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Elon Musk: Twitter-Übernahme wird zum Präzedenzfall für Plattformregulierung

Die Twitter-Übernahme durch Elon Musk ist besiegelt. Damit übernimmt einer der reichsten Menschen der Welt die relevanteste Plattform für die digitale Öffentlichkeit – und kann zukünftig die Regeln definieren. Das wirft zahlreiche Fragen auf: Ist die Plattformregulierung der EU auf diesen Fall vorbereitet? Und wie reagieren wir Nutzer:innen darauf?

Das Twitter-Profil von Elon Musk auf einem Smartphone, im Hintergrund Musks Gesicht
Was genau hat Elon Musk mit Twitter vor? – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / NurPhoto

Elon Musk hat Twitter gekauft – oder in Musks Worten „den Vogel befreit“. Dass der neue, selbsternannte „Chief Twit“ den 44-Milliarden-Deal besiegeln würde, hatte sich in dieser Woche gleich mehrfach angekündigt. Bereits am Mittwoch schleppte der exzentrische Milliardär medienwirksam ein Waschbecken in die Unternehmenszentrale und erklärte sich auf seinem Twitter-Account schon zum Chef. Und gestern veröffentlichte er einen offenen Brief an die Werbekunden des Unternehmens, in dem er um Vertrauen für seinen Kurs warb.

Damit macht der Multi-Milliardär seine Ankündigung aus dem vergangenen April wahr – die ich schon damals kritisch kommentierte: Dass er die in zahlreichen Staaten wichtigste und relevanteste Plattform für den öffentlichen Diskurs übernehmen und alleine kontrollieren werde. Diese Übernahme stellt jedoch nicht nur aus demokratietheoretischer Sicht eine große Gefahr für unsere Öffentlichkeit dar – auch wenn es zwischenzeitlich so aussah, als ob Musk sein Übernahmeangebot aufgrund sinkender Börsenwerte zurückziehen wollte und viele auch hofften, es habe sich bei alledem nur um einen seiner üblichen Bluffs gehandelt.

Ebenfalls gestern wurde im Amtsblatt der Europäischen Union der Gesetzestext für das Digitale-Dienste-Gesetz veröffentlicht. Beide Ereignisse hängen eng zusammen. Denn es stellt sich die Frage, ob die neuen EU-Regeln zur Plattformregulierung („Plattform-Grundgesetz“) auf Musks Twitterübernahme vorbereitet sind und eine solche Machtkonzentration durch demokratische Institutionen überwacht, kontrolliert und begrenzt werden kann. Hier stellen sich leider bei näherer Betrachtung viele Fragezeichen!

Was genau Musk mit Twitter vorhat, ist immer noch unklar.

Er wolle, dass Twitter ein globaler Debatten-Marktplatz bleibe, wo in gesunder Weise unterschiedliche Perspektiven und Meinungen verhandelt werden, so Musk gegenüber Werbekunden. Sein eigenes Twitterverhalten spricht nicht unbedingt dafür, dass er das ernst meint. Er könnte in seinem persönlichen Kommunikationsverhalten auch mit gutem Beispiel vorangehen und ein Vorbild für andere sein.

Möglicherweise will er ältere Pläne einer globalen Messenger-App mit Bezahlmöglichkeiten nach Vorbild des chinesischen WeChat umsetzen, über die er in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder öffentlich nachgedacht hat. Dabei könnte er auf die vorhandene Nutzerbasis von Twitter aufbauen. Oder er will etwas ganz anderes. Zumindest gelang es ihm, 44 Milliarden US-Dollar aus der eigenen Tasche, von Banken, Freund:innen und Geschäftspartner:innen zu organisieren.

