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Koalitionsvertrag: Einmal alles für Hessens Hardliner

Der Koalitionsvertrag von CDU und SPD in Hessen sieht deutlich mehr Überwachung und massive Einschränkungen der Grundrechte vor. Er ist getrieben von einem technologischen und polizeistaatlichen Sicherheitsverständnis. Eine Analyse.

Polizist schaut auf aussteigende Personen eines Zuges.
Aus Sicht der hessischen Koalitionäre scheint die Polizei als Lösung für fast alle Probleme. (Symbolbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Kay-Helge Hercher

In Hessen zeigt sich einmal mehr, wie gefährlich Koalitionen aus CDU und SPD für Grundrechte, Privatsphäre und Datenschutz sind. Im heute unterzeichneten Koalitionsvertrag (PDF) heißt es, dass Sicherheit an erster Stelle stünde – weil „nur sie“ ein friedliches und freies Zusammenleben garantiere.

Und so atmet der Koalitionsvertrag in Sachen Innenpolitik den Geist von Hardlinern, die an und über die Grenzen des verfassungsrechtlich Möglichen gehen wollen. Ihn durchzieht eine Ideologie, wonach Sicherheit nur durch mehr Polizei, mehr Befugnisse für die Sicherheitsbehörden, durch mehr Technologie-Einsatz und durch den Ausbau des Überwachungsapparates erreicht werden kann. Der harte Kurs der Koalition hatte sich schon kurz nach der Landtagswahl Anfang Oktober abgezeichnet.

Der Text formuliert nicht nur „volle Rückendeckung“ für die Polizei, sondern eine „uneingeschränkte Solidarität“. Nach demokratischer Kontrolle der Träger des Gewaltmonopols klingt das nicht. Das aber wäre nach den zahlreichen rechtsradikalen Chat- und Datenabfrage-Skandalen der hessischen Polizei angebracht. Stattdessen will sich die Hessen-Groko für „weniger Misstrauen“ gegenüber der Polizei einsetzen.

Technische Aufrüstung der Polizei

Passend hierzu will die Koalition im Bund eine weitere Strafverschärfung für Angriffe auf Einsatzkräfte erreichen. Für solche Vergehen soll es künftig nur noch Haftstrafen, aber keine Geldstrafen mehr geben. Zudem will die neue Koalition auch noch einen „Hessischen Tag der Einsatzkräfte“ einführen, die Löhne bei der Polizei erhöhen und mehr Stellen schaffen.

Die Polizei soll flächendeckend mit Tasern, Body- und Dashboard-Cams sowie mit Drohnen ausgerüstet werden. Auch soll der Fuhrpark der Polizei ausgebaut werden – „mit Blick auf die Reichsbürger und Extremisten“ und der angeblich veränderten Gefährdungslage. Hinter diesem Punkt könnte sich die Anschaffung von gepanzerten Fahrzeugen wie dem Survivor R verbergen, also die Militarisierung der Polizei. Erst Ende Juli war der hessische Innenminister Peter Beuth beim Hersteller Rheinmetall zu Besuch.

Biometrische Passbilddatenbank für die Polizei

Generell sieht der Koalitionsvertrag eine Art Versicherheitlichung des öffentlichen Raumes vor. Die vorgesehenen Maßnahmen reichen von „Beleuchtungsmanagement“, mehr Sauberkeit und automatischen Sperrsystemen bis zur Ausweitung der Videoüberwachung. Auch sogenannte „Waffen- und Alkoholverbotszonen“ sind geplant. Vor allem Erstere erlauben es der Polizei, Bürger:innen auf Waffen zu durchsuchen. Sie sind daher als Ausweitung der sonst verbotenen anlasslosen Kontrollen (Schleierfahndung) zu werten. Mit solchen Zonen wird weniger Waffengewalt bekämpft als vielmehr das Kontrollregime der Polizei gezielt auf jene öffentlichen Räume ausgeweitet, wo diese bislang nur mit einem konkreten Verdacht kontrollieren können.

Bei der Videoüberwachung werde die Koalition die „zielgerichtete Fahndung durch die Erweiterung um Akustik, Mustererkennung und intelligente Technik mit Gesichtserkennung den Einsatz von Videosicherheitstechnik sowie mit ausreichend und geschultem Personal noch effizienter gestalten.“ Konkret will es die Koalition den landeseigenen Behörden ermöglichen, polizeiliche Lichtbilder aus einem zentralen „Landes-Spiegelregister“ abzurufen. Damit könnten Polizist:innen biometrische Fotos von Bürger:innen aus dem Pass- und Personalausweisregister einfacher für die Gesichtserkennung verwenden.

Mehr Big Data und KI

Die Einrichtung einer zentralen „Servicestelle zur Entsperrung von beweisrelevanten Datenträgern und IT-Systemen“ will die Koalition prüfen. Die Hessische Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT) soll hingegen personell aufgestockt werden.

