Politik und öffentliche Verwaltung feiern den Bau der Antragsplattform einmalzahlung200.de als Digitalisierungserfolg. Studierende und Auszubildende sind hingegen frustriert, auch wegen der langen Wartezeit. Um dies zu vermeiden, brauchen digitale Neubauten künftig ein solides Fundament.
Ich warte
Ich warte
Ich warte
Ich warte vor dem Automaten
Warte auf mein Geld
Sollte das Gesamterlebnis der Energiepreispauschale in Höhe von 200 Euro für Studierende einen Soundtrack brauchen, es könnten diese Zeilen aus „Ich warte“ von der Band Einstürzende Neubauten sein. Denn was den Studierenden nach den vergangenen Wochen im Gedächtnis sein dürfte, ist nicht der von den Verantwortlichen gefeierte Digitalisierungserfolg, sondern es ist das zu lange Warten. Damit herrscht am Ende auch nicht der Eindruck eines politischen Gelingens, sondern Frustration.
Ein ideales Thema für diese Kolumne, die sich im Kern damit beschäftigt, was von schlecht gemachter Digitalisierung bleibt: Degitalisierung oder das Gefühl, von den Versprechungen digitaler Lösungen enttäuscht worden zu sein, weil diese Lösungen oftmals das Gegenteil des Angestrebten erreichen.
Time-to-Market
Rekonstruieren wir zunächst den Neubau von einmalzahlung200.de, um die Enttäuschung über das Ergebnis zu verstehen. Am 3. September 2022 hatte der Koalitionsausschuss der Ampel-Parteien eine Einmalzahlung von 200 Euro für Studierende beschlossen. Der Bund werde mit den Ländern beraten, wie „die Auszahlung schnell und unbürokratisch vor Ort erfolgen kann“, so die Entscheidung wörtlich.
Aus einer Produkt-Denkweise wäre dies der Zeitpunkt, an dem die Konzeption des digitalen Produkts Einmalzahlung 200 begann. Das gewünschte Ergebnis wird bereits politisch vermarktet und eine entsprechende Lösung in die Umsetzung gebracht, die dann – nach einer gewissen Entwicklungszeit – dem Markt zur Verfügung steht. Klassische Kennzahl, die als Time-to-Market in der Produktentwicklung bekannt ist.
Bei den Kund*innen wurde von Anfang die Erwartung geweckt, dass das Produkt sehr bald verfügbar sein soll. Immer wieder wurde die Energiepreispauschale als Soforthilfe betitelt. Es folgte ein Gesetzgebungsprozess, der formal am 16. Dezember 2022 abgeschlossen wurde – mehr als drei Monate nach dem Koalitionsbeschluss.
Dann begann der Bau- respektive Umsetzungsprozess, der sich durch die übliche Bund-Länder-Verantwortungsdiffusion auszeichnete. Diese Diffusion hat wohl – so viel politische Neutralität ist geboten – wenig mit der politischen Einfärbung der Beteiligten zu tun. Der Ablauf ist wohlbekannt: die Länder kritisieren den Bund, das zuständige Bundesministerium – in diesem Fall das für Bildung und Forschung – verortet das Problem bei den Ländern.
Anfang Februar erfolgte der Hinweis, dass die Auszahlung sicher noch im Winter komme. Mitte Februar verkündete die Regierung dann, sie sei „nicht mehr weit vom Ziel entfernt“. Der Weg dahin verläuft über eine gemeinsame digitale Antragsplattform: einmalzahlung200.de.
Am 15. März 2023 geht die Antragsplattform für die Soforthilfe online. Sofort heißt somit gut ein halbes Jahr nach Ankündigung. Time-to-Market: mehr als sechs Monate.
Erfolg in einem Paralleluniversum
Eigentlich ist diese Frist für die öffentliche Verwaltung ein Erfolg – vor allem angesichts der Größe des Bauvorhabens: eine Antragslösung für mehr als drei Millionen Berechtigte mit einem Entwicklungsbudget von wohl drei Millionen Euro. Dafür sind sechs Monate durchaus beachtlich. Allein schon angesichts der Rahmenbedingungen von Vergaberecht, Bund-Länder-Komplexität und vielem mehr.
Das Problem ist nur: Diese Erfolgseinschätzung interessiert allein Leute im Verwaltungsuniversum. Die Studierenden in der realen Welt haben eine andere Perspektive darauf.