Vier relevante Aspekte

Unabhängig davon, was Musk auch plant, sind mindestens vier verschiedene Aspekte schon jetzt relevant:

  1. Code is law! Wer die Kommunikationsstrukturen kontrolliert, die wir nutzen, hat die Macht, unsere Kommunikation zu lenken, zu manipulieren und andere Realitäten zu schaffen. Wer überprüft das für die Öffentlichkeit?
  2. Wer klickt was und wer interessiert sich wofür? Diese Daten liegen in Twitters Datenzentren und sind in der Hand eines Geschäftsmanns wie Musk viel Geld wert. Mit diesen Daten kann man bestimmte Meinungen verstärken und Diskurse lenken. Wie vertrauenswürdig aber wird Twitter zukünftig noch für die Organisation von Gewerkschaftsprotesten gegen Tesla sein? Oder für investigative Journalist:innen, die rund um das vielfältige Geschäftsgebaren von Musk recherchieren?
  3. Wie kann Twitter wieder inklusiver und ziviler werden? Immer mehr Nutzer:innen verlassen Twitter, weil sie sich dort nicht länger wohl fühlen. Das hat möglicherweise auch Musk erkannt. Wird Twitter wieder zu einem Ort, wo sich viele wohlfühlen, dafür aber durch Content-Moderation eingegriffen werden muss? Oder setzen sich die Lautesten und Stärksten durch und beißen alle anderen Meinungen weg, wie es sich Anhänger:innen der (extremen) Rechten wünschen und oft praktizieren? Musks Aussagen sind da sehr divers, je nach Laune und Tageszeit. Content-Moderation kostet, was aber auch im Widerspruch zu Musks angekündigten Plänen steht, 75 Prozent der Belegschaft kündigen zu wollen. Bereits jetzt reagiert Twitter überaus träge auf Beschwerden, etwa wenn Nutzer:innen-Accounts grundlos gesperrt werden. Weniger Personal bedeutet noch mehr Automatisierung bei der Content-Moderation mit noch mehr Problemen. Das kann so nicht funktionieren.
  4. Twitter als geopolitisches Instrument. Musk ist mit unterschiedlichen Unternehmen wie Tesla global auf vielen Märkten unterwegs. Die Übernahme von Twitter könnte ihm auch dazu dienen, auf bestimmten Märkten mit den jeweiligen repressiven Regimen bessere Deals zu machen – nach dem Motto, hier ein paar Nutzer:innendaten von Oppositionellen, dafür etwas weniger Steuern für Tesla-Verkäufe. Wie ernst es Musk mit der freien Meinungsäußerung als Menschenrecht meint, von der er immer wieder erzählt, wird sich auch in dieser Frage zeigen.

Kommen wir zu den neuen Regeln zur Plattformregulierung.

Das Digitale-Märkte-Gesetz (DMA) definiert sogenannte Gatekeeper, für die es eine besondere Marktaufsicht durch die Europäische Union geben muss. Dazu wird Twitter im Gegensatz zu Amazon, Apple, Google, Meta und wenigen anderen nicht gehören. Denn laut Definition braucht es dafür 7,5 Milliarden Euro Jahresumsatz in der EU und einen Marktwert von 75 Milliarden Euro. Twitter ist dafür zu klein. Die viel wichtigeren Regeln für diesen Fall finden sich im Digitale-Dienste-Gesetz (DSA), wo es weniger um Marktkonzentration geht als vielmehr um einheitliche Regeln für Inhalte-Regulierung.

Die Europäische Union definiert im DSA Online-Plattformen als sogenannte VLOPs („Very large Online-Platforms“), wenn sie in der EU mehr als 45 Millionen monatliche Nutzer:innen haben. Für sie gelten dann Extra-Regeln zur Aufsicht, die direkt über die Europäische Kommission erfolgt und durch die beaufsichtigten Unternehmen durch jährliche Extragebühren refinanziert wird. Für kleine Plattformen gelten weniger strenge Regeln und ist vor allem eine zersplitterte Aufsicht in den Mitgliedsstaaten vorgesehen. In Deutschland läuft das auf die Bundesnetzagentur sowie Arbeitskreise mit Landesmedienanstalten und weiteren Regulierungsbehörden hinaus. Ist Twitter jetzt ein VLOP mit besonderer Aufsicht und Extra-Regeln?

