Sophie-Anne Bisiaux war für das Recherchenetzwerk Migreurop vier Monate lang in unterschiedlichen Ländern des Westbalkans unterwegs. Lorenz Naegeli begleitete sie einen Monat in Bosnien. Gemeinsam recherchierten sie zur Auslagerung der EU-Außengrenzen in den Westbalkann und dessen Folgen. Dabei versuchten sie insbesondere, die Rolle unterschiedlicher internationaler Akteure genauer zu beleuchten. Weitere Berichte zur Externalisierung der EU-Grenzen erschienen bei statewatch.org und Migreurop.
„Ein umfassender Ansatz im Bereich Migration und Sicherheit erfordert fortgesetzte Reformen auf dem Westbalkan und die erfolgreiche Umsetzung dieser Reformen stellt einen wichtigen Aspekt der EU-Perspektive für den Westbalkan dar“, heißt es in einem Dokument des Rats der Europäischen Union vom Juni 2020. Obwohl auf den ersten Blick unscheinbar, ist dieser Satz bezeichnend für den Druck, den die EU auf die Länder im Westbalkan ausübt: Wollen sich diese der Union weiter annähern, müssen sie der EU-Migrationspolitik folgen. Dabei stützt sich die Europäische Union auf ihre einflussreiche Position und lagert ihre Grenzen immer vollständiger in die Regionen an ihrer Außengrenze aus – unter anderem durch die biometrische Erfassung von Migrant*innen.
Für die einflussreiche EU agieren die Westbalkan-Staaten als Bollwerk gegenüber Migrationsströmen, mit dem Thessaloniki-Gipfel 2003 wurden die Staaten aus dem Westbalkan offiziell potenzielle Beitrittskandidaten der Europäischen Union. Heute sind Albanien, Nordmazedonien und Montenegro EU-Beitrittskandidaten. Bosnien und Herzegowina und der Kosovo haben nach wie vor den Status von potenziellen Kandidaten. Damit profitieren alle fünf Länder finanziell von der EU, insbesondere durch das Instrument für Heranführungshilfe. Alleine über diesen Finanzmechanismus erhielten die sogenannten Westbalkan-Partner zwischen 2007 und 2019 über 216 Millionen Euro für Migrationsangelegenheiten.
Gerade geografische Schlüsselstaaten wie Bosnien verwandeln sich durch diese Politik immer mehr in ein großes Labor für Migrationsmanagement: Die EU schließt ihre Außengrenzen, finanziert in der ganzen Region ein Netzwerk an Camps, in denen prekäre Bedingungen herrschen, und drängt die Balkanstaaten zum Ausbau ihrer Kapazitäten für Rückführungen aller Art. Damit verbunden ist die Militarisierung der Grenzen zwischen den einzelnen Ländern des Westbalkans: Es gibt immer mehr Stacheldrähte, Mauern und Wärmebildkameras. Illegale Pushbacks sind in der Ägäis und entlang der gesamten Balkanroute zur Normalität geworden – in aller Öffentlichkeit und völlig ungestraft.
Auf EU-Ebene wurde im Herbst 2020 mit dem Pakt für Asyl und Migration die Stoßrichtung für die kommenden Jahre vorgegeben: Die Politik der Hotspots und der Migrationsabwehr wird fortgeführt. Sie ist der derzeitige Konsens, den es in der EU in der Migrationspolitik gibt. Die vormaligen Transitstaaten im Balkan werden deshalb schrittweise zu Aufnahme- und Abschiebezentren.
Datenbanken als Schlüsselinstrument
Wichtiger Pfeiler dieser Sicherheitszusammenarbeit im Namen der Migrationsabwehr ist es, biometrische Daten zu sammeln und aufzubereiten. Das erklärte Ziel dabei: die Entwicklung von nationalen biometrischen Datenbanken mit Informationen zu Asylbewerber*innen und sogenannten irregulären Migrant*innen, die technisch an den Eurodac angelehnt sind. Das soll zukünftig die Interoperabilität mit existierenden EU-Systemen sicherstellen und den Grundstein für einen besseren regionalen Informationsaustausch legen. Die Eurodac-Datenbank sammelt Fingerabdrücke und Gesichtsbilder von Drittstaatangehörigen, die einen Asylantrag stellen oder beim „irregulären“ Grenzübertritt aufgegriffen werden.
