Ein Infokasten wird zum Schleichweg einer Branche: Statt Verantwortung zu übernehmen, drücken sich Redaktionen vor der Diskussion, wie moderner Journalismus aussehen muss.
Die gute Nachricht zuerst: Der Fachjournalismus hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ebenso weiterentwickelt wie die Spiele, über die er berichtet. Die schlechte Nachricht: Diese Entwicklung scheint nun an einer besonders sensiblen Stelle zu stagnieren. Ein moralisches Schlupfloch ist zur Stolperfalle für den modernen Spielejournalismus geworden – und ich hoffe, dass ich mich mit dieser Beobachtung täusche.
Auf den ersten Blick alles rosig
Wenn ich mich heute durch die wichtigsten Websites klicke oder die letzten verbliebenen Printmagazine aufschlage, kann ich mehr Reportagen, mehr Hintergrundberichte, mehr Experimentierfreude entdecken als jemals in den fast vierzig Jahren davor. Dabei wird längst immer weiter über die Grenzen der eigenen Branche geblickt: Wissenschaftler*innen, Lehrer*innen, Historiker*innen und viele weitere Expert*innen beantworten Fragen, ordnen ein, kommentieren und erläutern, was der Spielejournalismus selbst nicht weiß. Das Nachfragen bei Menschen, die sich auskennen, ist en vogue.
Aber nicht nur die Riege der Fachleute hat sich vergrößert, auch die Redaktionen selbst sehen heute anders aus: diverser, jünger, weiblicher. Eine überfällige Veränderung, die endlich die bunte Zielgruppe der eigenen Berichterstattung spiegelt. Reine Männertrupps gelten als überholt und altmodisch.
Auch an einer anderen Stelle hat sich der moralische Branchenkompass neu ausgerichtet: Fotostrecken von dickbrüstigen Spielfiguren (industrie-intern poetisch „Tittenklickstrecken“ getauft), Nacktpatch-Anleitungen und Best-ofs der heißesten Messebabes waren einst Eckpfeiler des Klickjournalismus. Sie sind heute fast ausnahmslos aus dem deutschen Spielejournalismus verschwunden. Nicht, weil sie sich nicht mehr lohnen würden, sondern weil sie unhaltbar aus der Zeit gefallen sind (oder saftige Abmahnungen nach sich gezogen haben).
All das sind Umwälzungen, die Kraft und Geld gekostet haben und Lob verdienen. Von dieser Modernisierung auf so vielen unterschiedlichen Ebenen profitieren Redaktionen, ihr Publikum und die Berichterstattung über das Medium selbst. Und doch scheint diese steigende Kurve der Weiterentwicklung nun ein Plateau erreicht zu haben – einen kritischen Punkt, der zu bequem, zu sicher erscheint, um ihn unter neuerlichem Aufwand von Kraft und Geld hinter sich zu lassen. Nach außen könnte es nicht harmloser erscheinen: Ich spreche von einem speziellen Infokasten, der in den vergangenen Wochen immer häufiger zwischen Schlagzeilen und Reportage-Absätzen auftauchte.
Das neue Feigenblatt des Spielejournalismus
Dieser Infokasten, der je nach Website auch als redaktioneller Einschub oder kurzer Absatz entdeckt werden kann, hängt mit einem Spiel zusammen, das noch in diesem Jahr erscheinen soll: Diablo 4, die Fortsetzung eines der bekanntesten und langlebigsten Franchises der Gamingwelt.
Die Vorfreude der Fans ist riesig, die Aufmerksamkeit der Presse für dieses Spiel dem Anschein nach uneingeschränkt. Überall buhlen derzeit News, Vorschauen und Kolumnen über diesen Titel um Klicks und Aufmerksamkeit. Und zwischen all der Vorfreude und Aufregung? Ein kleiner Vermerk, ein kurzer Einschub, der auf das hinweist, womit sich das Entwicklerteam von Diablo 4 in den letzten Monaten herumschlagen musste. Es geht um den Riesenkonzern Blizzard, Missbrauchsvorwürfe von ehemaligen Mitarbeiterinnen, Kündigungswellen und Klagen von Angestellten.
