Was wird aus Telegram? Die Querdenken-Proteste ebben ab und der Messenger übermittelt Daten an deutsche Ermittler:innen. Doch Verschwörungsgläubige und Rechtsextreme formieren sich neu. Ein Interview mit Telegram-Beobachter Josef Holnburger.
Für viele ist Telegram einfach nur eine WhatsApp-Alternative – auch wenn keiner der beiden Messenger ein Musterschüler in Sachen Privatsphäre ist. Doch für eine radikalisierte Minderheit ist Telegram die Plattform schlechthin, um sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen. Auch in den kommenden Monaten wird Telegram eine wichtige Rolle spielen, wie Josef Holnburger erklärt.
Seit März 2020 verfolgt der Political Data Scientist im Detail, wie sich Verschwörungsgläubige und Rechtsextreme auf Telegram treffen und radikalisieren, aufgeheizt durch Hass gegen Corona-Maßnahmen. Insgesamt beobachtet Holnburger rund 3.500 aktive, öffentliche Gruppen und Kanäle. Eingebettet ist seine Forschung ins Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS). CeMAS veröffentlicht eigene Analysen, stellt aber auch Daten für journalistische Recherchen zur Verfügung, beispielsweise der Süddeutschen Zeitung.
Auch die deutsche Politik hat Telegram im Blick. Monatelang hat die Bundesregierung versucht, Kontakt zum sonst sehr verschlossenen Telegram-Team aufzunehmen. Seit Anfang September ist bekannt, dass Telegram Daten an deutsche Ermittlungsbehörden weitergibt. Nach NDR-Recherchen sei das in 25 Fällen geschehen.
Im Interview brerichtet CeMAS-Geschäftsführer Holnburger, was die jüngsten Entwicklungen für Radikalisierung auf Telegram bedeuten – und welche Themen Rechtsextreme und Verschwörunsgläubige als nächstes aufgreifen.
netzpolitik.org: Josef, in den ersten zwei Jahren der Pandemie gab es teils gewalttätige „Querdenken“-Proteste gegen Abstandsregeln, Masken und Impfungen. Welche Funktion hatte Telegram dabei?
Josef Holnburger: Telegram hatte eine große Relevanz für das verschwörungsideologische und rechtsextreme Milieu. Wenn man in dem Milieu eine Rolle spielen wollte, musste man auf Telegram vertreten sein. Dort wurden Demos geplant, Fahrten zu Demos organisiert und Redebeiträge gesammelt. Es war die Plattform Nummer eins für Mobilisierung und Logistik. Prominente des Milieus hatten dort mehr als 100.000 Abonnent:innen.
netzpolitik.org: Du siehst in Verschwörungsgläubigen und Rechtsextremen ein gemeinsames Milieu?
Josef Holnburger: Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, sind der Auffassung, dass es eine kleine Gruppe gibt, die einen illegitimen und bösartigen Zweck verfolgt und zur Vertuschung einen umfassenden Machtapparat nutzt. Was diese Auffassung widerlegt, gilt als Teil der vermeintlichen Verschwörung. So werden Betroffene immun gegen Argumente. Rechtsextreme nutzen gezielt Verschwörungserzählungen, um Menschen für ihre Ideologie zu gewinnen. Die Personen hinter der vermeintlichen Verschwörung sind hierbei meist das Feindbild der Rechtsextremen: Linke, Frauen, Jüdinnen und Juden, Migrant:innen.
„Harten Kern aus einer niedrig sechsstelligen Zahl an Menschen“
netzpolitik.org: In den Nachrichten ist die Corona-Pandemie derzeit kaum noch Thema. Verliert sie auch auf Telegram an Bedeutung?
Josef Holnburger: Ja, mit Covid-19 lassen sich nur noch wenige Menschen mobilisieren. Warum gegen Corona-Maßnahmen demonstrieren, wenn es kaum noch welche gibt? Es gibt bundesweit weniger Querdenken-Demos, zu denen immer weniger Leute kommen. Im Milieu macht sich Frust breit. Die Aufrufzahlen der Beiträge in den Gruppen und Kanälen auf Telegram stagnieren oder gehen leicht zurück.
netzpolitik.org: Was heißt das in Zahlen?
Josef Holnburger: Es gibt einen harten Kern aus einer niedrig sechsstelligen Zahl an Menschen, die im Milieu auf Telegram immer noch täglich aktiv sind. Die meist geteilten Nachrichten haben nach wie vor 100.000 bis 150.000 Aufrufe am Tag.
netzpolitik.org: Haben sich manche Leute wieder de-radikalisiert?