Sie ist ein zentrales Instrument für die Durchsetzung der Dublin-Bestimmungen und dient insbesondere dazu, den für den jeweiligen Asylantrag zuständigen Dublin-Staat zu ermitteln. Der im Herbst verabschiedete Pakt für Asyl und Migration sieht vor, den Anwendungsbereich der Datenbank erheblich zu erweitern. Auch wenn es derzeit keine rechtliche Grundlage für einen Informationsaustausch dieser Art über den Dublin-Raum hinaus gibt, investiert die Europäische Union beachtliche diplomatische Energie und finanzielle Mittel in das Sammeln migrationsbezogener Daten im Westbalkan.
Die Idee des Balkandac
Bereits im Dezember 2019 wurde die Idee eines sogenannten Balkandac an einer Konferenz, an der unter anderem Vertreter*innen von Frontex und Regierungsvertreter*innen von Nordmazedonien teilnahmen, kritisch diskutiert. Ein Mitarbeiter des Nordmazedonischen Innenministeriums nannte die Pläne damals beim Namen: „Frontex will nach dem Vorbild des Eurodac, eine Fingerabdruck-Datenbank in der EU, einen sogenannte Balkandac einrichten.“ Dabei erwähnte er auch die Auswirkungen einer solchen Datenbank auf die Westbalkanstaaten: „Das ist eine Falle für uns, weil die Länder in der EU dann wissen werden, welche Migranten hier registriert wurden. Die werden sie zurückschicken. Wir werden aber nicht in der Lage sein, sie nach Griechenland zurückzuschicken. Dahinter steckt zwar keine böse Absicht, es ist aber dennoch offensichtlich, dass die EU uns auf paternalistische Weise behandelt.“
Die Ziele solcher Bemühungen sind kein Geheimnis und werden in einem Protokoll des EU-Rats vom Juni 2020 klar beschrieben: Erstens sollen alle Staaten im Westbalkan als sichere Drittstaaten gelten. Zweitens sollen Rückübernahme-Abkommen für Drittstaatsangehörige geschlossen werden, die in einem dieser Länder bereits vergeblich einen Asylantrag gestellt haben. Drittens soll die Kapazität für freiwillige und unfreiwillige Rückkehr in den Balkanländern gestärkt werden. Damit würde die EU den Dublin-Mechanismus weiter auslagern und die Balkanstaaten gleichermaßen zu einem Hotspot vor seinen Toren und zu einem Epizentrum für Abschiebungen machen.
Das Beispiel Bosnien
Ein Blick nach Bosnien zeigt derweil, dass die für den Eurodac benötigte AFIS-Technologie (Automated Fingerprint Identification System) schrittweise eingeführt wird. In dem kleinen Balkanstaat vor den Toren der EU harren tausende Migrant*innen in baufälligen Ruinen oder in Wäldern aus. In den überfüllten Camps herrschen Gewalt und prekäre Zustände – und das, obwohl die EU über die UN-Migrationsagentur IOM alleine seit 2018 etwa 80 Millionen Euro in Bosnien investierte.
In Bosnien und Herzegowina zeigen sich – ähnlich wie in anderen Hotspots entlang der EU-Außengrenze – die Auswirkungen der EU-Externalisierungspolitik: überlastete Camps, Ausweitung der Überwachung und Kontrolle von Migrant*innen, Rückübernahme-Abkommen mit Staaten wie Pakistan und ein heftiges Gewaltregime entlang der EU-Außengrenze. Berichte von Migrant*innen aus bosnischen Camps und Aussagen von EU-Beamt*innen sowie ein Blick in Dokumente vom Schweizer Staatssekretariat für Migration (SEM) bestätigen derweil, dass in Bosnien die Voraussetzungen für das Sammeln von biometrischen Daten von Migrant*innen geschaffen werden.
Zu beobachten ist das unter anderem im von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) betriebenen Camp Blazuj in Sarajevo. Verschiedene Bewohner*Innen berichten, dass im Rahmen des Registrierungsprozesses ihre zehn Fingerabdrücke abgenommen wurden – ein spezifisches Merkmal der AFIS-Technologie. Damit soll Bosnien die technische Grundlage erhalten, um stärker mit EU-Behörden zu kooperieren.
Die Schweiz, die ebenfalls Mitglied des Dublin-Abkommens ist, hat in Bosnien zwischen 2017 und 2019 ein Projekt im Umfang von 1,2 Millionen Schweizer Franken finanziert, das unter anderem die Einführung und Verbesserung eines Migrant Information System (MIS) zum Ziel hatte. „Das Upgrade verbesserte die Verbindungen, den Austausch und die Interoperabilität zwischen verschiedenen Institutionen und mit anderen Informationssystemen von Polizeibehörden außerhalb von BiH (regionale Länder, Europol, Interpol, Frontex)“, heißt es im Fact-Sheet des Programms.
