Tausende, Zehntausende, Hunderttausende – oft lässt sich nicht genau sagen, wie viele Menschen an einer Demonstration teilgenommen haben. Klar ist, dass die Zahlen von allen Seiten mit Vorsicht zu genießen sind. In Zukunft werden computergestützte Methoden genauere Zahlen von Protesten liefern.
Zahlen sind politisch. Besonders politisch sind sie bei Demonstrationen, sind doch die Zahlen der Teilnehmenden ein Indikator dafür, wie relevant ein Thema und wie erfolgreich die Demonstration ist. Je größer die Zahl, desto mehr gesellschaftliche Relevanz hat die Demo. Teilnehmende sind die knallharte Währung bei Demonstrationen – außer, es sind Traktoren im Spiel.
Die aktuelle Protestwelle gegen die AfD, Rassismus und Faschismus zeigt einmal mehr, dass über die Zahlen der Teilnehmenden bei Protesten oft Unklarheit herrscht. Ein Beispiel: Bei der Großdemonstration gegen die AfD in Berlin am 21. Januar sprach die Polizei von „mehr als 100.000“ und die Veranstalter:innen von 350.000 Teilnehmenden. Jannis Grimm von der FU Berlin schätzt die Anzahl der Teilnehmenden an der Demo auf zwischen 230.0000 bis 260.000. Hierfür hat er die ungefähre Demofläche vermessen und dann mit einer Dichte von 3-3,5 Menschen pro Quadratmeter multipliziert. Auch die Reporter des Tagesspiegels hielten die Zahl der Polizei aufgrund von Erfahrungswerten für zu niedrig angesetzt.
Polizeiangabe vs. Veranstalterangabe
Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass Veranstalter:innen von Demonstrationen ein Interesse haben, höhere Zahlen anzugeben, weil das die Relevanz ihrer Demonstrationen erhöht. Dass Veranstaltende zu kleine Zahlen angeben, kommt fast nie vor. Die Zahlen von ihnen sind also mit Vorsicht zu genießen.
Das gilt auf der anderen Seite auch für die Zahlen von Polizeien: Oftmals gibt die Polizei sehr früh Zahlen bei Demonstrationen durch, nämlich direkt zum Beginn der Auftaktkundgebung. So auch bei der gestrigen Demonstration in Berlin, wo sie zuerst von 30.000 Menschen sprach. Die frühen Zahlen widersprechen allerdings der Natur von Demonstrationen, wo sich viele Menschen mit einer Verspätung einfinden. Insbesondere bei großem Andrang und überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln ist die Verspätung länger. Ist aber die niedrige Teilnehmerzahl der Polizei einmal in der Welt, ist sie nur noch schwer zu korrigieren. Außer die Polizei bessert die Zahl selbst noch einmal nach, wie das in Berlin geschehen ist.
Zudem ist die Polizei kein unabhängiger Player, sondern Teil der Exekutive – auch wenn sie von vielen als privilegierte, also glaubwürdige Quelle angesehen wird. Die Rolle der Polizei kann in vielen Ländern – auch in Deutschland – dazu führen, dass Demonstrationen gegen die Regierung und erst recht gegen die Polizei selbst in den Polizeiangaben kleiner angegeben werden als die tatsächliche Teilnehmendenzahl.
Das sagte auch Protestforscher Dieter Rucht vor einigen Jahren der taz: „Es gibt Anliegen, die als staatsbedrohend ausgelegt werden, sodass die Polizei die Zahlen herunterspielt. Die Veranstalter versuchen, das durch überhöhte Zahlen zu kompensieren.“ Es gäbe aber auch Proteste, bei denen die Polizeizahlen denen der Veranstalter ähnlich seien, dies sei vor allem bei staatsnahen Protesten der Fall, so Rucht.
Es gibt aber noch andere Faktoren, welche die Polizeizahlen beeinflussen könnten: Kommen deutlich mehr Leute, als die Polizei in ihrer Einsatzplanung erwartet hat, könnte es womöglich für die Polizei aus Eigeninteresse opportun sein, die Teilnehmerzahl kleiner anzugeben, um von einer möglichen Fehlplanung abzulenken. Klar ist: Auch die Zahlen der Polizei sind mit Vorsicht zu genießen.
