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Russische Kriegspropaganda: Als eine EU-Studie aus dem Netz verschwand

Ein Jahr lang untersuchte die EU-Kommission, wie sich Desinformation des Kremls in sozialen Netzwerken wie Instagram und TikTok verbreitet. Doch kurz nach Erscheinen nahm die Brüsseler Behörde das Papier aus dem Netz. Wir veröffentlichen es.

Russische Kriegspropaganda - tausendfach im Netz
Russlands Machthaber Putin hat eine globale Bühne – hier beim Gipfel der Brics-Staaten in Südafrika – Alle Rechte vorbehalten https://www.imago-images.de/st/0302103245

An einem warmen Augusttag vergangene Woche stellt die EU-Kommission eine Studie auf ihre Website, deren Ergebnisse überhaupt nicht zum freundlichen Wetter in Brüssel passen. Das 74-seitige Papier zieht Bilanz über die Bemühungen großer Plattformen wie YouTube, Twitter und TikTok, russische Kriegspropaganda seit der Invasion der Ukraine zu stoppen. Das Fazit: Zwar hätten sich die Plattformen zu einer effektiven Bekämpfung von Desinformation verpflichtet, sie seien aber im Fall russischer Kriegspropaganda „auf systemischer Ebene gescheitert“.

Kurz nach Veröffentlichung der Studie fragte der Journalist Guénaël Pépin des französischen Mediums Contexte beim Pressedienst der Kommission an. Danach passierte etwas Merkwürdiges: die Studie verschwand aus dem Netz. Aber mehr dazu später.

Kampf gegen Desinformation ist umstritten

Seit 2018 verpflichten sich die größten Internetdienste der Welt im EU-Verhaltenskodex gegen Desinformation, die Ausbreitung von in bösartiger Absicht gestreuter Information zu bremsen. Entstanden ist der Kodex als Reaktion auf Vorwürfe, heimlich über Facebook und andere Plattformen verbreitete russische Propaganda habe das Brexit-Referendum und die Wahl von Donald Trump beeinflusst.

Der Begriff Desinformation umfasst Falschinformation und manipulierte Inhalte, etwa Deep-Fake-Videos. In gewissen Fällen meint er allerdings auch inhaltlich korrekte Behauptungen, die in einem manipulativen Kontext dargestellt werden. Wegen seiner schwammigen Definition gibt es immer wieder Kritik am Begriff. Der Kampf gegen tatsächliche und vermeintliche Falschnachrichten dürfe nicht dazu führen, dass Plattformen massenhaft erlaubte und legitime Formen der Meinungsäußerung löschten. Befürchtungen wecken auch Gesetze gegen „Desinformation“ in Ländern wie der Türkei, wo diese laut Befürchtungen von NGOs den Spielraum für Journalismus und die Zivilgesellschaft einschränken.

Unabhängig von dieser Kritik stärkte die EU ihren Verhaltenskodex 2022. Etwa verpflichteten sich die Unterzeichnenden, Factenchecks auf ihren Plattformen zu erlauben und Einnahmequellen aus Werbung für Propagandakonten zu kappen. Mit dem Digitale-Dienste-Gesetz wird die Einhaltung des Kodex, der bislang rein freiwillig war, durch Strafen kontrollierbar.

Die aus dem Internet verschwundene Studie der EU-Kommission untersuchte, ob die Maßnahmen von Facebook, Instagram, Youtube, Twitter, TikTok und Telegram den Anforderungen des neuen EU-Gesetzes zur Bekämpfung systemischer Risiken genügt hätte. Zu diesen Risiken zählt auch die ungebremste Ausbreitung von Desinformationskampagnen. Für die Untersuchung zuständig war die Generaldirektion Kommunikationsnetze, Inhalte und Technologien. Die Expert:innen untersuchten rund sieben Millionen Posts in einem Zeitraum von zwölf Monaten, die von aus Russland gesteuerten oder dem Kreml ideologisch nahestehenden Konten verbreitet wurden.

Studie bei netzpolitik.org im Volltext

Die Studie schlägt in politisch heikles Terrain, denn die meisten der großen Technologiekonzerne haben ihren Sitz in den USA, Europas wichtigstem geopolitischen Verbündeten. Dort wird der Versuch der EU, die Macht der Technologiekonzerne zu bändigen, mitunter skeptisch gesehen. Der zuständige Binnemarktkommissar Thierry Breton hat unterdessen wiederholt versucht, im persönlichen Gespräch Firmenchefs wie Twitter-Eigentümer Elon Musk von der Einhaltung der EU-Regeln zu überzeugen.

Laut der Untersuchung hat die russische „Z-Propaganda“ für ihren Einmarsch in die Ukraine seit März 2022 millionenfach Nutzer:innen in Europa erreicht, darunter sollen Aufrufe zur Gewalt gegen Ukrainer:innen gewesen sein. Schritte der Plattformen dagegen, etwa das Labeln und Blockieren einzelner Propaganda-Konten, seien von ihren Urheber:innen mühelos umgangen worden. Insgesamt hätten Pro-Kreml-Botschafter kaum weniger Publikum erreicht als ohne die Maßnahmen. Auch sei der Verhaltenskodex gegen Desinformation „nicht darauf ausgelegt, einen von tausenden koordiniert agierenden Konten geführten, großangelegten, staatlich geförderten Informationskrieg“ zu bekämpfen.

Die Studie soll als Vorlage für weitere Untersuchungen dienen, mit denen die Maßnahmen der großen Plattformen zur Bekämpfung „systemischer Risiken“ unter dem Digitale-Dienste-Gesetz beurteilt werden. Ob die Methodik der Untersuchung der komplexen Fragestellung immer gerecht wurde, können vermutlich bald unabhängige Forscher:innen beurteilen. Diese sollen ab nächstem Jahr einen rechtlichen Anspruch auf Zugang zu den Daten der Plattformen erhalten. Die Studie hatte teils darauf gesetzt, Millionen von Posts automatisiert mit einem von Google entwickelten Analysetool auf „Toxizität“ zu untersuchen.

Besprechen möchte die Kommission die Ergebnisse ihrer Untersuchung allerdings vorerst nicht. Auf Anfrage von netzpolitik.org hieß es, die Studie sei noch nicht fertig. „Sie wurde versehentlich veröffentlicht und zurückgezogen, sobald die Kollegen dies bemerkten“, schrieb ein Sprecher der EU-Kommission. Offen lässt die Kommission vorerst auch, welche möglichen Konsequenzen sie aus den Ergebnissen der fertigen Studien ziehen könnte. Wer sich selbst ein Bild über das unfertige Papier machen möchten, für den bieten wir es hier im Volltext zum Download.


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