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Videospiele in der Pandemie: Mehr als Sucht und Flucht

Gaming kann ein Ausflug in ein virtuelles Naherholungsgebiet sein

Dr. Daniel Possler ist Kommunikationswissenschaftler und lehrt am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Er forscht zu medienpsychologischen Effekten von Videospielen und hat in seiner Dissertation untersucht, wie bei Nutzer:innen die Emotion Ehrfurcht („Staunen“) entsteht.


Die Corona-Pandemie hat den Alltag vieler Menschen erheblich verändert. Das zeigt sich auch an der Mediennutzung: In Zeiten des Lockdowns hat die Mehrheit der Deutschen digitale Medien deutlich intensiver genutzt als in den vorangehenden Monaten. Insbesondere der Umfang der Videospielnutzung hat stark zugenommen. Eine Untersuchung der DAK-Gesundheit ermittelte, dass Kinder und Jugendliche im Lockdown-Monat April 2020 an Werktagen im Schnitt eine Stunde länger gespielt haben als in Vormonaten, im Schnitt 139 Minuten pro Tag. An freien Tagen spielten sie im Schnitt sogar 193 Minuten, ein Anstieg um eine knappe Dreiviertelstunde. Auch bei den befragten Eltern stieg die Spieldauer deutlich.

In der öffentlichen Debatte wird die vermehrte Videospielnutzung während der Pandemie vielfach mit negativen Folgen in Verbindung gebracht. Allen voran: Mediensucht. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig, warnt etwa vor einem „heftigen Anstieg“ der Nutzungsdauer bei Kindern und Jugendlichen, der „so nicht weitergehen darf“. Der Kriminologe Christian Pfeiffer befürchtet eine Zunahme von Videospielsucht. Tatsächlich ist Videospielabhängigkeit ein ernstes Problem, das seit 2018 von der Weltgesundheitsorganisation als psychische Störung geführt wird. Studien zufolge betrifft dies allerdings nur einen eher kleinen Anteil der Spieler:innen.

Hohe Nutzungszeiten deuten zudem nicht per se auf eine Abhängigkeit hin: Viele Menschen, die viel Zeit mit ihrem Hobby verbringen – etwa halbe Nächte hindurch lesen oder jede freie Minute in ihrer Hobby-Werkstatt stehen – haben dennoch einen vielfältigen Alltag und erleben keine negativen Konsequenzen in Beruf, Schule oder Sozialleben. Die Corona-Pandemie ist zudem eine Ausnahmesituation: Durch Kontaktbeschränkungen und die Schließung von Kultur- und Freizeiteinrichtungen entfallen viele Alltagsaktivitäten. Es ist daher durchaus fraglich, ob veränderte Nutzungsmuster über die Pandemie hinaus Bestand haben.

Darüber hinaus verschließt der ausschließliche Fokus auf mögliche negative Folgen den Blick für die vielen positiven Konsequenzen des Gamings, die in der Medienpsychologie identifiziert wurden. Ich befasse mich in meiner Forschung intensiv mit solchen positiven Effekten und habe mit Kolleg:innen mehrere wissenschaftliche Aufsätze und Buchkapitel zu dem Thema verfasst. Jüngst habe ich in meiner Dissertation eine ausführliche Bestandsaufnahme vorgenommen. In diesem Gastbeitrag möchte ich einige der Forschungsergebnisse zu positiven Konsequenzen hervorheben, die in der öffentlichen Debatte über gestiegene Nutzungszeiten zu wenig beachtet werden, in der Pandemie aber besonders relevant sind.

Videospielen als erholsamer Kurzurlaub

Eine gut erforschte positive Folge der Videospielnutzung, die in der öffentlichen Diskussion zumindest gelegentlich Erwähnung findet, ist Eskapismus, also das Ausblenden der Realität: Ob ein Ausflug ins virtuelle Fußballstadion in FIFA oder ein Abstecher in den digitalen Wilden Westen in Red Dead Redemption II – Videospiele ermöglichen es, in fremde Welten einzutauchen, die Rolle digitaler Charaktere anzunehmen und so den Alltag hinter sich zu lassen.

