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Interview zu Gesundheitsdigitalisierung: „Wir brauchen maximale, handhabbare Selbstbestimmung“

Zwei Gesetze sollen die Gesundheitsdigitalisierung hierzulande beschleunigen – im Sinne des Patient:innen- und Gemeinwohls, wie das zuständige Bundesgesundheitsministerium betont. Manuel Hofmann von der Deutschen Aidshilfe befürchtet, dass sie mehr Diskriminierung insbesondere für chronisch kranke Menschen bringen.

Die Medikamente Viramune und Descovy vor schwarzem Hintergrund
Viramune und Descovy stellen eine derzeit übliche antiretrovirale Kombinationstherapie dar für Menschen, die sich mit HIV infiziert haben. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / ZUMA Wire

Am Donnerstag stimmt der Deutsche Bundestag über zwei Gesetze ab: das Digital-Gesetz (DigiG) und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG). Sie verfolgen zwei zentrale Ziele: Zum einen sollen sie der Gesundheitsdigitalisierung Beine machen, die hierzulande arg hinterherhinkt. Zum anderen sollen die Daten „dem Patienten- und dem Gemeinwohl dienen und die Bürgerinnen und Bürger ins Zentrum aller Aktivitäten stellen“.

Das Digital-Gesetz behandelt etwa die Elektronische Patientenakte (ePA) und das E-Rezept. Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz regelt vor allem, wie Gesundheitsdaten für die Forschung erschlossen und bereitgestellt werden.

Wir haben mit Manuel Hofmann über die beiden Gesetze und ihre Folgen – insbesondere für chronisch kranke Menschen – gesprochen. Manuel arbeitet seit 2017 bei der Deutschen Aidshilfe und ist dort Fachreferent für Digitalisierung. Gemeinsam mit anderen Autor:innen hat er jüngst auf feministtechpolicy.org eine Kurzstudie mit dem Titel „Gesundheitsdaten: Menschen in den Mittelpunkt stellen“ veröffentlicht.

netzpolitik.org: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sagt, dass wir dringend mehr Daten bräuchten, um eine bessere Gesundheitsversorgung und -forschung zu erhalten. Die Daten sollen unter anderem dabei helfen, Krankheiten besser zu verstehen und zu behandeln. Das klingt doch nach einem sinnvollen Vorhaben, oder nicht?

Manuel Hofmann: Grundsätzlich sehen wir als Deutsche Aidshilfe viel Potenzial in der Digitalisierung des Gesundheitswesens – sofern sie gut gemacht ist. Das heißt, sie sollte Patient:innen-zentriert und diskriminierungssensibel sein. Dann hat Digitalisierung tatsächlich das Potenzial, Prozesse im Gesundheitswesen zu vereinfachen und zu verbessern. Gleiches gilt prinzipiell für die Forschung. Auch die Deutsche Aidshilfe betreibt Forschung. Die ist meistens bewusst partizipativ gestaltet. Das bedeutet, dass Patient:innen selbst auch von Forschungsprozessen und deren Ergebnissen profitieren sollen.

Hinzu kommt ein zweiter Aspekt, nämlich die Hoffnung, dass durch Forschung alle Probleme des Gesundheitswesens gelöst werden können – am besten noch durch den Einsatz sogenannter Künstlicher Intelligenz. Das aber führt in die Irre. Denn damit übersehen wir, dass das Gesundheitswesen auch ein soziales und politisches System ist.

netzpolitik.org: Du sagst, dass die Digitalisierung des Gesundheitswesens Patient:innen-zentriert erfolgen sollte. Ist das bei den beiden geplanten Gesetzen der Fall?

Manuel Hofmann: Die Gesetze sehen vor, dass Forschungsdaten standardmäßig herausgegeben werden – es sei denn, Patient:innen widersprechen dem aktiv. Für viele Versicherte kann das funktionieren. Anders sieht das bei Menschen aus, die mit Diagnosen leben, die regelmäßig mit Diskriminierung einhergehen. Für diese Menschen sollte es immer die Wahlfreiheit geben, ob, in welchem Umfang und mit wem sie ihre Gesundheitsdaten teilen. Und sie sollten auch darüber entscheiden können, was mit den Daten in der Forschung und mit den Forschungsergebnissen passiert.

Wenn Unternehmen mit Gesundheitsdaten von Versicherten forschen, dann sollten die Ergebnisse auch dem Gemeinwohl dienen. Patient:innen sollten also über die Ergebnisse informiert werden. Und diese Ergebnisse sollten der Allgemeinheit öffentlich zur Verfügung stehen – im Sinne von Patentfreiheit und von Open Access.

Der Medikationsplan als offenes Buch

netzpolitik.org: Karl Lauterbach verspricht aber doch genau das: Die Versicherten erhalten endlich mehr Einsicht und Kontrolle in ihre Daten. Datenhoheit wird jetzt ganz großgeschrieben.

