Endlich kommt die KI, die uns vorm Ertrinken rettet. Ein Pilotprojekt in einem Münchner Schwimmbad zeigt: Badespaß und Überwachung sind kein Widerspruch. Nichts vermittelt Badegästen mehr Sicherheit als smarte Kameras. Eine Glosse.
Ein Pilotprojekt in München könnte dem unhaltbaren Zustand in deutschen Schwimmbädern ein Ende bereiten. Manche Menschen fühlen sich beim Baden unwohl, weil sie nicht wissen, ob sie gerade jemand von oben bis unten abcheckt. Diese Unsicherheit wird im Münchner Südbad nun ausgeräumt. Dort überwachen jetzt acht Kameras jede Schwimmbewegung. So gibt es endlich keinen Zweifel mehr, dass man permanent aus jedem Winkel beobachtet wird.
Eine Software soll erkennen, ob Badegäste gerade ertrinken. Sie untersucht die Kamerabilder in Echtzeit, erkennt Körper, Köpfe und Gliedmaßen und untersucht die Bewegungsmuster der Schwimmenden. Aufgrund dieser Fähigkeiten bezeichnet der Anbieter Lynxight die Software nicht nur als Künstliche Intelligenz, sondern auch als Superkraft.
Vermutet die KI verdächtiges Verhalten, vibriert eine selbstverständlich wasserdichte Smartwatch am Handgelenk der Bademeister:innen. Auch in Wiesbaden kommen diese Superkräfte schon zum Einsatz.
Das Ganze ist eine schon vom Grundsatz her durch und durch schlaue Idee, bei der praktisch nichts schiefgehen kann. Menschen beherrschen ab Geburt eine astreine Kraulschwimmtechnik und gleiten durchs Wasser wie Speere. Unbeholfenes Herumschaufeln oder gar Planschen und Toben sind in Schwimmbädern die absolute Ausnahme. Die KI wird keinerlei Probleme haben, hilfesuchende Badegäste von anderen zu unterscheiden.
Menschen fühlen sich auch generell besser, wenn sie wissen, dass jede falsche Regung einen Alarm auslösen könnte. Der von der KI definierte Normalbereich unproblematischen Verhaltens ist wie ein freundliches Korsett, in das man sich mit einem Seufzer der Erleichterung einfügen kann. Schwimmbäder sind und bleiben ein Ort der Entspannung.
Edward Snowden war nur kalt
Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, ist die KI noch in der „Lernphase“ und arbeitet „nicht fehlerfrei“. Demnach schlägt sie schon Alarm, wenn sich jemand absichtlich nicht bewegt und bloß im Wasser sonnt. Darüber kann und muss man allerdings wohlwollend hinwegsehen. Erst einmal spricht es für die KI, wenn sie regungslose Menschen für bewusstlos hält, denn bewusstlose Menschen bewegen sich nicht. Die KI beherrscht Logik.
Na gut, manch ein Badegast möchte vielleicht schon gerettet werden, während er noch zappelt. Aber wenn die KI in der „Lernphase“ ist, muss man Abstriche machen. Möchte man Fünfjährigen das Schwimmen beibringen, muss man sie bekanntlich auch einfach ins kalte Wasser werfen. 60 Tage soll es dauern, bis die KI durch Feedback der Bademeister:innen eingelernt ist.
Vor allem ist die Überwachung von Badegästen eine finanzielle Entlastung. Die israelische Firma Lynxight rechnet vor: Die medizinische Erstbehandlung für eine fast ertrunkene Person könne laut Website bei 75.000 US-Dollar aufwärts liegen. Die Überwachung eines Pools mit Lynxight kostet im Monat nur 800 Dollar. Es wäre geradezu zynisch und respektlos gegenüber verunglückten Menschen, wenn man da nicht seine Geldbörse öffnet.
Die Privatsphäre der Badegäste ist durch die permanente Kamera-Überwachung von Lynxight selbstverständlich gewährleistet. Daran lässt die Firma keinen Zweifel. Für die Überwachung brauche man bloß Kameras und WLAN. Die KI lerne permanent aus einer weltweiten Datenbank. Es war noch nie verkehrt, großzügig internetfähige Kameras zu verteilen. Leute, die ihre Laptopkamera abkleben, tun das nicht aus Sorge vor heimlicher Beobachtung. Sie wollen in Wahrheit immer einen Post-It zur Hand haben. Und als sich Edward Snowden damals die Decke über den Kopf geworfen hat, um am Laptop zu hantieren, da war ihm kurz kalt.
Gefahrenzone Gartenteich
Es gibt zudem keinen Anreiz, Kameras zu hacken, die Menschen in Badesachen filmen, darunter Kinder und Jugendliche. Freizügige Aufnahmen nichts ahnender Personen sind im Internet praktisch wertlos und werden dort auch nicht verbreitet. Wenn etwas im Netz millionenfach geklickt wird, dann ja wohl die Internationale Presseschau des Deutschlandfunks und natürlich der Netzpolitische Wochenrückblick von netzpolitik.org.
Beim Schwimmen fühlt man sich frei und leicht, und ein ähnliches Gefühl vermittelt Lynxight seinen Kund:innen bei der Wahl ihrer Überwachungskameras. Hier möchte die Firma offenkundig niemanden bevormunden. Sie bezeichnet ihr Produkt als „Hardware-agnostisch“ und toleriert alle Kamera-Modelle. Das heißt, auch die hinterletzte Billo-Kamera ohne Sicherheits-Updates mit dem Passwort „admin“ sollte klargehen, um Badegäste zu filmen.
Bleibt zu hoffen, dass bald noch mehr Gewässer mit Lynxight geschützt werden. An der Stelle muss dieser Text leider erstmalig ernste Kritik äußern. Hier wurde wirklich etwas geschludert. Laut DLRG sind im Jahr 2021 sieben Menschen in deutschen Schwimmbädern ertrunken. Viel gefährlicher sind Bäche (acht Tote) und Teiche (elf Tote). Da hätte man andere Prioritäten setzen müssen. Teich-Besitzer:innen sollten schnellstmöglich nachrüsten und ausreichend Kameras aufstellen, die Bewegungsprofile von Karpfen, Seerosen und Libellen in die sichere Cloud schicken.
Die Arbeit von netzpolitik.org finanziert sich zu fast 100% aus den Spenden unserer Leser:innen.
Werde Teil dieser einzigartigen Community und unterstütze auch Du unseren gemeinwohlorientierten, werbe- und trackingfreien Journalismus jetzt mit einer Spende.
0 Commentaires