Aus Produktsicht gab es das politisch ausgegebene Produktversprechen der schnellen und unbürokratischen Hilfe. Ganz im Sinne Günter Schabowskis könnte das in Deutschland als nach allgemeiner Kenntnis sofort, unverzüglich verstanden werden. Soforthilfe eben. Sechs Monate passen daher nicht zur Vorstellung von schnell und unbürokratisch.
Aus Verwaltungssicht könnte ich der relativ schnellen Abwicklung der Einmalzahlung somit einen gewissen Respekt zollen. Aus Bürger*innensicht verliere ich in der Gesamtbetrachtung jedoch weiteres Vertrauen in die schnelle Handlungsfähigkeit des Staates. Ganz gleich, ob die digitale Lösung nach diesen sechs Monaten in irgendeiner Weise gut bewertet werden kann.
Wie auf dem Amt
Über die digitale Güte von einmalzahlung200.de gibt es diverse Meinungen, die ich an dieser Stelle nur am Rande ausführen möchte.
Überraschend ist vor allem, dass die brandneue Antragsplattform dem abzusehenden Ansturm der Studierenden auch noch Tage nach dem Go-live nicht gewachsen war. „Ihre geschätzte Wartezeit beträgt 12 Minuten“. So oder ähnlich sah die Nutzungserfahrung zum Start aus. Aber immerhin deckt sich das digitale Erlebnis mit der analogen Erfahrung auf dem Amt. Oder wie Anna sagen würde: Bürgeramtssimulator 3000.
Allerdings irritiert nicht allein das technische Straucheln. Noch weitaus störender ist es, dass Bund und Länder unnötigerweise eine Lösung für viele tausende Antragsteller*innen erstellt haben, die diese zur Nutzung der BundID zwingen soll – die dann ebenfalls unter der Last zusammenbricht bzw. „wackelt“.
Geklappt hat auch das nur bedingt: Laut der eigenen Zahlen erfolgte die Anmeldung zur Einmalzahlung in den meisten Fällen nicht über die BundID (oder ELSTER). Stattdessen nutzten zwei Drittel der Antragsteller*innen das Verfahren über eine PIN, welche die Hochschulen ihnen bereitstellte.
Neubauten brauchen ein solides Fundament
Was lernen wir daraus? Nutzer*innen digitaler Lösungen gehen in der Mehrheit nicht durch die hübsche, aufwändig bereitgestellte Eingangstür des digitalen Neubaus. Stattdessen beschreiten sie mehrheitlich den effektiveren digitalen Trampelpfad. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Sie wollen das zu bewältigende Problem schnell und einfach lösen.
Dass für die Einmalzahlung die BundID einem Lasttest unterzogen wurde und gleichzeitig deren bis dahin magere Nutzungsbasis schlagartig vergrößert werden sollte, genügt dem politischen Renommee der Bundesregierung. Sie können damit einen Digitalisierungserfolg vermarkten. Aus Sicht der Studierenden gehörte all dies jedoch nicht zur versprochenen Soforthilfe, ganz im Gegenteil.
Immerhin zeigen die Probleme der Einmalzahlung, dass es noch viel Hintergrundarbeit an gut funktionierenden digitalen Basiskomponenten braucht. Erst wenn diese getan ist, kann Digitalisierung hierzulande auch in eben jener gewünschten Geschwindigkeit und Güte umgesetzt werden, die derzeit noch voreilig verkündet wird. Kurzum: Schnelles digitales Handeln geht nur von einem soliden Fundament für Digitalisierung aus.
Dieses solide Fundament bilden digitale Basisdienste des Staates, Digitalkompetenz auf möglichst vielen Ebenen und ein Kulturwandel, der das gemeinsame Arbeiten an besseren Lösungen erlaubt. Und ja, auch eine mitunter nervige digitale Zivilgesellschaft bildet einen Teil dieses Fundaments.
Für all das braucht es auch die politische Erkenntnis, dass nicht bereits jede einzelne App oder jedes digital bereitgestellte Formular gleich als Erfolg gefeiert werden sollte – so berechtigt dies in Deutschland auch mitunter sein mag.
Stattdessen brauchen wir eines mehr denn je: digitales Erwartungsmanagement. Daran gilt es zunächst zu arbeiten. Andernfalls erleben wir nur noch weitere einstürzende Neubauten.
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