Ein Richtwert für eine Einschätzung ist oftmals die Faustformel: Man addiert die Veranstalterangabe mit der Polizeiangabe und teilt diese Summe dann durch zwei. Das trägt zumindest beiden Angaben Rechnung und macht Sinn, wenn die beiden Zahlen nicht allzuweit auseinanderliegen. Generell sind Medienvertreter gut beraten, immer beide Zahlen zu nennen, damit sich die Leser:innen ein eigenes Bild machen können. Zusätzlich können auch Medien ihre Erfahrungswerte einbringen und eigene Zahlen nennen. Bei der Berliner Demonstration hätte die Teilnehmendenzahl nach dieser Faustformel bei etwa 225.000 Menschen gelegen.
Aber wie kann zuverlässig gezählt werden?
Bei einer laufenden Demonstration kann eine Reihenzählung durchgeführt werden. Hierfür stehen eine oder mehrere Personen am Rand mit einem Hand-Klickzähler. Zuerst wird die durchschnittliche Anzahl von Menschen pro Reihe gezählt. Und dann wird die Anzahl der Reihen vom Anfang der Demo bis zum Ende mit dem Klickzähler durchgezählt und mit der Anzahl der Personen pro Reihe multipliziert. Diese Variante hat zwar eine Fehlerquote von 20 bis zu 30 Prozent, liefert aber eine einigermaßen zuverlässige Spannbreite. Eine Reihenzählung wird aber schwieriger, je größer und verteilter eine Demo ist.
Die Reihenzählung kann auch – wenig datensparsam – per Video durchgeführt werden. Hierbei wird eine Kamera an die Seite gestellt und die vorbeiziehende Demo komplett abgefilmt und später Kopf für Kopf ausgezählt. Die Initiative „Durchgezählt“ hatte so die Pegida-Demonstrationen beziffert. Eine andere Methode ist, in einem bestimmten Zeitraum zu zählen, wieviele Menschen an einem Punkt vorbeilaufen. Dann wartet man die gesamte Demo ab und multipliziert die Zahlen.
Computer zählen lassen
Bei stehenden Demonstrationen oder Kundgebungen lassen sich hingegen aufgrund der genutzten Fläche Teilnehmerzahlen erheben. Hierzu hat man idealerweise ein Luftbild der Demonstration und errechnet dann auf Basis der Fläche eine Zahl. Tools wie mapchecking.com können Näherungswerte liefern. In diesem Tool kann man digital die Fläche markieren, auf der die Demo stattgefunden hat, und dann verschiedene Dichten eingeben. Deswegen gehen auch hier die Zahlen deutlich auseinander, je nachdem, wie eng Menschen beieinanderstehen. Naturgemäß rücken Menschen etwa an der Bühne enger zusammen als jene, die weiter weg stehen. Mapchecking kann aber Anhaltspunkte geben, ob Angaben vollkommen überzogen sind, weil das Tool erlaubt zu sehen, wie hoch die Zahl bei größter Dichte sein könnte. Als höchste Dichte wird sieben Personen pro Quadratmeter angenommen, der Mittelwert eher bei drei.
Noch genauer, aber sehr aufwändig ist das händische Durchzählen der Köpfe auf Luftaufnahmen. Doch diese Methode dürfte bald Geschichte sein, weil Computer dies übernehmen können. Denn eine weitere Methode ist das Zählen einer Menge mit Computern auf der Grundlage von Machine Learning. Die Computer werden hierbei mit Luftbildern/Drohnen- oder Übersichtsaufnahmen der Demonstration gefüttert und zählen Kopf für Kopf. Auch das bietet viele Fallstricke (PDF). Es ist aber davon auszugehen, dass computergestützte Methoden in Zukunft die Teilnehmerzahlen deutlich genauer berechnen können als die bisherigen Methoden.
Denn oftmals handelt es sich bei den Demozahlen immer noch um Schätzungen, bei denen es sehr stark auf die Erfahrungswerte der beteiligten Personen – ob nun von Polizei oder Veranstalterseite – ankommt. Und nur ganz selten wissen wir, welche Methode wirklich angewendet wurde. Präzise kann man bei Demos also bisher nur sagen: Die Wahrheit liegt meistens irgendwo dazwischen.
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