Auf Nachfrage führt ein Sprecher des Staatssekretariats für Migration aus: „Das Projekt unterstützte die Integration von vier unabhängigen Registern in die zentrale Datenbank (MIS). Ausserdem wurde ein Modul für die Integration von biometrischen Daten von Ausländern in MIS entwickelt. Basierend auf diesem Modul war die Finanzierung von Hardware und Installation durch die EU IPA-Mittel genehmigt.“ Damit werde sichergestellt, dass die Fingerabdruckdaten mit dem Eurodac kompatibel seien, sobald Bosnien „dem Eurodac betritt“.
Während dem die Schweiz also das Design liefert, sorgt die EU in Zusammenarbeit mit lokalen Behörden für dessen Implementierung – unter anderem zu diesem Zweck flossen über den IPA-Mechanismus zwischen 2015 und 2020 etwa 17 Millionen Euro nach Bosnien. Während die humanitäre Situation für Migrant*innen in Bosnien katastrophal ist, investieren die Länder Millionen in das Sammeln von migrationsbezogenen Daten. Und gerade das Beispiel Bosnien wirft zusätzliche Fragen auf, denn das nach wie vor stark vom Bürgerkrieg geprägte Land ist weit von einem EU-Beitritt entfernt. Trotzdem wird mit viel Geld und Engagement versucht, eine Technologie einzuführen, die vielleicht zum Zeitpunkt eines möglichen EU-Beitritts bereits veraltet ist.
Unterschiedliche Wege, gleiches Ziel
Ein Blick nach Serbien, Albanien und in aktuelle Dokumente zeigt, dass die Ausweitung des Eurodac auf die Staaten im Westbalkan aber auch ohne deren EU-Mitgliedschaft möglich sein könnte. Damit würde der Dublin-Raum durch die Hintertür ins Vorzimmer der EU ausgeweitet. Weil es dabei offensichtlich rechtliche Hindernisse gibt, sucht die EU unterschiedliche Schlupflöcher, um diese Probleme zu umgehen.
Serbien zielt laut Regierungsdokumenten darauf ab, die Eurodac-Verordnung bereits zwei Jahre vor seinem EU-Betritt umzusetzen. Das wäre gemäß der in Belgrad ansässigen NGO Klikaktiv ein einzigartiger Fall und widerspräche zudem geltenden Gesetzen. In Albanien ist die Situation anders: Dort soll Frontex helfen. Die Grenzschutzagentur hat in Albanien Zugriff auf nationale Datenbanken, sofern für Rückführungsaktionen nötig. Zudem hat Frontex dank der Interoperabilitätsverordnung auch Zugriff auf die Eurodac-Datenbank. Damit könnten in Balkanstaaten im Einsatz befindende Frontex-Angestellte die jeweiligen Datenbanken miteinander vergleichen.
Diese Möglichkeit werde in Albanien genutzt, sagen unterschiedliche Quellen wie Migrant*innen sowie Grenzschutzbeamte in persönlichen Gesprächen vor Ort: Gemäß deren Aussagen gleichen Frontex-Beamte an der Grenze zwischen Albanien und Griechenland die im Rahmen von Registrierungsprozessen gesammelten Daten mit den Daten verschiedener europäischer Datenbanken wie SIS, Eurodac oder die von Europol ab. Dank Frontex erhielte die EU somit Zugriff auf die nationalen Datenbanken der Balkanstaaten, bevor diese an den Eurodac angeschlossen sind und ohne dass die Balkanstaaten direkten Zugang zum Eurodac erhalten. Frontex widerspricht dieser Darstellung und streitet auf Nachfrage ab, im Rahmen von Drittstaatenmissionen erhobene Daten mit EU-Datenbanken abzugleichen.
Klar ist aber, dass die Voraussetzungen für Ideen wie den Balkandac oder die Anbindung von Drittstaaten an den Eurodac schrittweise umgesetzt und politisch gefordert werden. Der paternalistische Nachgeschmack, den der Mitarbeiter des Nordmazedonischen Innenministeriums beschrieben hat, scheint dabei, wenn überhaupt, nur eine Nebenrolle zu spielen. Und die betroffenen Länder im Balkan? Die scheinen weitgehend machtlos gegenüber der Auslagerung der EU-Migrationspolitk und spielen – vorerst zumindest – mit.
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