Ticker

6/recent/ticker-posts

Ad Code

Responsive Advertisement

Archive of Our Own: Prüfstelle muss Indizierung von Fan-Fiction-Portal zurücknehmen

Erst setzt die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz eine große Fan-Fiction-Seite auf den Index. Nach kritischen IFG- und Presseanfragen hebt sie die Maßnahme wieder auf. Doch vom Tisch ist die Indizierung damit noch nicht.

Eine Comic-Zeichnung in rosa- und lila-Tönen, die einen jungen Menschen verkleidet als Superheld:in am Computer zeigt, im Hintergrund hängen Superhelden-Figuren von der Decke
Für Websites gibt es kein FSK-18-Logo wie für Filme, ein Fan-Fiction-Portal verschwand einfach aus den Suchergebnissen – DALL-E-2 (a teenager sitting at a desk writing on a computer surrounded by super heroes, cyberpunk art, highly detailed) / Logo: Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft

Viele Menschen staunten nicht schlecht, als sie im Dezember ihre Lieblingswebsite nicht mehr mit der Google-Suche finden konnten. Aufrufbar war die Seite noch, aber von einem Tag auf den anderen schien das beliebte Fan-Fiction-Portal archiveofourown.org aus den Ergebnissen der größten Suchmaschine gefegt worden zu sein. Erst später wurde klar, warum: Die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzKJ) hatte das Forum als kinder- und jugendgefährdend eingestuft.

Das Archive of Our Own, kurz AO3, gilt als die weltweit größte Sammlung von Fan Fiction. So nennt man fiktive Erzählungen, die aus schon bestehenden popkulturellen Stoffen gewoben werden. Fans nehmen sich die Welten und Charaktere aus Büchern, Filmen, Serien oder Videospielen und stricken darum eigene Geschichten, zum Beispiel über Superheld:innen oder im Universum von Harry Potter. Auch um Stars und historische Persönlichkeiten ranken sich Fan-Storys, von Pop-Ikone Taylor Swift bis zu Revolutionär Wladimir Lenin.

Produkt dieser Remix-Kreativität sind Millionen neuer Werke, die heute einen wichtigen Pfeiler der Digitalkultur darstellen. Insbesondere für queere Heranwachsende gilt das Medium als wichtige Sozialisationsinstanz. Fan Fiction gibt ihnen die Möglichkeit, in der Popkultur vorherrschende heteronormative Erzählungen umzuschreiben und mit unterschiedlichen Rollen zu experimentieren.

Erst eine IFG-Anfrage bringt Klarheit

Nicht selten haben Fan-Fiktionen einen sexuellen Charakter. Auch auf AO3 finden sich viele sexuell explizite Geschichten, Nutzer:innen können die Inhalte mit einem Filtersystem nach ihren Präferenzen sortieren. Als Reaktion auf die restriktive Content-Policy der meisten kommerziellen Plattformen verfolgt das Projekt einen „maximal inklusiven“ Ansatz. Immer wieder gibt es Debatten darum, wie weit dieser gehen soll. Ob es Autor:innen zum Beispiel erlaubt sein soll, Themen wie Inzest, Vergewaltigung oder Pädosexualität zu verarbeiten.

Das hat Ende 2022 offenbar die deutschen Jugendschützer:innen auf den Plan gerufen, die auf dem Portal „kinderpornografische Inhalte“ entdeckt haben wollen. So schreibt es die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz am 6. Januar in einer Antwort auf eine IFG-Anfrage, die jemand über FragDenStaat gestellt und veröffentlicht hat.

Man habe die Website archiveofourown.org mit Entscheidung vom 13. Dezember 2022 indiziert, heißt es in der Antwort. Auf den Index setzt die zur BzKJ gehörende Prüfstelle für jugendgefährdende Medien neben Filmen, Musik und Büchern auch Internetangebote, die ihrer Meinung nach die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen „oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ gefährden könnten.

“Wir wurden nicht kontaktiert“

Konkret ist das Archive of Our Own auf einer Block-Liste gelandet, auf dem sogenannten BPJM-Modul. Diese Liste kann von Routern und Jugendschutzprogrammen genutzt werden, um indizierte Inhalte für Nutzer:innen zu verbergen. Auch Suchmaschinen wie Google, die bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Multimedia-Diensteanbieter (FSM) mitmachen, nutzen das Modul, um indizierte Inhalte nicht mehr anzuzeigen.

AO3 hat mehr als fünf Millionen angemeldete Nutzer:innen. Wie viele davon in Deutschland leben, ist nicht klar, doch es gibt knapp 20.000 Beiträge mit dem Label „German“, etwa Liebesgeschichten um Tatort-Ermittler:innen.

Bei vielen AO3-Nutzer:innen in Deutschland löste die Nachricht, dass das Portal auf den Index gesetzt wurde, Unverständnis und Sorgen vor einer gänzlichen Sperrung aus. In einer Diskussion auf Reddit betonen sie die Sonderrolle von AO3 als eine der wenigen großen nicht-kommerziellen Plattformen im Internet.