Manuel Hofmann: Es soll prinzipiell Möglichkeiten geben, in der elektronischen Patient:innen-Akte zu steuern, welche Dokumente wem angezeigt werden und wem nicht. Allerdings kann diese Sichtbarkeit nicht so umfassend kontrolliert werden, dass Versicherte – und speziell Menschen mit Diagnosen, die potenziell mit Diskriminierung einhergehen –, bestimmte Diagnosen über die einzelnen Teilanwendungen der ePA hinweg verbergen können.

Ich kann das gerne an einem Beispiel erläutern. Der elektronische Medikationsplan soll alle Medikamenteneinnahmen einer versicherten Person auflisten. Diese Liste steht dann allen Ärzt:innen zur Verfügung. Das macht zunächst auch Sinn, weil dadurch etwa Doppelmedikation oder Wechselwirkungen vermieden werden können.

Gleichzeitig aber gehen daraus sensible Informationen und Diagnosen hervor, wie etwa bei der Einnahme von HIV-Medikamenten, von Psychopharmaka oder von Substitutionspräparaten.

Als Patient:in kann ich nicht steuern, wer den Medikationsplan in welchem Umfang einsehen darf. Ich kann das nur komplett unterbinden. Das aber höhlt die sinnvollen Bemühungen aus, Informationen an anderer Stelle zu verschatten, sie also gezielt gegenüber bestimmten Personen oder Einrichtungen auszublenden.

Außerdem, und das ist auch noch ein wichtiger Punkt, habe ich nicht die Möglichkeit, standardmäßig alle Dokumente nur für mich selbst einsehbar zu machen oder für Ärzt:innen, denen ich explizit das Vertrauen ausspreche.

Wenn es diese Möglichkeiten im Alltag aber nicht gibt, dann ist das zum Nachteil all jener Menschen, die überdurchschnittlich häufig zu Ärzt:innen gehen. Und für Menschen, die nicht über die größte Digitalkompetenz verfügen.

Abgeordnete schwärmen von fließenden Gesundheitsdaten

„Eine stärkere Einbindung von Patient:innen-Organisationen ist sehr wertvoll“

netzpolitik.org: Warum gibt es dieses Versäumnis ausgerechnet beim Medikationsplan?

Manuel Hofmann: Es ergibt Sinn, dass Ärzt:innen an einer zentralen Stelle alle verschriebenen Medikamente einsehen können. Das erleichtert die medizinische Versorgung.

Es ist aber wichtig, genau hinzuschauen, wo überall sensible Gesundheitsdaten geteilt werden und wo daher eine funktionierende Verschattung über alle Teilbereiche der ePA hinweg gewährleistet sein sollte. Nicht alle Ärzt:innen müssen für eine gute Versorgung zwingend alle Informationen und Medikamente der Patient:innen sehen.

Bei solchen Fragen ist eine stärkere Einbindung von Patient:innen-Organisationen sehr wertvoll. Denn sie bringen Erfahrungen aus dem Alltag mit und kennen daher auch die Diskriminierungserfahrungen von Patient:innen. Daher können sie auch den Blick dafür schulen, wo die ePA und andere digitale Gesundheitsanwendungen potenziell diskriminierend sind.

„Die individuelle Entscheidung hängt von der Diskriminierungserfahrung ab“

netzpolitik.org: Man könnte aber auch argumentieren, dass die Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten gerade für das Gemeinwohl wichtig ist. Und gerade chronisch kranke Menschen profitieren doch von deren Nutzung, oder nicht?

Manuel Hofmann: Natürlich gibt es auch Patient:innen und Patient:innen-Vertreterinnen, die ein Interesse daran haben, dass Gesundheitsdaten möglichst allen Ärzt:innen und auch allen Forschenden zur Verfügung stehen. Die Einwilligung dafür sollte aber am Ende immer eine individuelle Entscheidung sein.

Und wie Patient:innen diese individuelle Entscheidung treffen, hängt maßgeblich von ihrer Diskriminierungserfahrung ab – gerade auch bei der Primärversorgung und damit im Alltag.

Diskriminierung kann ich zum Beispiel erfahren, wenn ich zum Zahnarzt gehe, weil ich Zahnschmerzen habe. Dort lege ich den HIV-Status offen, weil ich danach gefragt werde. Und dann wird einem die Behandlung verwehrt.

Und mit Blick auf die Forschung gibt es gerade bei Menschen, die seltene Erkrankungen haben, das Risiko einer De-Pseudonymisierung. Auch das sollte mitbedacht werden.

All das sollte in die Entscheidung von Menschen darüber einfließen, wie sie mit ihren Daten umgehen möchten. Und ob ihnen die Teilhabe an der Forschung wichtiger ist als die Hoheit über ihre eigenen Daten.