Eine solche Auszeit sollte dabei nicht zwangsläufig als „Flucht vor der Realität“ oder „ungesunde Verdrängung“ interpretiert werden. Vielmehr stellen Videospiele für viele Nutzer:innen eine Art „Kurzurlaub“ dar: Wie beim Ausflug in ein Naherholungsgebiet verlassen Spieler:innen zeitweise ihren Alltag sowie damit verbundene Sorgen und befassen sich mit anderen, interessanten Dingen. Ebenfalls analog zu einem Kurzausflug kann eine solche Distanzierung vom Alltag nachweislich zur Erholung beitragen. Gerade in der Corona-Zeit, in der Urlaubsreisen kaum realisierbar sind, bieten Videospiele somit eine gute Möglichkeit, Kraft für den Pandemie-Alltag zu sammeln.

Vor allem idyllische Videospielwelten sind in der Corona-Zeit ein beliebtes „Reiseziel“, wie der kommerzielle Erfolg von Animal Crossing: New Horizons nahelegt: In dem Spiel erkunden Nutzer:innen eine harmonische Inselwelt, interagieren friedlich mit anthropomorphen Tierwesen und gehen im gemächlichem Spieltempo Aktivitäten wie Fischen, Ressourcensammeln oder Gebäudebau nach. Das friedliche Traumland – frei von Krisen und Druck – scheint der Gegenentwurf zum Corona-Alltag vieler Menschen zu sein und ist vermutlich darum ein so beliebtes digitales „Naherholungsgebiet“.

Selbstbestimmung und Gemeinschaft sind gerade Mangelware

Darüber hinaus kann das Videospielen grundlegende psychische Bedürfnisse befriedigen, die in der Corona-Pandemie anders nur schwer zu stillen sind. So müssen sich Nutzer:innen in den meisten Spielen Herausforderungen stellen – etwa einer gegnerischen Fußballmannschaft in FIFA oder einem schießwütigen Cowboy in Red Dead Redemption II. Das Spiel gibt dabei unmittelbar Rückmeldung über Erfolg und Misserfolg und erlaubt zumeist eine flexible Justierung des Schwierigkeitsgrades. Das Medium bieten so einen optimalen Nährboden, um das menschliche Bedürfnis nach Erfolgs- und Kompetenzerlebnissen zu stillen.

Zudem hängen Videospiele unmittelbar vom Handeln der Spieler:innen ab. Entwickler-Veteran Sid Meier bezeichnet Games daher auch als „series of interesting decisions“, also eine Reihe interessanter Entscheidungen. Gerade Spiele wie Animal Crossing: New Horizons, die kein klares Spielziel besitzen, erlauben es Spieler:innen, sich selbst Ziele zu setzen und diese nach eigenem Ermessen zu verfolgen. Aber auch in Titeln mit klarem Spielziel führen oft viele Wege zum Erfolg. Videospiele bieten somit die Gelegenheit, selbstbestimmt zu handeln – ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, das gerade in der Corona-Pandemie aufgrund diverser Verordnungen zum Infektionsschutz nur schwer zu stillen ist.

Trotz des gegenteiligen Stereotyps ist Videospielen schließlich häufig eine sehr soziale Angelegenheit: Nutzer:innen spielen oft mit oder gegen Andere, im Netz auch über große räumliche Distanz. Gerade in Zeiten von Kontaktbeschränkungen bieten Games somit eine gute Möglichkeit, um Zeit mit Freunden zu verbringen. Das legt auch die aktuelle JIM-Studie nahe, eine repräsentative Untersuchung unter Schüler:innen zwischen 12 und 19 Jahren: Rund ein Drittel der Befragten nutzt digitale Spiele, um mit Freund:innen in Kontakt zu bleiben.

Existenzielle Themen und Moralische Fragen

Videospiele bieten zudem zunehmend „Tiefgang“. Insbesondere der Umfang und die Komplexität der erzählten Geschichten haben sich in den vergangenen Jahrzehnten erheblich weiterentwickelt. Beschränkten sich Spiele wie Super Mario Bros. in den 80er Jahren oftmals noch auf minimales Storytelling wie „Die Prinzessin wurde entführt – rette sie!“, präsentieren aktuelle Titel komplexe, emotional und moralisch aufgeladene Narrative. Nicht selten werden Spieler:innen mit schwierigen Entscheidungen konfrontiert, die den Fortgang der Geschichte beeinflussen. Spiele wie Brothers: a Tale of Two Sons oder Witcher III verhandeln dabei durchaus auch ernste Themen wie Verlust oder Krankheit.