Auch die Betreiberin von AO3, die gemeinnützige Organization for Transformative Works (OTW) aus den USA, ist von der Entscheidung der Bundeszentrale merklich vor den Kopf gestoßen. „Wir sind sehr enttäuscht über die Maßnahme“, schreibt uns eine Sprecherin auf Anfrage. Weder OTW noch AO3 seien von der Bundeszentrale kontaktiert worden. „Wir wissen nicht, welche konkreten Inhalte bemängelt werden oder was von uns gefordert wird, um die Indizierung rückgängig zu machen.“

Aufgehoben heißt hier nur: aufgeschoben

Die Antwort erhalten die Macher:innen des Projekts nun auf Umwegen: Sie müssen gar nichts machen, jedenfalls vorläufig. Auf eine Presseanfrage von netzpolitik.org muss die Bundeszentrale nämlich eingestehen: Sie hat bei der Indizierung Formfehler gemacht und sie deshalb am 10. Januar 2022 aufgehoben.

„Grundsätzlich sind bei Indizierungsverfahren zu Telemedien die Anbieter nach Möglichkeit anzuhören“, teilt uns eine Sprecherin der Behörde auf Anfrage mit. „Diese Anhörung ist im vorliegenden Fall nicht ordnungsgemäß erfolgt.“ Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels ist archiveofourown.org über Google-Suche zwar noch nicht wieder auffindbar, dies liegt aber vermutlich daran, dass die Aktualisierung des BPJM-Moduls und die Übertragung an die Suchmaschinen eine Weile dauern.

Zumindest für den Moment können AO3-Nutzer:innen also aufatmen. Doch die Indizierung ist laut Sprecherin der Bundeszentrale nicht vom Tisch: „Mit der Aufhebung der Entscheidung besteht nun die Möglichkeit, die Anhörung nachzuholen und dann eine erneute Entscheidung zu treffen.“

Wie hierbei die Chancen stehen, lässt sich derzeit kaum beurteilen, denn die Bundeszentrale will nicht sagen, welche Inhalte genau in Frage stehen. Sie teilt lediglich mit, dass es um „kinderpornografische Inhalte in Textform“ geht und dass in Deutschland „auch virtuelle Darstellungen und Schriften“ zu den laut Strafgesetzbuch verbotenen „kinderpornografischen Inhalte“ zählen.

Indizierung wirft Fragen auf

Die Bundeszentrale muss sich nun allerdings selbst einige unangenehme Fragen gefallen lassen. Dazu gehört die, warum es erst kritische IFG- und Presseanfragen braucht, damit die Behörde bemerkt, dass sie einen gravierenden Formfehler begangen und die Anhörung der Betroffenen vergessen hat.

Auf Fragen nach der Verhältnismäßigkeit der Indizierung der kompletten Seite antwortet die Bundeszentrale derweil nur mit allgemeinen Auskünften. Die Prüfstelle für jugendgefährdende Medien achte immer darauf, dass ihre Maßnahmen verhältnismäßig sind, schließlich sei eine Indizierung für die Anbieter:innen mit weitreichenden Konsequenzen verbunden. Darüber hinaus sei „Kern eines guten Kinder- und Jugendmedienschutzes das Kinderrecht auf Teilhabe: Kinder und Jugendliche sollen möglichst nicht von für sie relevanten Angeboten ausgeschlossen werden.“ Allerdings gebe es Fälle, bei denen die Indizierung der gesamten Seite eine verhältnismäßige Schutzoption für Kinder und Jugendliche sei.

Dass dieser Schutz auch den Betreiber:innen von AO3 ein Anliegen ist, betont die Sprecherin der Organization for Transformative Works. Man müsse zum Beispiel volljährig sein, um einen Account bei dem Forum anlegen zu dürfen. Außerdem sei das Posten oder Einbinden von Darstellungen des sexuellen Missbrauchs von Kindern, wie sie das Recht der USA definiert, strengstens verboten.

Im Original nutzt die Sprecherin hier den englischen Ausdruck „Child Sexual Exploitation Material, CSEM“, die Plattform gehe aktiv gegen derlei Inhalte vor. „Sobald uns CSEM gemeldet wird, entfernen wir die Inhalte, unternehmen Schritte gegen die Verbreiter:innen und benachrichtigen die zuständigen nationalen Behörden“, betont die Sprecherin.

Das dürfe auch die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz erfahren, sobald sie die Betreiber:innen kontaktiert. Offen bleibt, ob ihr das ausreicht.


Die Arbeit von netzpolitik.org finanziert sich zu fast 100% aus den Spenden unserer Leser:innen.
Werde Teil dieser einzigartigen Community und unterstütze auch Du unseren gemeinwohlorientierten, werbe- und trackingfreien Journalismus jetzt mit einer Spende.

Enregistrer un commentaire

0 Commentaires