Opt-Out-Digitalisierung ohne Rücksicht auf Versicherte

„Die Umstellung entzündet noch kein Digitalisierungsfeuerwerk“

netzpolitik.org: Der Bundesgesundheitsminister hat als Ziel ausgegeben, dass 80 Prozent aller Versicherten bis zum Jahr 2025 eine elektronische Patientenakte haben. Glaubst du, dass auch 80 Prozent der chronisch kranken Menschen eine ePA nutzen werden?

Manuel Hofmann: Also zunächst mal beruht diese Hoffnung darauf, dass Lauterbach von einem Opt-in- auf ein Opt-out-Verfahren umgestellt hat. Alle Versicherten bekommen also erst einmal eine ePA und müssen dann aktiv widersprechen, wenn sie diese nicht wollen. Dadurch werden sehr viel mehr Menschen die ePA nutzen als bisher. Aktuell liegt die Nutzungsrate ja gerade einmal bei circa einem Prozent der gesetzlich Versicherten.

Diese Umstellung alleine entzündet aber noch kein Digitalisierungsfeuerwerk. Und sie erhöht auch nicht die Akzeptanz für die Digitalisierung im Gesundheitswesen – weder bei Patient:innen noch bei Ärzt:innen.

In meinem Umfeld höre ich viele skeptische Stimmen, was die Gesundheitsdigitalisierung angeht. Vor allem Menschen mit HIV, queere und trans Menschen, Drogen-Gebraucher:innen oder Menschen, die Rassismus erfahren, sind bei dem Thema zurückhaltend. Wenn man deren Zweifel ausräumen möchte, dann braucht es auf jeden Fall mehr begleitende Informationen. Und natürlich sollte die ePA so gestaltet sein, dass sie für alle Menschen attraktiver wird.

Die Gesundheitsdigitalisierung kann Machtasymmetrien verstärken

netzpolitik.org: In dem Gesetzentwurf ist noch etwas vorgesehen, das derzeit nur wenig diskutiert wird: Auch Betriebsärzt:innen sollen Zugriff auf die Gesundheitsdaten der Patient:innen erhalten – und zwar in Gänze, wenn die Versicherten dem zustimmen. Wie bewertest du das?

Manuel Hofmann: Zwischen Betriebsärzt:innen und Patient:innen besteht grundsätzlich eine Machtasymmetrie. Denn sie entscheiden über die berufliche Anstellung von Menschen.

Wir haben bei der Antidiskriminierungsstelle der Deutschen Aidshilfe aktuell einen solchen Fall vorliegen. Ein Amtsarzt hat einen Bewerber bei der Feuerwehr wegen seiner HIV-Infektion als nicht tauglich eingestuft. Dafür gibt es keinerlei medizinische Grundlage. Es zeigt aber sehr gut die Machtasymmetrie.

Und deswegen sollten Betriebsärzt:innen keinen Zugriff auf die ePA erhalten. Das gilt im Übrigen auch bei einem Opt-in-Verfahren.

EHDS: Diskriminierung in verschärfter Form

netzpolitik.org: Die Gesundheitsdigitalisierung beschränkt sich nicht auf die Bundesrepublik. Die Europäische Union plant aktuell einen sogenannten Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS) – womöglich sogar ohne Opt-out. Welche Folgen könnte das aus deiner Sicht haben?

Manuel Hofmann: Alle Formen der Diskriminierung existieren auch in anderen EU-Ländern – teilweise in verschärfter Form. Das gilt zum Beispiel beim Thema Schwangerschaftsabbrüche in Polen oder bei den Rechten von queeren und trans Menschen in Ungarn. Das sind Beispiele, die sich die EU sehr genau anschauen sollte, wenn sie einen einheitlichen Gesundheitsdatenraum einrichten will. Hier muss noch genauer abgewogen werden, ob die möglichen Vorteile des EHDS in einem guten Verhältnis zu der Gefahr stehen, die damit insbesondere für marginalisierte Gruppen einhergeht.

netzpolitik.org: Wie sähe denn für Dich eine an den Patient:innen orientierte Gesundheitsdigitalisierung aus – gerade auch mit Blick auf chronisch kranke Menschen? Oder anders gefragt: Worüber sollte der Bundestag am Donnerstag aus Deiner Sicht bestenfalls abstimmen?

Manuel Hofmann: Auf der Prozessebene wäre es zum einen wünschenswert und wichtig gewesen, dass Vertreter:innen der digitalen Zivilgesellschaft, aber auch von Patient:innen- und Selbsthilfeorganisationen stärker eingebunden gewesen wären – und zwar in den gesamten Prozess des Gesetzgebungsverfahrens und der sich daran anschließenden Umsetzung.

Auf der inhaltlichen Ebene wünsche ich mir ein gutes, digitales Gesundheitssystem, von dem alle Menschen, vor allem aber jene mit potenziell diskriminierten Diagnosen profitieren. Dafür bräuchte es in der ePA wie auch in anderen digitalen Gesundheitsanwendungen maximale, handhabbare Selbstbestimmung. Die sehe ich in den Gesetzen, die nun verabschiedet werden sollen, leider nicht.


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