Wie viele Nutzer:innen hat Twitter in der Europäischen Union?

Hier wird es interessant. Denn Twitter kommuniziert diese Zahlen nicht bzw. nicht mehr. Auf Anfrage teilt die Pressestelle mit, dass man 237,8 Millionen „monetizable daily active users“ habe, davon 41,5 Millionen in den USA. Alle weiteren nutzerstarken Märkte lägen außerhalb der EU. Auch spricht das Unternehmen von täglichen Nutzer:innen, die monetarisiert werden.

Das schließt Tweetdeck-Nutzer:innen aus (die freundlicherweise von Werbung verschont bleiben, zukünftig aber vielleicht für Premium-Accounts zahlen müssen). Und dann gibt es noch eine unbekannte Anzahl an Menschen, die in Nachrichtenseiten eingebettete Tweets lesen oder ohne eingeloggt zu sein auf Twitter.com klicken. Der Digital Services Act spricht explizit von monatlichen Nutzer:innen und bezieht damit alles ein (Erwägungsgrund 77) – also auch jeden Klick auf einen Artikel, in dem ein Tweet eingebettet ist. Das könnten insgesamt mehr als 45 Millionen Nutzer:innen sein. Oder auch nicht. Diese Zahlen gesichert zu ermitteln, sollte der erste Schritt der EU-Kommission nach Inkrafttreten des DSA im Frühjahr 2023 sein.

Möglicherweise diente ein Nebenschauplatz der Übernahme – die Vermutung von Musk, dass Twitter zahlreiche Bot-Nutzer habe – der Vorbereitung dafür, die Zahlen künstlich unter die magische 45-Millionen-Grenze zu bringen, um so einer strengeren Regulierung zu entgehen.

Was bedeutet es, wenn Twitter ein VLOP ist?

Ein Teil der Regeln des DSA gelten für alle Plattformen. Musk darf seine eigenen Inhalte, und dazu zählt auch Tesla, nicht bevorzugen. Unklar ist aber, wie man das überprüft und vor Gericht durchsetzen kann. Für VLOPs gelten Extraregeln, die tatsächlich zu den Errungenschaften des DSA gelten. Ganz vorne steht hier der Datenzugang für Forschende und Regulierungsbehörden. Noch ist alles, was auf den großen Plattformen passiert, eine Blackbox.

Die demokratische Öffentlichkeit ist bisher auf Whistleblower:innen angewiesen, um Informationen aus dem Maschinenraum zu erhalten und zu überprüfen, ob all das auch stimmt, was die Presseabteilungen der Unternehmen behaupten. Viele Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen jedoch klar, dass eine demokratische Öffentlichkeit darauf nicht vertrauen darf. Mit dem Recht auf Datenzugang können zertifizierte Forschende, aber auch Organisationen wie Algorithmwatch künftig besser für die Öffentlichkeit überprüfen, ob die PR-Angaben auch stimmen.

Dazu werden für VLOPs jährliche Risikobewertungen und unabhängige Audits verpflichtend. Die EU-Kommission könnte eine Aufsichtsgebühr verlangen und sogar auf dem Gelände eines Unternehmens Inspektionen durchführen. Bisher schreiben Regulierungsbehörden Briefe auf dem Verwaltungsweg und warten auf schriftliche Antworten.

Es ist also ein großer Unterschied, ob Twitter mit seiner Funktion als relevanteste Plattform für den öffentlichen Diskurs hierzulande oder anderswo diesen VLOPs-Sonderregeln unterliegt!

