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Linksklick: Neue Perspektiven wagen

Spielspaßkurven zeichnen kann jeder. Ungewöhnliche Perspektiven hingegen sind rar. Dabei können sie uns ganz neue Erkenntnisse über unser Lieblingsmedium bringen.

Ein Screenshot aus dem Spiel Elden Ring
Kein Fisch weit und breit – Screenshot: Elden Ring, Bearbeitung: netzpolitik.org

Elden Ring ist eines der erfolgreichsten Spiele des vergangenen Jahres und gilt vielen schon jetzt als moderner Klassiker. Das Rollenspiel mit offener Spielwelt und spektakulären Landschaften war 2022 Dauergast auf den Bestenlisten und Award-Shows – und das, obwohl es ein wirklich schlechtes Spiel ist. Zumindest für Angler.

Wer Fan von Angel-Minispielen und dem Bildschirmkampf gegen Barsch, Hecht und Forelle ist, muss in dieser Spielwelt mit großen Enttäuschungen rechnen. Es gibt zwar gigantische Seen mit idyllischen Uferpromenaden und sogar ein Meer entlang schier endloser Küstenlinien. Aber Angelruten oder auch nur ein Stöckchen, an das wir eine Schnur binden dürfen, suchen wir vergeblich. Ja, nicht einmal Fische, so munkelt man in der Community, gibt es in den Gewässern. Und so wird das für manche beste Spiel des zurückliegenden Jahres zu einer der größten Enttäuschungen des Jahrzehnts.

Neue Blickwinkel, neue Bewertungen

Es mag wie eine Spitzfindigkeit klingen, Elden Ring ausschließlich als Angelspiel zu bewerten. Aber hinter diesem Gedankenexperiment steckt mehr: nämlich das Potential, neue Perspektiven auf Videospiele einzunehmen, die unsere Diskussionen über dieses Medium auf eine ganz andere Ebene heben können.

Eine kleine Bestandsaufnahme. Spielbesprechungen sehen überall gleich aus: Sie orientieren sich immer an der Frage, wie gut oder schlecht ein Spiel insgesamt gelungen ist. Dass diese Wertungskategorien stark vom jeweiligen Spieler*in abhängig und kein objektivierbarer Wert sind, hat sich zwar – nach vielen fehlgeleiteten Jahren voller Spaßkurven und Schulnotensystem – endlich durchgesetzt. Aber die alte Perspektive ist im Kern geblieben.

Themenfelder, die nicht mit dem Spiel in seiner Gesamtheit, sondern nur mit dessen Bestandteilen zu tun haben, fließen nur selten in die abschließende Bewertung ein. Sie werden stattdessen in Reportagen ausgelagert.

So haben sich Redaktionen, trotz einer Modernisierung ihrer Arbeitsweise, erfolgreich den Spirit der ausgehenden 1980-er Jahre erhalten können: Ein Spiel ist nur so gut wie die Summe seiner Einzelteile. Eben wie eine Waschmaschine auch. Oder wie jeder andere Gebrauchsgegenstand dieser Welt, der zu Recht in Tests gegen seinen Einkaufspreis gerechnet und mit anderen Produkten verglichen wird.

In die Haut einer Katze schlüpfen

Aber Spiele sind keine Gebrauchsgegenstände, sondern Kunst. Und das ermöglicht alternative Perspektiven und damit andere Zugänge zum Medium als die Spaßkurve.

Bevor ich mich mehr auf meine Arbeit mit Podcasts konzentriert habe, unterrichtete ich einige Semester lang als Gastdozent im Fach „kreatives Schreiben“. Eine regelmäßige Übung, die ich in jedem Kurs durchführte, besteht in der Spielkritik aus ungewöhnlichen Perspektiven: Studierende sollten einen Test über ihr Lieblingsspiel schreiben – und dafür einen originellen Blickwinkel einnehmen.

Die Ergebnisse waren spektakulär: Eine Studentin beispielsweise schrieb einen Test von Traveller’s Rest, ein Tavernensimulator, in dem eine Fantasy-Gaststätte möglichst erfolgreich betrieben werden muss. Klassische Rezensionen rechnen Gameplay-Loop, Feature-Bandbreite und Langzeitmotivation gegeneinander auf. Sie aber wechselte die Perspektive – und schlüpfte in die Haut einer Katze, die dem Tavernenbesitzer im Spiel nach etwa einer Stunde zuläuft. Eigentlich ist das Haustier nur ein Gag des Entwicklerteams. Die Studentin aber nutzte sie als Vehikel für ihre zentrale Frage – nämlich wie „gemütlich“ Traveller’s Rest eigentlich ist.

Da Katzen, so ihre These, gerne ein gemütliches Plätzchen zum Schlafen suchen, klopfte sie das Spiel auf dieses Potential hin ab. Dafür durchleuchtete sie alle Einrichtungsgegenstände, Farbgebung der Spielwelt und sogar den Soundtrack auf ihren Gemütlichkeitsfaktor hin. Das führte zu einer spannenden Game-Design-Analyse auf gleich mehreren Ebenen. Plötzlich rückten Fragen, die man sich bewusst nur selten vor dem Bildschirm stellt, in den Mittelpunkt: Wie entsteht ein Gefühl von Gemütlichkeit? Warum nehmen wir das als besonders positiv wahr? Und wie viel Gemütlichkeit ist zu viel? Einen solchen Text gab es über dieses Spiel bis dahin noch nicht.

Probefahrt in GTA

Das Schöne an diesem Experiment ist, dass grundsätzlich erst einmal alles möglich ist: Jedes Spiel kann aus einer noch so irrsinnigen Perspektive betrachtet und besprochen werden. Klar, der Aspekt einer klassischen Kaufberatung geht durch eine Angelanalyse von Elden Ring verloren – aber von dieser Testform gibt es ohnehin genug. Wer will, kann sich auch anderswo informieren, ob der Kaufpreis des Spiels nun gut investiert ist oder nicht.

Was es aber noch nicht gibt: Die kreative Alternative, die das Medium als Kunstwerk anerkennt. Und Kunst darf bekanntlich alles – und daher auch aus allen noch so ungewöhnlichen Perspektiven besprochen und interpretiert werden. Ich jedenfalls würde mich freuen, zum Release des nächsten GTA-Spiels einen Test von einem Fahranfänger zu lesen, der ausschließlich darüber schreibt, wie angenehm er durch den Straßenverkehr von Grand Theft Auto navigieren konnte. Ganz nebenbei lernen wir dann alle etwas über Spielerführung, KI und die Gestaltung einer Spielewelt. Eine Spielewelt, die weit mehr verdient, als die immergleichen grauen Wertungskategorien.


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