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Kriminalitätswahrnehmung: Vollkommen losgelöst von der Realität

Alter Mann schaut aus dem Fenster

Alle Welt redet über über die Gefahren von Verschwörungserzählungen, Manipulation und Desinformation und deren Auswirkungen auf die Demokratie. Doch es gibt wohl kaum ein gesellschaftliches Feld, bei dem Realität und Wahrnehmung so weit auseinandergehen wie bei der Kriminalität. Das hat Folgen für Grund- und Freiheitsrechte.

Während bei einer repräsentativen Umfrage im Jahr 2021 fast zwei Drittel von einer starken bis sehr starken Zunahme der Kriminalität in den letzten fünf Jahren ausgehen, nimmt die von der Polizei registrierte Kriminalität tatsächlich beständig und deutlich ab. Deutschland ist „eines der sichersten Länder der Welt“, stellen dementsprechend auch Bundesinnenministerium und Bundesjustizministerium in ihrem neuesten Periodischen Sicherheitsbericht fest, der am vergangenen Freitagabend erschienen ist. Die Rückgänge in der Kriminalität sind erheblich, doch die Angst der Bevölkerung vor ihr ist unvermindert groß. 

Im Bericht (PDF) heißt es:

Insgesamt ist das Kriminalitätsaufkommen in Deutschland seit Jahren rückläufig. Zwischen 2005 und 2019 sind die in der PKS [Polizeiliche Kriminalstatistik] erfassten Straftaten um 15 Prozent gesunken. Auch Dunkelfeldstudien zeigen, dass die Menschen in Deutschland vergleichsweise selten Opfer von Straftaten werden. Die Justizdaten weisen zudem weniger Verurteilungen und Strafgefangene aus.

Im Jahr 2019 waren mehr als die Hälfte aller registrierten Straftaten Eigentums- und Vermögensdelikte, darunter insbesondere Diebstahl und Betrug. „Insgesamt ist die seit 2005 registrierte Kriminalität von 6.391.715 in der PKS ausgewiesenen Fällen auf 5.436.401 erfasste Fälle im Jahr 2019 gesunken“, heißt es im Bericht.

Der größte Rückgang ist bei den Eigentumsdelikten zu verzeichnen, er beträgt bezogen auf die Einwohnerzahl mehr als ein Drittel (-33,7 Prozent). Auch der registrierte Schaden in diesem Bereich ist deutlich gesunken, von 8,5 Milliarden Euro auf 6,6 Milliarden Euro. Rückgänge lassen sich aber auch bei der Sachbeschädigung (−22,1 Prozent), den Betrugsdelikten (−12,9 Prozent) und der Gewaltkriminalität (−15,4 Prozent) feststellen. Auch bei der Wohnungseinbruchkriminalität, dem Angstgegner der Bevölkerung, gab es deutliche Rückgänge. Hier sank die Zahl der Fälle von 109.736 im Jahr 2005 auf 87.145 im Jahr 2019. Zuwächse gab es hingegen bei den Betäubungsmitteldelikten (+28,7 Prozent). Änderungen gibt es bei den Tatmitteln durch technische Entwicklungen, so verschieben sich einige Eigentumsdelikte zum Beispiel immer mehr ins Internet und es gibt über die Zeit mehr Betrug bei abnehmenden Diebstählen.

Eines der sichersten Länder der Welt

Gewaltkriminalität nahm 2019 mit 3,3 Prozent nur einen kleinen Teil der Gesamtkriminalität ein. Auch bei den Verurteilungen zeigt sich: 84,7 Prozent aller Strafen sind Geldstrafen, nur die wenigsten haben so gravierende Straftaten begangen, dass sie ohne Bewährung ins Gefängnis müssen. Und von denen, die eine Gefängnisstrafe erhalten haben, bekamen weniger als zehn Prozent Gefängnisstrafen von mehr als zwei Jahren. Auch die Straftaten Jugendlicher sind zwischen 2005 und 2019 deutlich zurückgegangen, das führte zu einer Halbierung der Verteilungen nach Jugendstrafrecht von 120.000 auf unter 60.000.

