Den Innenministerien fehlt der Überblick, wie oft ihre Polizeibehörden Smartphones beschlagnahmen. Eine verlässliche Statistik über den tiefen Grundrechtseingriff fehlt. Juristen sehen noch weitere Probleme im Umgang mit der Ermittlungsmaßnahme.
Bei Hausdurchsuchungen oder bei Demos: Ermittelt die Polizei in einer Straftat, kassiert sie dabei häufig Smartphones ein, um nach Beweisen zu suchen. Der Grundrechtseingriff ist enorm, Smartphones enthalten viele Informationen über das Leben der Besitzer:innen. Kontakte, Fotos, Dating-Apps – für viele sind die mobilen Geräte wie ein zweites Gehirn.
Doch wie oft die Polizeien in Deutschland diese Geräte sicherstellen oder beschlagnahmen, lässt sich kaum sagen. Verlässliche Statistiken gibt es nicht.
Eines dieser eingezogenen Mobiltelefone gehört Victoria (Name geändert). Sie war vor der Bundestagswahl 2021 mit anderen linken Aktivist:innen unterwegs. Wegen des Verdachts auf Sachbeschädigung habe die Polizei die Gruppe durchsucht, ihre Personalien aufgenommen – und alle Smartphones beschlagnahmt. „Da sind alle meine Bilder, meine Chats und Kontakte drauf“, sagt Victoria. Bis heute, mehr als zwei Jahre nach der Polizeiaktion und ein Jahr nach Zustellung der Anklageschrift, habe sie ihr Smartphone nicht zurückbekommen, erzählt die junge Aktivistin aus Bayern.
Wie oft kassiert die Polizei Smartphones ein?
Wir wollten von den Innenministerien der 16 Bundesländer wissen: Wie oft passiert es, dass die Polizei Smartphones einkassiert? Wie hat sich die Zahl über die letzten fünf Jahre entwickelt? Bei welchen Tatvorwürfen kommen die Beschlagnahmen vor? Und wie lange dauert es bis zur Rückgabe? Die Antworten der Innenministerien auf unseren ausführlichen Fragenkatalog fielen in den meisten Fällen einzeilig aus.
Man könne die Fragen nicht beantworten, da sie „statistisch nicht recherchierbar“ seien, schreibt etwa das sächsische Innenministerium. Auch Mecklenburg-Vorpommern gibt an, dass die Staatsanwaltschaften dort dazu „keine Statistiken“ führen. Eine Erklärung für die fehlenden Zahlen liefert Schleswig-Holstein: „Eine Erfassung im Vorgangsbearbeitungssystem findet grundsätzlich statt, kann aber auch unterbleiben, sodass keine belastbare Zahlengröße vorliegt.“ Der Polizei hat also keinen Überblick, wie oft sie bei welchen mutmaßlichen Straftaten Smartphones beschlagnahmt oder sicherstellt.
Dabei wären diese Zahlen sehr wichtig, um den Grundrechtseingriff zu bewerten, der mit den Maßnahmen verbunden ist. Bei der anstehenden Überwachungsgesamtrechnung etwa sollen Forschende nicht nur die Rechtsgrundlagen an sich untersuchen, sondern auch, wie sie genutzt werden. Denn nur in dieser Kombination lässt sich einschätzen, wie sich Gesetze praktisch auf unsere Freiheit auswirken.
175.000 Mobiltelefone in fünf Jahren asserviert
Ein Sprecher des bayerischen Innenministeriums teilt uns immerhin mit, dass in der Asservatenverwaltung in den letzten fünf Jahren etwa 175.000 Mobiltelefone bei knapp 80.000 Straftaten erfasst worden sein. Beim Verdacht auf eine Straftat werden in der Regel also mehrere Geräte beschlagnahmt.
Nehmen Beschlagnahmungen und Sicherstellungen von Smartphones zu? Auch diese Frage beantworten die meisten Bundesländer nicht. Doch die Zahlen aus drei Innenministerien zu untersuchten beziehungsweise ausgewerteten Geräten bestätigen diese These.
In Schleswig-Holstein wurden letztes Jahr 4.496 Smartphones ausgelesen, das entspricht einer Steigerung von 73 Prozent gegenüber 2018. In Rheinland-Pfalz wurden von 2018 bis 2020 16.000 Geräte durchsucht, im Jahr 2022 allein waren es schon 14.000. Das entspräche einer Steigerung von 163 Prozent. Allerdings zählen seit 2021 auch Tablets mit in die Statistik.
In den Laboren der Digitalen Forensik in Bayern untersuchte die Polizei 2021 54 Prozent mehr Mobiltelefone als 2018. „Hierbei darf angemerkt werden, dass Mobiltelefone nicht zwingend in den Laboren untersucht werden, hierüber aber keine Statistikdaten vorliegen“, schreibt ein Sprecher des Innenministeriums als Anmerkung.
