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Meinungsfreiheit im Netz: Paragraf zur Volksverhetzung verschärft

Kriegsverbrechen zu leugnen, kann in Deutschland künftig strafbar sein. Das hat der Bundestag jüngst beschlossen. Werden also auch Anbieter im Netz künftig mehr Inhalte löschen? Ein Überblick.

Was bedeutet Paragraf 130 StGB für Online-Plattformen?
Auch große Social-Media-Plattformen haben Regeln gegen Volksverhetzung (Symbolbild) – Screenshot: dejure.org; Logos: Meta, TikTok, Twitter; Montage: netzpolitik.org

Volksverhetzung ist strafbar – und künftig können mehr Äußerungen darunter fallen als zuvor. Am späten Abend des 20. Oktober hat der Bundestag eine Erweiterung des entsprechenden Paragrafen im Strafgesetzbuch (§ 130 StGB) beschlossen. Erst danach begann eine Debatte in den Nachrichtenmedien.

Die Erweiterung handelt von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Eine Person kann demnach künftig bestraft werden, wenn sie solche Gräuel öffentlich billigt, leugnet oder „gröblich“ verharmlost. Strafbar ist das allerdings nur, wenn die Person damit auch zu Hass oder Gewalt aufstacheln oder den öffentlichen Frieden stören kann.

Ähnlich wurden bislang Äußerungen zu Verbrechen des NS-Regimes behandelt. Wer beispielsweise den Holocaust leugnet, macht sich strafbar. Durch die neue Erweiterung des Paragrafen fallen auch ausdrücklich entsprechende Äußerungen zu anderen Kriegsverbrechen unter Volksverhetzung. Der Gesetzgeber reagiert damit nach eigenen Angaben auf Anforderungen der EU-Kommission. Die Ampel-Fraktionen bezeichnen das nicht als Erweiterung, sondern als „Klarstellung“.

Kritik kam unter anderem von der Linken-Abgeordneten Clara Bünger, die twitterte: „In Forschung und Lehre nimmt diese Thematik so viel Raum ein und hier wird eine Nacht- und Nebelentscheidung daraus gemacht.“

Der Paragraf 130 StGB hat auch eine besondere Bedeutung für Online-Plattformen wie Facebook, Instagram, Twitter und TikTok. Denn diese Plattformen müssen Inhalte sperren oder löschen, wenn sie offensichtlich gegen diesen Paragrafen verstoßen. Dazu verpflichtet sie in Deutschland ein Gesetz namens NetzDG (Netzwerkdurchsetzungsgesetz).

Die netzpolitischen Auswirkungen des erweiterten Paragrafen 130 StGB sind dennoch eher gering. Expert*innen erwarten aus diesem Grund nicht mehr Löschungen, wie sie im Gespräch mit netzpolitik.org darlegen.

„Marginale“ Auswirkungen auf soziale Netzwerke

Marc Liesching ist Professor an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig. Der Jurist und Medienwissenschaftler hat bereits 2021 zur Anwendung des NetzDG geforscht. „Die Auswirkung auf die sozialen Netzwerke und ihre Löschpraxis wird marginal sein“, sagt Liesching über den erweiterten Paragrafen. Das liege daran, dass Anbieter Inhalte vor allem aufgrund der eigenen Richtlinien löschen – und die seien oft strenger als deutsche Gesetze. „Da spielt es keine Rolle, ob der Gesetzgeber §130 StGB etwas erweitert.“

Dennoch gebe es bei sozialen Netzwerken sogenanntes Overblocking, warnt Liesching. Overblocking nennt man es, wenn Plattformen lieber zu viel als zu wenig löschen, und damit auch legitime Meinungsäußerungen entfernen.

Ähnlich sieht das die Juristin Josephine Ballon von Hate Aid. Die Organisation setzt sich für Betroffene ein, die im Netz Ziel von Hass und Hetze werden. „Die Gefahr des Overblockings ist ernst zu nehmen“, schreibt Ballon. Sie befürchte aber kein massenhaftes Overblocking aufgrund der Gesetzesänderung – eben weil Anbieter kaum Inhalte aufgrund des NetzDG löschen, sondern sich vielmehr an den eigenen Richtlinien orientieren.

Das Justizministerium rechnet ebenso wenig mit Auswirkungen auf die Löschpraxis der Anbieter. Ein Sprecher schreibt, an den Verpflichtungen der sozialen Netzwerke nach dem NetzDG werde sich durch die Neufassung des Paragraphen nichts Wesentliches ändern. Die Tech-Konzerne Meta, Google, Twitter und TikTok haben sich auf Anfrage nicht schriftlich zu dem Thema geäußert.

Verharmlosung von Verbrechen im Ukraine-Krieg

Auch wenn die Regeln vieler Plattformen längst strenger sind – der erweiterte Paragraf hat Einfluss auf den Spielraum, den Plattformen künftig bei der Gestaltung ihrer Richtlinien haben. Zum Beispiel hat der neue Twitter-Chef Elon Musk wohl eine äußerst liberale Auffassung von Meinungsfreiheit. Falls Musk die Richtlinien von Twitter aufweichen möchte, muss er sich auch an deutschen Gesetzen zu Volksverhetzung orientieren. Michael Kubiciel, der als Professor an der Universität Augsburg zu Strafrecht lehrt, schreibt im Verfassungsblog: „Klar ist, dass der neue Tatbestand in das Grundrecht der Meinungsfreiheit“ eingreife.

Juristisch spannend wird künftig der Umgang mit verharmlosenden Aussagen über Kriegsverbrechen Russlands in der Ukraine. Die Erweiterung des Paragrafen 130 StGB werfe in der Praxis viele Fragen auf, sagt Marc Liesching. „Denn dort steht nicht drin, ob sich das Gesetz nur auf gerichtlich festgestellte Verstöße gegen das Völkerrecht bezieht. Was ist mit Aussagen wie: Das Kriegsverbrechen in Butscha sei inszeniert?“

Die Gräueltaten in der ukrainischen Stadt Butscha sind zwar umfassend belegt. Doch Verfahren etwa vor dem Internationalen Strafgerichtshof können Jahre dauern. Würde es Paragraf 130 StGB also unter Strafe stellen, diese Taten zu leugnen – oder nicht? Hierzu gibt es noch keine klare Antwort. Dem Fachmagazin „Legal Tribune Online“ sagte der zuständige FDP-Berichterstatter Thorsten Lieb, diese Antwort müssten die Gerichte geben.

Kubiciel schreibt: „Gerade weil es aber häufig an gerichtsfesten Tatsachenfeststellungen fehlen wird, dürfte es deutschen Strafrichtern schwerfallen, während eines andauernden Kriegsgeschehens Feststellungen zu treffen, die eine Strafbarkeit nach § 130 Abs. 5 StGB begründen.“

HateAid-Juristin Ballon richtet ebenso den Blick auf den Ukraine-Krieg: „Ich erwarte, dass die Änderung hier im deutschsprachigen Raum aktuell vor allem im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine relevant wird.“ Es könne sein, dass Plattformen mehr Meldungen von Inhalten erhalten, die den Krieg oder Kriegshandlungen verharmlosen. Grundsätzlich hätte sich Ballon eine transparente öffentliche Anhörung oder wenigstens eine öffentliche einsehbare Gesetzesbegründung gewünscht. „Die Gesetzesänderung hat auch uns überrumpelt“.


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