichtlicher Sperren gegenüber den mitunter willkürlichen Sperren der Plattformen.“

bff: Accountsperren sind „elegante Lösung“

Kerstin Demuth ist Referentin für digitale Gewalt beim Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland (bff). Auf Anfrage von netzpolitik.org schreibt sie, Accountsperren seien in vielen Fällen eine deutliche Verbesserung. „Strafanzeigen laufen häufig ins Leere, weil Verfahren eingestellt werden. Wenn doch ermittelt wird, kann es Jahre dauern, bis das Verfahren abgeschlossen ist.“ Gerade bei digitaler Gewalt gehe das an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbei.

Auch zivilrechtliche Schritte seien derzeit wirkungslos, solange die mutmaßlichen Täter:innen unbekannt bleiben. „Account-Sperren sind eine elegante Lösung, um zügig handeln zu können, ohne dass beispielsweise Verkehrsdaten unverhältnismäßig lange gespeichert oder Verschlüsselung in Frage gestellt würde.“ Demuth sieht aber auch Grenzen: „Bei Shitstorms sind es oft viele Accounts auf einmal. Muss dann eine Richterin 276 Account-Sperren bewilligen? Das kann kein Mensch leisten, zumal die Justiz eh schon überlastet ist.“ Häufig gebe es hartnäckige Täter:innen, die sich schlicht neue Accounts anlegen.

Die Überforderung von Polizei, Staatsanwaltschaften, Richter:innen sei für Betroffene „ein unglaublich großes Problem“. Es sei schwer vorauszusagen, ob sich etwas verbessert, wenn die Entscheidung zukünftig bei Richter:innen liege. „Es gibt Beispiele, in denen der Richtervorbehalt ins Leere läuft, weil aus Zeitmangel alles durchgewunken wird“, so Demuth. Um das zu verhindern, sei ausreichend Personal und Kompetenz nötig. „Aber deswegen Gesetze, die in die richtige Richtung zeigen, nicht zu verabschieden, wäre falsch.“

HateAid: Hass im Netz als Massendelikt

Die Organisation HateAid setzt sich für die Rechte von Betroffenen digitaler Gewalt ein. „Wir befürworten die gesetzliche Regelung von Accountsperren grundsätzlich“, schreibt HateAid-Juristin Josephine Ballon an netzpolitik.org. Es biete Betroffenen zusätzliche Möglichkeiten, sich zu wehren. Allerdings weist Ballon kritisch auf die Grenzen von Accountsperren hin.

Bei einem zivilrechtlichen Verfahren müssten Betroffene einen Antrag stellen und hierfür die Kosten tragen, so Ballon. „Die wenigsten Menschen fühlen sich einem solchen Verfahren ohne anwaltliche Vertretung gewachsen.“ Hass im Netz sei ein Massendelikt, Betroffene erhielten die Nachrichten teils jede Woche oder alle paar Tage. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die hiervon betroffenen Personen nun wöchentlich mehrere Anträge auf Accountsperrungen stellen und hierfür die Kosten tragen“, schreibt Ballon. Echte Relevanz könnten Sperren dort bekommen, „wo Menschen wirklich hartnäckig von einem Profil drangsaliert werden“.

Um Betroffene digitaler Gewalt besser zu schützen, sieht Ballon an vielen anderen Stellen Handlungsbedarf. Als Beispiele nennt sie unter anderem konsequente Strafverfolgung und bessere Möglichkeiten, Täter:innen zu identifizieren. Ballon fordert außerdem, dass sich Behörden zu digitaler Gewalt fortbilden: „Eine personelle Aufstockung ohne Fortbildung und Sensibilisierung wird jedenfalls nichts verändern.“

Knackpunkt: Aufwand für Betroffene

Leena Simon berät freiberuflich von digitaler Gewalt betroffene Frauen für das Anti-Stalking-Projekt des Frieda-Frauenzentrums in Berlin. In Accountsperren sieht sie „definitiv eine Entlastung“ für Betroffene – zumindest wenn sie dafür nicht allzu viel Aufwand betreiben müssten. Aktuell seien Gerichte jedoch „meist völlig überfordert“, schreibt Simon an netzpolitik.org. Es sei nicht klar, was als gerichtsfester Beweis gelte und was nicht. Oft müssten Screenshots ausgedruckt werden.

Simon kritisiert ebenfalls „völlig überforderte“ Ermittlungsbehörden. „Ob einer betroffenen Person wirklich geholfen wird, ist quasi zu 100 Prozent davon abhängig, ob sie auf jemanden trifft, der/die in der Sache sensibilisiert ist.“ Dieser Missstand müsse „unbedingt schleunigst behoben werden“. Die Polizei brauche mehr IT-Kompetenz und „klar definierte Abläufe für den Umgang mit digitaler Gewalt“.

Digitale-Dienste-Gesetz setzt bei Plattformen an

Eine andere Form von Accountsperren ist bereits im Digitale-Dienste-Gesetz (DSA) vorgesehen, auf das sich die EU im April geeinigt hat. Hier liegt die Verantwortung aber gerade nicht bei Gerichten, sondern bei Plattformen.

Laut Artikel 20 sollen Anbieter von Online-Plattformen solche Nutzer:innen ausschließen, die häufig offensichtlich illegale Inhalte anbieten. Passieren soll das nach vorheriger Warnung und für einen begrenzten Zeitraum. Die Regeln dafür sollen Plattformen klar und ausführlich in ihren allgemeinen Geschäftsbedingungen darlegen. Einzelne Staaten wie Deutschland können aber Gesetze erlassen, die über die EU-Regeln hinausgehen.

Hilfe und Rat finden betroffene digitaler Gewalt in der bundesweiten Beratungsdatenbank. Die Beratung ist kostenfrei, vertraulich und auf Wunsch auch anonym möglich.


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