Deutschland weist auch im internationalen Vergleich bei wichtigen Indikatoren deutlich niedrigere Fallzahlen auf, heißt es in der Zusammenfassung des Berichts. „Bei vorsätzlichen Tötungsdelikten und schweren Sexualstraftaten liegt Deutschland zwei Drittel unter dem EU-Durchschnitt.“ Auch Bundesinnenminister Seehofer sagt: „Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt.“

Im Land der gefühlten Unsicherheit 

In Deutschland ist die Wahrnehmung von Kriminalität seit Jahren vollkommen entkoppelt von der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung. Während in der Befragung der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) fast zwei Drittel von einer starken bis sehr starken Zunahme der Kriminalität in den letzten fünf  Jahren ausgehen, schätzen nur sechs Prozent der Befragten die Kriminalitätsentwicklung realistisch ein. Diese Zahlen decken sich mit einer Umfrage aus dem Jahr 2016, in der mehr als zwei Drittel der Befragten von dieser Fehlannahme ausgingen

Woher diese Fehlwahrnehmung kommt, ist nicht abschließend untersucht. Die Studie der KAS zeigt sich hier einigermaßen ratlos: 

Ein genauerer Blick macht […] deutlich, dass die Problemwahrnehmung einer eigenen Logik folgt und nur bedingt an die tatsächliche Kriminalitätsentwicklung gekoppelt ist. Die Sorge um und die Zunahme an Kriminalität lassen sich nicht mit sinkender tatsächlicher Kriminalität aus der Welt schaffen.

Einen Anteil an diesem Phänomen haben vermutlich Nachrichtenwertfaktoren der Negativität und Nähe, die Medien dazu bringen, Berichte mit Schaden und Kriminalität ins unserer Nähe als relevanter zu bewerten. So entsteht medial eine Schieflage, die nicht der realen Entwicklung entspricht. Diese Schieflage wird befeuert von einer Innenpolitik, die auf diese Fehlwahrnehmungen eingeht, was die Berichterstattung zum Thema Sicherheit weiter verstärkt. Hinzu kommt eine Gesellschaft, die immer mehr Ängste empfindet. Solche Ängste drücken sich zum Beispiel darin aus, dass in den Siebziger Jahren 90 Prozent der Grundschüler:innen alleine zur Schule gingen und 2012 nur jede:r zweite. 

Weltkarte Risiko / Kriminalität
Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt. - Alle Rechte vorbehalten A3M Global Monitoring

Zwei Drittel der Befragten in der KAS-Studie gehen zudem davon aus, dass Kriminalität ein großes oder sehr großes Problem sei. Bei den über 65 Jahre alten Menschen sind es sogar mehr als drei Viertel, die das so sehen. Dabei ist diese Altersgruppe am wenigsten von Kriminalität betroffen, wie der Sicherheitsbericht feststellt. Anhänger:innen von AfD, SPD und CDU halten dabei Kriminalität deutlich stärker für ein Problem als die von Linke, Grünen und FDP.

Problem für die Bürgerrechte

Das Problem der Kriminalitätswahrnehmung nimmt in der bürgerrechtlichen Betrachtung und Argumentation bislang noch keinen so großen Stellenwert ein. Dabei könnte hier viel zu holen sein, wenn der grassierenden Fehlwahrnehmung weiter Teile der Gesellschaft Fakten entgegengestellt werden – und so ein realistisches Bild der Bedrohung durch Kriminalität entsteht, das eine evidenzbasierte Sicherheitspolitik möglich macht.

Denn mit der Fehlwahrnehmung dürfte die fortwährende Verschärfung von Gesetzen und Überwachung in Teilen zusammenhängen. Wer ein falsches Bild von der Kriminalität hat, der akzeptiert auch schneller Maßnahmen gegen diese. In der Studie der KAS stimmen Anhänger:innen aller Parteien mittlerweile mehrheitlich der Videoüberwachung öffentlicher Plätze zu und sogar die Gesichtserkennung hat bei Unions- und SPD-Anhänger:innen eine Mehrheit.

Die Angst vor Kriminalität hat ein politisches Betätigungsfeld geschaffen, in dem Innenpolitiker „anpacken“ und Handlungsbereitschaft mit immer neuen Maßnahmen zeigen können. Denn da, wo Bürger:innen ein Problem sehen, können Politiker:innen etwas gegen das Problem tun. Auch wenn das Problem in der Realität immer kleiner und kleiner wird. In einem der sichersten Länder der Welt.


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