Bis zur Rückgabe kann es lange dauern
Die Innenministerien haben auch keine landesweiten Statistiken, wie lange es bis zur Rückgabe des Geräts dauert. Schleswig-Holstein antwortet uns: „Sofern die Zugangsdaten vorliegen und es sich um hoch priorisiertes Delikt, beispielsweise ein Kapitaldelikt, handelt, kann die forensische Aufbereitung innerhalb weniger Tage erfolgen, zuzüglich der Auswertung.“
In anderen Fällen, wenn etwa das Gerät entschlüsselt werden müsste, könnten auch mehrere Monate oder sogar Jahre vergehen. Oder sie schafft es überhaupt nicht, an die verschlüsselten Daten zu kommen. „Zu beachten ist auch, dass gerade beschuldigte Personen die Geräte oftmals zunächst nicht von der Polizei zurückerhalten, weil es sich gegebenenfalls um ein Beweismittel handeln könnte.“
Während die Länder offenbar nicht wissen, wie oft Polizei und Staatsanwaltschaften Smartphones einkassieren, kritisieren Juristen die Ermittlungspraxis. Laut dem Berliner Rechtsanwalt Lukas Theune komme die Beschlagnahme auch bei Bagatellen häufig vor. Bis vor einiger Zeit habe die Polizei auch sehr häufig Handys von Personen beschlagnahmt, die polizeiliche Maßnahmen gefilmt hätten, berichtet Theune. „Die Handys wurden dann abgenommen unter dem Vorwand ‚Verletzung des vertraulichen Wortes‘. Das ist natürlich absurd.“
Bei einer polizeilichen Maßnahme werde kein vertrauliches Wort gesprochen, sagt der Rechtsanwalt. „Man hatte den Eindruck, es geht nicht um die Ermittlungen, sondern darum, Beweismittel von rechtswidrigen Polizeimaßnahmen zu vernichten und die Betroffenen direkt vor Ort zu bestrafen.“ Diese Praxis sei in Bayern immer noch Standard, in Ostdeutschland habe sie seiner Erfahrung nach abgenommen, sagt Theune.
Überforderung der polizeilichen Kapazitäten
Aus Sicht des Berliner Anwalts beschlagnahmen Ermittlungsbehörden deutlich häufiger als früher. „Das nimmt extrem zu. Das nimmt so sehr zu, dass die Polizei in vielen Fällen Mobiltelefone gar nicht mehr auswerten kann.“ Als Beispiel nennt er die Tag X-Demo in Leipzig, bei der die Polizei laut nd Geräte von 380 Menschen beschlagnahmte. „Wenn sie das so exzessiv tun, überfordern sie ihre eigenen Ermittlungskapazitäten“, sagt Theune. Die Auswertung ziehe sich dann über Monate und Jahre, die Rückgabe werde erratisch.
Er fordert darum eine zeitliche Frist bei der Durchsuchung von Smartphones: „Es bräuchte eine gesetzliche Frist von einem Monat zur Auswertung, danach muss es zurückgegeben werden.“ Außerdem fehle eine Sanktion, falls die richterliche Bestätigung bei einer Beschlagnahmung nicht eingeholt wird. Denn auch das komme in der Praxis hin- und wieder vor, sagt Theune.
Beschlagnahmung und Sicherstellung sind zwei verschiedene rechtliche Wege, wie Polizei und Staatsanwaltschaft an Smartphones kommen. Bei letzterem geben es die Betroffenen die Geräte freiwillig heraus. Willigen sie aber nicht ein, kann die Polizei die Geräte beschlagnahmen. Dafür braucht sie eine richterliche Anordnung. Die kann auch nachträglich eingeholt werden, erklärt Theune. Fast immer wird sie gewährt, so seine Erfahrung: „Die ermittlungsrichterliche Kontrolle ist nicht so stark ausgeprägt.“
Wohnung oder Smartphone?
IT-Rechtsprofessor Dennis-Kenji Kipker fordert höhere Hürden für die Beschlagnahme und Durchsicht. Er bezeichnet das Smartphone als „ausgelagertes, digitales Gedächtnis“. In seiner Vorlesung fragt der Forscher der Uni Bremen seine Student*innen: „Was würdet ihr eher machen? Würdet ihr einen Fremden 30 Minuten lang ohne Aufsicht in eure Wohnung reinlassen, sodass er alle Schränke und Fächer aufmachen, alle Ordner und Zettel durchwühlen kann? Oder würdet ihr ihm 30 Minuten lang Zugriff auf euer entsperrtes Smartphone mit allen Apps und Fotos geben?“ Die Antwort sei meistens klar, erzählt Kipker: „Lieber die Wohnung als das Smartphone.“
Werde ein beschlagnahmtes Smartphone durchsucht, sei der Schaden für die Intimsphäre „nicht signifikant geringer“ als bei der Online-Durchsuchung, auch wenn letztere heimlich erfolge. Allerdings gebe es bei der Online-Durchsuchung hohe verfassungsrechtliche Hürden, für Beschlagnahme und Durchsicht von Smartphones seien diese aber deutlich geringer. Dies habe auch mit der technischen Entwicklung zu tun, vermutet Kipker.
„Vor 20 bis 25 Jahren gab es ja auch schon Beschlagnahmungen, aber was war ein Handy da? Da hatte man ein Telefonbuch drin, vielleicht waren auch noch ein paar SMS gespeichert, auch wenn der Speicher bei vielen schon nach 50 Nachrichten voll war.“ Der Jurist fordert, dass zukünftig bei Beschlagnahmungen und Sicherstellungen nach Art des Gegenstands differenziert wird.
Polizei macht Druck
In der Realität sei der Übergang zwischen Beschlagnahme und Sicherstellung fließend, meint Professor Kipker. Viele Betroffene würden die Rechtslage nicht kennen, zudem sei eine Polizeikontrolle eine einschüchternde Situation. Auch Victoria berichtet von dem Druck durch die Polizist:innen. Diese hätten ihr zu verstehen gegeben: „Wenn ich meinen Code rausgebe, kriege ich es schneller wieder.“
Diese Art des Drucks findet laut Anwalt Theune standardmäßig statt. „Die Betroffenen stehen dann natürlich vor der Wahl: Verzichte ich Monate oder Jahre auf mein Smartphone oder gebe ich es freiwillig heraus.“ Theune betont allerdings, dass sich die Polizei nicht an diesen Deal halten müsse. „Ich rate auch immer Betroffenen, darauf nicht einzugehen.“ Grundsätzlich müsse niemand seinen Code herausgeben. „Keine beschuldigte Person ist verpflichtet, sich selbst zu belasten.“
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