Um sich gegen die anlasslose Vorratsdatenspeicherung zu wehren, sind Menschen nicht nur vor Gericht gezogen. Ab 2006 gab es jede Menge Protest auf der Straße. Mit weißen Kitteln, schwarzen Kapuzen, Bierkästen und einem gemeinsamen Ziel vor Augen. Eine Sammlung von Erinnerungen.
„Es wird sicherlich nicht die letzte Aktion gewesen sein“, steht im Wiki des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat) zur ersten Demo gegen die anlasslose Datenspeicherung und andere Überwachungsmaßnahmen. Das war im Jahr 2006, vor über 16 Jahren. Die mittlerweile gekippte EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung war damals gerade in Kraft getreten. Und die Demo-Organisator:innen aus dem Umfeld des AK Vorrat sollten Recht behalten. Denn nach der Protestaktion mit etwa 250 Teilnehmer:innen folgten weitere. Schon 2008 kamen mehr als 100 Mal so viele Menschen zu den Anti-Überwachungsprotesten unter dem Motto „Freiheit statt Angst“.
Am heutigen Dienstag hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass auch die jüngste deutsche Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung rechtswidrig ist. Und auch wenn es mittlerweile so wirkt, als ob der Streit um die anlasslose massenhafte Datensammlung vor allem in Gerichtssälen ausgetragen wird: In der Geschichte der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland gab es nicht nur Aktenberge, Klagen, Verfassungsbeschwerden und juristische Auslegung.
Der Kampf gegen das Überwachungsinstrument begann auf der Straße und hat dort viele Aktivist:innen geprägt, die sich bis heute auf ganz unterschiedlichen Wegen und in verschiedenen Institutionen für digitale Freiheitsrechte einsetzen.
Ein Bierkasten und ein paar Flyer
Einer von ihnen ist der Jurist Patrick Breyer. Mittlerweile ist er Abgeordneter im EU-Parlament für die Piratenpartei, immer noch beschäftigt er sich intensiv mit Überwachungsthemen, aktuell etwa mit der auf EU-Ebene geplanten Chatkontrolle. Für ihn war die Demo 2006 auch so etwas wie der Auftakt seines Engagements gegen Überwachung. Mit der Vorratsdatenspeicherung beschäftigte er sich schon vorher, 2004 promovierte er zum Thema. „Dass Juristen den Schreibtisch verlassen und selbst auf die Straße gehen, ist vielleicht nicht immer so. Aber für mich war das Engagement im AK Vorrat eine Möglichkeit, ganz praktisch etwas zu tun“, sagt Breyer gegenüber netzpolitik.org.
Er erinnert sich gern an die erste Demo von 2006, auch oder vielleicht gerade, weil damals vieles noch improvisiert war: „Ich weiß noch, dass wir schnell eine Bühne organisieren mussten für die Reden. Wir haben dann einfach einen Bierkasten umgedreht und uns draufgestellt“, erzählt Breyer. „Und dann rollte da padeluun auf seinen Inline-Skates vorbei.“
Ein Bild, das viele kennen dürften, die Demos gegen Überwachungsmaßnahmen besucht haben, denn padeluun war auf jeder Menge davon und ist schon seit vielen Jahren für Bürgerrechte aktiv. Er und Rena Tangens hatten schon 1987 den FoeBuD mitgegründet, der mittlerweile Digitalcourage heißt. Beide engagieren sich auch heute noch für eine lebenswerte digitale Welt.
Wenn sie an die damaligen Demos denken, erinnern sie sich vor allem daran, wie das Thema ganz unterschiedliche Gruppen zusammengebracht hat. Mehr als 160 Organisationen hätten in einem der Jahre zum Protest aufgerufen, so Rena Tangens und padeluun. „Nicht nur klassische Bürgerrechtsorganisationen, sondern so unterschiedliche wie Gewerkschaften, Ärzteverbände, Jugendorganisationen, Parteien von FDP, Grünen, Piraten bis zur Linken, Journalisten-Verbände, Amnesty International, der antikapitalistische Block, die AIDS-Hilfe und die evangelische Telefonseelsorge.“
Schwarze Kapuzen und weiße Kittel
Das Thema traf einen Nerv der Zeit. Ganz viele hatten aus ganz unterschiedlichen Gründen Probleme damit, dass es immer mehr Überwachungsgesetze geben sollte. Es gab viele Themen, die bewegten: Videoüberwachung, Staatstrojaner, die generelle Versicherheitlichung in der Politik nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Der Protest gegen die Vorratsdatenspeicherung aber war immer ein wichtiger Teil der Proteste. „Mit dem Thema Vorratsdatenspeicherung haben wir viele Menschen mobilisiert, die sich vorher wenig in Politik engagiert haben“, schreiben Rena Tangens und padeluun. Doch auch wenn ein gemeinsames Ziel die unterschiedlichen Gruppen einte, ganz reibungslos war es nicht immer.