Die EU-Kommission ist da zuversichtlich. Nach Verabschiedung des DSA erklärte der EU-Kommissionsvizepräsident Thierry Breton, dass Twitter „sich vollständig an die europäischen Regeln anpassen“ müsse. Na was denn sonst? Die Kernfrage lautet aber, ob Twitter den VLOPs-Regeln unterliegt und ob diese von der Europäischen Union richtig verabschiedet worden sind, um für diesen Präzedenzfall auch geeignet zu sein. Oder ob für Twitter die laxeren Regeln gelten wie für kleinere, weniger bedeutende Plattformen. Je mehr ich mich mit den Details beschäftige, um so pessimistischer werde ich.

Bleibt die Frage, wie Twitter-Nutzer:innen jetzt reagieren sollen. Wohin können wir fliehen?

Ich bin da ehrlich gesagt auch überfragt. Seit 15 Jahren ist Twitter für mich die relevanteste Plattform. Mein persönlicher Account ist so kuratiert, wie ich mir mein Informationsmenü vorstelle. Es gibt auch wenig Alternativen. Facebook ist zurecht zu einem Datenfriedhof geworden, wo längst vergessene Schulfreunde ihre Babyfotos posten. LinkedIn ersetzt immer mehr Facebook in seiner früheren Funktion, ist aber durchsetzt von Business-Bullshit-Bingo und Selbstvermarktung.

Instagram und TikTok sind beliebter, aber für mich und meinen Medienkonsum ist kurzer Text mit Links einfach relevanter als Bilder und Videos, wo Personen sich inszenieren. Ich mag vor allem eine chronologische Timeline, die ich kontrollieren kann. Und die bietet im Moment nur Twitter. Und wo nicht algorithmische Entscheidungssysteme mir die ganze Zeit noch Katzenvideos in die Timeline kippen, nur weil ich einmal den Fehler gemacht habe, ein solches zu liken. Telegram kommt für mich überhaupt nicht in Frage, ich vertraue dem Unternehmen noch weniger als einem von Elon Musk geführtem Twitter.

Wie kommen wir zu besseren Alternativen?

Bleiben dezentrale Alternativen im Fediverse wie Mastodon. (Hier ist mein Account, hier ist der Redaktions-Feed). Dort ist man leider weitgehend mit Nerds unter sich. Wie schön könnte die Welt sein, wenn es für alle Plattformen gut funktionierende und einfach zu nutzende Clients gäbe und meine ganze Twitter-Timeline mit mir hinüberwechseln würde. Aber Letzteres passiert leider nicht – auch weil Ersteres nicht vorliegt. Und dieses „Henne-Ei-Problem“ haben wir schon seit Ewigkeiten. Trotzdem gibt es hier von uns eine gute Erklärung für den Einstieg in Mastodon.

Seit Jahren weisen wir darauf hin, dass dies auch dem Versagen einer mangelhaften Förderpolitik geschuldet ist, die gemeinwohlorientierten Open-Source-Infrastrukturen weniger Unterstützung bietet als Startups, die auf bunten Powerpoint-Folien die Marktführerschaft versprechen und bald darauf tot sind.

Aber vielleicht irren wir uns alle und Twitter wird mit Musk zu jenem Ort, den er gerade in blumigen Worten verspricht. Und vielleicht liege ich falsch mit meiner Einschätzung und die Europäische Union reguliert Twitter als VLOP und schafft eine strenge, effiziente und demokratisch legitimierte Kontrollaufsicht. Aber wir müssen damit rechnen, dass das auch der Anfang vom Ende für Twitter sein kann.

Deshalb sollten wir die Zeit nutzen, dezentrale, offene und datenschutzfreundliche Infrastrukturen zu verbessern und jene nachhaltigen Ökosysteme aufzubauen, in die wir und unsere Twitter-Timeline schlimmstenfalls hin wechseln könnte. Andernfalls haben wir, wenn alles schlechter wird, tatsächlich das Problem, was Musk gerade durch seine Übernahme angeblich verhindern will: eine weitere Zersplitterung der Öffentlichkeiten.


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