Um die Kriminalität zu bekämpfen, bedürfe es einer „zeitgerechten und automatisierten Auswertung großer Datenmengen“. Hier will die große Koalition den Rechtsrahmen für das bestehende Palantir-System HessenDATA oder vergleichbare Systeme weiterentwickeln und um „Künstliche Intelligenz“ (KI) erweitern. KI-Systeme sollen auch dazu genutzt werden, um Hate Speech im Netz zu erkennen.

Außerdem möchte die hessische Koalition „Grundlagen schaffen, um die Einsatzmöglichkeiten von HessenDATA oder einem vergleichbaren Analysewerkzeug auszuweiten, insbesondere indem vorhandene IP-, Maut- und sonstige Verkehrsüberwachungsdaten zur Verbrechensverfolgung genutzt werden können.“ Sie möchte also die Kommunikation im Internet ebenso überwachen wie den fließenden Verkehr auf den hessischen Straßen.

Privatwanzen und Vorratsdatenspeicherung

Zudem will die große Koalition künftig den Sicherheitsbehörden „in engen Grenzen und mit richterlicher Anordnung“ den Zugang zu bestehenden privaten audiovisuellen Systemen gestatten, um dann eine Wohnraumüberwachung durchführen zu können. Unter private audiovisuelle Systeme dürfte alles fallen, was ans Internet angeschlossen ist und ein Mikrofon und/oder eine Kamera hat – vom smarten Lautsprecher bis zur Kamera-Klingel von Amazon Ring.

Im Überwachungskanon der großen Koalition darf auch der Wiedergänger Vorratsdatenspeicherung nicht fehlen. Die hessische Landesregierung will sich dafür einsetzen, dass die Bundesregierung „unverzüglich und vollumfänglich die rechtlichen Möglichkeiten zur IP-Datenspeicherung“ ausschöpft. Dem schwarz-roten Bündnis schwebt dabei laut Koalitionsvertrag eine Speicherdauer von einem Monat vor. Das Land soll dazu einen Gesetzesentwurf im Bundesrat einbringen.

Die große Koalition sieht es außerdem als „erforderlich“ an, dass das Mitlesen verschlüsselter Telekommunikation im Kontext schwerster Straftaten möglich sein soll. Offen bleibt indes, wie das technisch und rechtlich umgesetzt werden soll.

Online-Durchsuchung für den Geheimdienst

Der hessische Landesverfassungsschutz soll von der großen Koalition die rechtliche Möglichkeit der Online-Durchsuchung bekommen. Den Staatstrojaner hatte die schwarz-grüne Landesregierung schon eingeführt. Im Gegensatz zum Staatstrojaner (Quellen-TKÜ) darf bei der Online-Durchsuchung nicht nur die laufende Kommunikation, sondern es dürfen sämtliche Daten auf den Endgeräten durchsucht werden. Die hessische SPD-Vorsitzende und heutige Bundesinnenministerin Nancy Faeser hatte sich früher gegen Staatstrojaner ausgesprochen.

Auch für den Verfassungsschutz wünschen sich CDU und SPD mehr „KI“ zur Durchsuchung großer Datenmengen. Darüber hinaus soll beim Landesgeheimdienst die „Spionage- und Cyberabwehr“ kurzfristig ausgebaut werden.

Extremismusklausel und Lex Klimaprotest

Zu guter Letzt bespielt die Koalition ein rechtes Leib- und Magenthema: Die Überprüfung von staatlich geförderten Organisationen und Vereinen auf deren Verfassungsmäßigkeit. Steuergelder sollen nicht an jene fließen, „die sich unter dem Deckmantel der Extremismusbekämpfung selbst außerhalb des demokratischen Spektrums bewegen“. Dahinter verbirgt sich die Angst, dass in Initiativen zur Demokratieförderung und gegen Rechtsextremismus auch Linkstremist:innen agieren könnten. Eine solche Politik steht in der Tradition der Extremismusklausel, welche die ehemalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) eingeführt hatte.

An das kürzlich eingeschränkte Versammlungsgesetz will die neue Koalition auch noch einmal ran und dieses weiter einschränken. Demonstrationen auf Autobahnen sollen künftig eine Woche vorher angemeldet werden müssen, die normale Frist für Demonstrationen beträgt 48 Stunden. Dieser Punkt dürfte sich gegen Klimaproteste richten. Zudem will die große Koalition das Vermummungsverbot auf Demonstrationen in Hessen von der Ordnungswidrigkeit zur Straftat machen.

Die Marschrichtung in Hessen ist somit klar. Und dass Grund- und Bürgerrechte in diesem Vertrag unter die Räder kommen, zeigt sich auch daran, wie oft diese beiden Worte in dem 184 Seiten langen Dokument genannt werden: kein einziges Mal.


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