Die beiden Datenschutzaktivist:innen rufen sich ein Planungstreffen ins Gedächtnis, bei dem es um die Wagenreihung bei einer Demo gehen sollte. Es gab Ärger. „Die Partei Die Linke wollte auf keinen Fall direkt vor dem antikapitalistischen (schwarzen) Block laufen“, schreiben sie. Doch offenbar hatten andere weniger Bedenken. Ausgerechnet die Liberalen erklärten sich bereit: „Schließlich sagten die FDPler, dass sie als dezidiert kapitalistische Partei da keine Berührungsängste hätten und bereit wären, vor dem schwarzen Block zu laufen.“ Am Ende gab es aber noch eine andere Lösung, so padeluun und Rena Tangens: „Schließlich haben wir dann noch einen ‚weißen Block‘ organisiert, der sich dort eingereiht hat: Die Ärztinnen und Ärzte, die in ihren weißen Kitteln zur Demo kamen.“
Die gemeinsame Demonstration unter dem Motto „Freiheit statt Angst“ entwickelte sich zum größten Datenschutzprotest seit der Volkszählung in den achtziger Jahren. In den Hochzeiten der Demonstration in den Jahren 2007 bis 2009 kamen zehntausende Menschen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen und politischen Gruppen zusammen, um gegen staatliche Überwachung zu protestieren.
Einer, der sich auch schon seit Ewigkeiten mit dem Thema Vorratsdaten und Überwachung beschäftigt, ist Ralf Bendrath. Seit vier Jahren ist er Referent für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres der Fraktion Grüne/EFA im Europäischen Parlament. Früher war er gelegentlich auch Autor bei netzpolitik.org. Die anlasslose Datenspeicherung beschäftigt ihn schon seit 2004, als die EU begann, über eine entsprechende Richtlinie zu diskutieren.
Auch er war 2007 auf der Demo in Berlin. Direkt danach flog der Politikwissenschaftler zur internationalen Konferenz nach Montreal. Dort trafen sich Datenschutzbeauftragte aus vielen Ländern. Dass die Demo im fernen Deutschland recht groß geworden war, kam offenbar auch bei den internationalen Datenschützer:innen an. Und damit offenbar eine gewisse Verwunderung, wie man mit oft abstrakten Datenschutz-Themen Menschen zum Straßenprotest bringen kann.
Sie baten Bendrath, einen Vortrag zu halten, schreibt er. Der Titel: „How to build a privacy movement“. Es gab nur ein Problem: „Weil eine kanadische Behörde die Konferenz ausrichtete, mussten alle Publikationen, inklusive Vortragsfolien, zweisprachig englisch-französisch sein.“ Bendrath sprach kein französisch. Die Lösung: „Dann gab es halt nur Bilder.“
Livestream auf der CeBIT
Doch die deutsche Datenschutz-Bewegung ging nicht nur auf die Straße, sie griff auch zu juristischen Mitteln. An Silvester 2007 ging eine Verfassungsbeschwerde gegen die damaligen deutschen Vorratsdatenspeicherungsregeln am Karlsruher Bundesverfassungsgericht ein. Zu den Beschwerdeführer:innen gehörte auch Patrick Breyer.
Bis zu einer Entscheidung dauerte es, und als das Gericht 2010 die damalige deutsche Vorratsdatenspeicherung tatsächlich kippte, war Ralf Bendrath gerade auf der CeBIT. Er wollte den Livestream des Bundesverfassungsgerichts schauen, musste dafür aber mit einem Kollegen die Menschen am heise-Stand aufscheuchen, schreibt er. „Gejubelt haben sie dann aber genau wie wir, als das deutsche VDS-Gesetz weg war.“
2010 war auch für Katharina Nocun ein prägender Moment in ihrer persönlichen Vorratsdatenspeicherungsgeschichte. Sie nahm damals an einer Konsultation zur Reevaluation der EU-Richtlinie in Brüssel teil. „Das hat mich, gelinde gesagt, politisch traumatisiert“, schreibt Nocun. „Wir waren extra mit zahlreichen anderen Akteuren der Zivilgesellschaft nach Brüssel gereist und hatten vorab einen Bericht zu Missbrauchsfällen der Vorratsdaten in unterschiedlichen EU-Mitgliedsstaaten vorbereitet.“ Doch sie hatte nicht das Gefühl, dass ihre Informationen ernstgenommen wurden.
Die EU-Kommission hatte zu der eintägigen Konferenz geladen. Dabei waren neben Vertreter:innen der Zivilgesellschaft auch Unternehmen wie Microsoft oder Ermittlungsbehörden. Es sollte eine offene Diskussion sein, die schließlich ein jähes Ende fand.
„Jetzt erst recht!“
„Am Ende gab es eine Rede der damaligen Kommissarin Cecilia Malmström“, schreibt Nocun. „Sie sagte: ‚Data retention is here to stay‘“. Die Vorratsdatenspeicherung ist gekommen, um zu bleiben. Der Enttäuschung von Katharina Nocun folgte Wut, erinnert sie sich. „Und am Ende hat es mich noch mehr motiviert, mich im Arbeitskreis gegen Vorratsdatenspeicherung zu engagieren. Nach dem Motto: Jetzt erst recht!“
Dass es sich lohnen kann, immer wieder und jetzt erst recht gegen unverhältnismäßige Überwachungsgesetze zu kämpfen, zeigt das heutige Urteil aus Luxemburg. Für diesen Kampf braucht es alle: die engagierten Anwält:innen, die verfassungswidrige Gesetze vor Gericht bringen, die Bürgerrechtler:innen, die unermüdlich für Freiheitsrechte kämpfen, und all die Menschen auf der Straße, die den Protest weitertragen.
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