In einem aktuellen Überblicksartikel habe ich gemeinsam mit Kolleg:innen die Studienlage zur Wirkung solcher Games mit Tiefgang gesichtet. Es zeigt sich, dass solche Titel nicht nur Spaß machen, sondern oft auch unangenehmen Erfahrungen wie Trauer oder Schuldgefühle auslösen und zum Nachdenken anregen. Wenn Nutzer:innen von Mass Effect beispielsweise in 20 bis 30 Stunden Spielzeit zwei Charaktere ins Herz schließen und dann plötzlich entscheiden müssen, welche der beiden sie retten, kann dies zur Reflexion über existentielle Themen wie den Wert des Lebens anregen.

Analog zu manchem Roman oder Film laden also auch manche Videospiele dazu ein, über grundlegende Fragen des menschlichen Daseins nachzudenken. Videospielen ist daher nicht nur oftmals eine erholsame Auszeit von der Pandemie-Realität, sondern kann auch zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit beitragen.

Ehrfurcht vor digitalen Sehenswürdigkeiten

Eine positive Folge, mit der ich mich in meiner Forschung und insbesondere meiner Dissertation intensiv befasst habe, ist das Erleben von Staunen beziehungsweise Ehrfurcht beim Videospielen: Viele Titel präsentieren ihren Nutzer:innen gewaltige Momente, die sich radikal von üblichen Erfahrungen unterscheiden – etwa der Ausblick über weite Naturlandschaften, riesige Fabelwesen, gigantische Gebäude oder orchestrale Musik.

Spieler:innen sprechen in diesem Zusammenhang oft von epischen Videospielmomenten. Schon Philosophen wie Kant haben die Besonderheit der Reaktion auf solche „epischen“ oder „erhabenen“ Situationen diskutiert. Unsere ersten Arbeiten legen nahe, dass auch epische Spielmomente intensive Reaktionen auslösen: Spieler:innen empfinden Staunen beziehungsweise Ehrfurcht. Ein Gefühl, das oft mit einer Gänsehaut einhergeht und der Wahrnehmung in der Gegenwart von Dingen zu sein, die größer oder wichtiger sind, als man selbst. Solche Erlebnisse sind zumeist hochgradig angenehm, einschneidend und subjektiv bedeutsam. Videospiele wie Journey, die explizit darauf ausgelegt sind, Ehrfurcht in Spieler:innen auszulösen, wurden von Nutzer:innen sogar als spirituelle Erfahrung beschrieben.

Epische Momente können daher als eine Art „Sehenswürdigkeit“ im Videospiel-Kurzurlaub betrachtet werden. Analog zu Naturwundern wie dem Grand Canyon oder Bauwerken wie dem Kölner Dom, können sie viele Besucher:innen in Staunen versetzen – sind dabei aber vom Sofa aus erreichbar. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie, in denen Tage wenig Abwechslung bieten, können Videospiele so wichtige Quellen von inspirierenden und erstaunlichen Erfahrungen darstellen.

Wer nur von Sucht spricht, blendet die Chancen aus

Die Forschung zeigt also, wie vielseitig die positiven Effekte von Videospielen sein können. Gerade in der Corona-Pandemie kann Gaming zu gesteigerter Erholung, erhöhter Befriedigung von Grundbedürfnissen, vermehrter sinnstiftender Reflexion und inspirierender Ehrfurcht führen. Diese positiven Konsequenzen sollten in der öffentlichen Debatte über erhöhte Nutzungszeiten während der Corona-Pandemie von allen Akteur:innen stärker berücksichtigt werden.

Man muss die möglichen Risiken dabei gar nicht kleinreden. Die Nutzung des Mediums kann durchaus mit unerwünschten Konsequenzen einhergehen – Abhängigkeit ist nur eine davon. Allerdings soll der kurze und keinesfalls vollständige Überblick zur medienpsychologischen Unterhaltungsforschung aufzeigen, dass Gaming mehr ist als Sucht oder Realitätsflucht. Ein Fokus auf negative Folgen allein kann im schlimmsten Fall dazu beitragen, die Tätigkeit des Videospielens zu stigmatisieren – eine Freizeitaktivität, die vielfältige Potenziale besitzt, das Wohlbefinden in der Pandemie zu steigern. Zumindest aber dürfte der exklusive Fokus auf negative Effekte den Erfahrungen vieler Videospieler:innen widersprechen, und daher für Unverständnis sorgen.

Wie eine differenziertere Perspektive auf Videospielen in der Corona-Pandemie aussehen kann, zeigt die WHO, die einerseits über potenzielle negative Folgen vermehrter Videospielnutzung aufklärt, aber andererseits die Initiative #PlayApartTogether führender Videospiel-Entwickler:innen unterstützt, in der die positiven Effekte des Mediums in der Pandemie betont werden.


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