Josef Holnburger: Schwer zu sagen, das lässt sich empirisch kaum feststellen. Wir sehen zwar, dass Nutzer:innen einige Gruppen und Kanäle löschen. Es gibt dann aber kein öffentliches Eingeständnis, dass man sich geirrt hätte. Aus der Forschung wissen wir, dass Deradikalisierung lange dauert. Es ist besonders schwer, Betroffene wieder aus dem Verschwörungsglauben herauszubekommen. Das schaffen oft nur Menschen aus dem direkten Umfeld. Deshalb konzentriert sich ein großer Teil der Beratungsangebote darauf, das Umfeld mit Rückhalt und Tipps zu stärken. Solche Angebote sind zum Beispiel Veritas und Programme der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus.
„Keine geeignete Alternative zu Telegram in Sicht“
netzpolitik.org: War die Klimakrise durch den heißen, trockenen Sommer ein Thema auf Telegram?
Josef Holnburger: Die Klimakrise spielt immer eine Rolle. Noch stärker war das im vergangenen Jahr nach der Hochwasserkatastrophe im Ahrtal. Aufhänger hierbei sind oft Erzählungen, dass vermeintliche Verschwörer durch Klimaschutzprogramme die globale Wirtschaft zerstören wollen.
netzpolitik.org: Bislang haben sich Rechtsextreme und Verschwörungsgläubige auf Telegram sicher gefühlt. Jetzt ist bekannt, dass Telegram auch Daten an deutsche Ermittlungsbehörden weitergibt. Wie reagiert das Milieu darauf?
Josef Holnburger: Ich hätte gedacht, die Reaktion würde deutlicher ausfallen und Nutzer würden das stärker diskutieren. Das passiert aber nur zum Teil. Ein Grund dafür könnte sein, dass sich das Milieu auf Telegram inzwischen eingerichtet hat und keine geeignete Alternative zu Telegram in Sicht ist. Manche Plattformen wie Gettr bringen sich zwar in Stellung, es hat aber noch keine die Nase vorn.
Einzelne rechtsterroristische Gruppen haben Telegram verlassen, das liegt aber auch an der verstärkten Strafverfolgung dieser Gruppen innerhalb der vergangenen Monate in Deutschland. Andere Verschwörungsgläubige glauben einfach nicht, dass Telegram wirklich Daten an deutsche Behörden weitergibt. Sie denken, der deutsche Staat hätte das erfunden, um Menschen von Telegram wegzubringen.
„Rechtsextreme setzen auf Gas- und Energiekrise im Herbst“
netzpolitik.org: Ist es eigentlich bahnbrechend, dass Telegram nun auf Anfragen deutscher Behörden reagiert?
Josef Holnburger: Ich finde es nicht bahnbrechend. Es ist zwar der Gründungsmythos von Telegram, dass die Plattform niemals mit Behörden zusammenarbeite. Es gibt aber Beispiele, die das widerlegen. So gab es schon Austausch mit Europol, als die Terrororganisation „Islamischer Staat“ stark auf Telegram vertreten war. Und während der Parlamentswahl in Russland 2021 hat Telegram den Spenden-Bot des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny geblockt, wohl auf Druck der russischen Regierung.
netzpolitik.org: Welche Themen werden das Milieu auf Telegram in den nächsten Monaten beschäftigen?
Josef Holnburger: Es gibt einige unbekannte Variablen, etwa, wie sich der Krieg in der Ukraine entwickelt. Aber wir sehen, dass sich Rechtsextreme auf Telegram auf die Gas- und Energiekrise im Herbst vorbereiten. Sie wollen die Krise ausnutzen, um Menschen für Straßenproteste zu mobilisieren.
„Proteste demokratisch auffangen“
netzpolitik.org: Was schätzt du, wie erfolgreich wird die Mobilisierung sein?
Josef Holnburger: Sobald die erhöhten Energiepreise auf den Rechnungen der Leute auftauchen, steigt das Potenzial für Mobilisierung. Wir erwarten, dass lokale Proteste stärker werden, etwa sogenannte Spaziergänge. Ich hoffe, dass demokratische Akteure die Proteste auffangen, also Parteien, Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen.
Es ist wichtig, Menschen mit ihren existenziellen Ängsten aufzufangen, damit sie gar nicht erst in die Fänge von rechtsextremen Ideologien geraten. Wenn demokratische Akteure solche Demos tragen und ihre Forderungen umgesetzt werden, können sie Verschwörungsideologen und Rechtsextreme durch klare Abgrenzung schwächen.
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