Hier hat der Fachjournalismus im ersten Schritt gute Arbeit geleistet, seinen Job gemacht: Alle wichtigen Redaktionen haben diese Meldungen um Blizzard aufgegriffen, sie eingeordnet und teilweise sogar zum Anlass genommen, größere Reportagen über Sexismus in der Spielebranche und Arbeitsrechte von Angestellten zu veröffentlichen. Aber wie zuletzt bei Hogwarts: Legacy, das untrennbar mit Joanne K. Rowling und ihren transphoben Äußerungen zusammenhängt, stellt sich auch bei Diablo 4 die große Sinnfrage: Wie umgehen mit einem Spiel, das von einem Studio entwickelt wird, gegen das derart schwere Vorwürfe von sexueller Belästigungen und Diskriminierungen erhoben werden?
Es ist absehbar, dass sich diese Frage nach der Trennung von Urheber und Spiel in Zukunft leider immer wieder stellen wird. Eine Antwort, ein Verhaltensmuster für diese Fälle muss also her. Und die Antwort, die nun offenbar redaktionsübergreifend gefunden wurde, ist denkbar unelegant, ethisch fragwürdig – und hoffentlich nur eine vorübergehende Lösung.
Ein Infokasten als Antwort
Diese Antwort ist der Infokasten, ein aufklärender Einschub: Fast alle Berichte über Diablo 4 werden von einem kurzen Hinweis auf die vergangene Berichterstattung zu den Vorwürfen gegen Blizzard unterbrochen. Ein bis drei Zeilen, die mit Links auf bereits geschriebene Statements und Kolumnen verweisen. Danach? Weiter im Text, weiter mit der Vorfreude auf ein Riesenspiel, das getrennt von den Vorwürfen gegen das Entwicklerteam besprochen werden soll.
Dieser formalistische Clou wirkt leider wie ein fauler Spagat zwischen notgedrungen wahrgenommener Verantwortung vor dem Riesenthema „Sexismus“ und der SEO-Gier, einen so großen Titel nicht einfach ignorieren zu können. Der Infokasten mutiert zum Hinweis auf eine Fleißarbeit, die leidig getätigt wurde und nun als erledigt gilt.
Offizielle Begründungen wirken mitunter vorgeschoben und überschätzen den aktuellen Einfluss der Fachpresse, wie zum Beispiel jene des GameStar, wonach mit einem „Boykott“ des Spiels auch Entwickler*innen „bestraft“ würden, die nichts mit den Vorwürfen zu tun haben. Ein herbei gezerrtes Feigenblatt, das die eigene Blöße bedecken soll.
Dabei gäbe es Zwischentöne, die die Existenz des Spiels weder ignorieren noch jegliche Verantwortung auf einen Querverweis-Dreizeiler abschieben: Eine bewusst eingeschränkte Berichterstattung etwa, die nicht über zentrale Formate wie einen Test hinausgeht und die somit ein deutliches Zeichen setzen würde. Oder das Ende einer Trennung von „Spielbesprechung“ auf der einen Seite und Einordnungen von Vorwürfen gegen das Studio auf der anderen Seite, um so der Tatsache gerecht zu werden, dass Werk und Urheber miteinander verbunden sind. Und ich bin mir sicher: Es gibt noch klügere, noch bessere Antworten, die ein Redaktionsteam finden kann, das an anderen Stellen hochwertige Reportagen und Berichte auf den Weg bringt.
Presse, zeige Haltung!
Ohne Haltung ist Journalismus zahnlos. Und mit dem neuen Feigenblatt haben sich Redaktionen vorerst die Möglichkeit genommen, ernste Vorwürfe innerhalb der Industrie auch mit Konsequenzen in der Berichterstattung zu versehen. Stattdessen soll der Mittelweg die Google-Suchanfragen und den Druck zur Positionierung gleichermaßen befriedigen. Das Ergebnis?
Eine Lösung, die bequem erscheint, aber den Spielejournalismus um eine dringend notwendige Gelegenheit beraubt, Rückgrat zu zeigen. Wenn nicht in diesem Fall, wann dann?
Vielleicht tue ich mit diesem Urteil den Redaktionen Unrecht, die sich nicht bewusst sind, wie ihre Lösung für die obige Sinnfrage nach außen hin wirken kann. Denn leicht ist diese Diskussion und die Suche nach einem Umgang mit dem beschriebenen Dilemma in der Tat nicht. Und vielleicht gehöre ich nur zu der verschwindend kleinen Minderheit, die sich am beschriebenen Umgang mit der Causa Blizzard & Co. stört und mehr Konsequenz verlangt.
Vielleicht aber auch nicht. Und dieser Gedanke sollte zum Anstoß genommen werden, schleunigst wieder das Plateau zu verlassen, auf dem es sich zu viele Redaktionen gerade erst gemütlich gemacht haben.
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