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Europäischer Gerichtshof: Kontrollen an Schengen-Grenzen dürfen nicht beliebig verlängert werden

Das Bild zeigt ein Schild mit der Aufschrift "Bundesrepublik Deutschland", davor verscwommen ein Polizeiabzeichen an einem Ärmel.
Die Bundesregierung hat ihre 2015 an der Grenze zu Österreich eingeführten Kontrollen abermals verlängert. Bundespolizei

Dass es an ihren Binnengrenzen keine Kontrollen mehr gibt, wird gern als die größte Errungenschaft der Europäischen Union gepriesen. Vor allem zur Migrationskontrolle haben viele Länder jedoch von der Möglichkeit zur zeitweisen Wiedereinführung Gebrauch gemacht und diese Regelung teilweise dutzendfach verlängert. Dies widerspricht dem EU-Recht, urteilte vergangene Woche der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg.

Die Klage geht auf den österreichischen Staatsbürger N.W. zurück, der bei einer Kontrolle an der slowenischen Grenze in Österreich seinen Reisepass nicht vorzeigen wollte und dafür nach einem Gerichtsurteil eine Geldbuße zahlen sollte. In einer zweiten Rechtssache focht W. das Urteil an. Das zuständige Landesverwaltungsgericht Steiermark übergab die Angelegenheit deshalb dem EuGH zur Vorabentscheidung. Nun müssen sich die Gerichte in Österreich abermals damit befassen.

Reaktion auf „Arabischen Frühling“

Österreich gehörte zu den sechs Ländern, die angesichts hoher Flüchtlingszahlen auf der sogenannten Balkanroute seine Landgrenzen seit 2015 wieder kontrollieren. Möglich ist dies durch eine Neufassung des Schengener Grenzkodex (SGK) zwei Jahre zuvor. Ein neu eingeführter Artikel 29 erlaubt seit 2013 die zeitweise Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen für zunächst sechs Monate.

Die EU-Mitgliedstaaten reagierten damit auf den sogenannten „Arabischen Frühling“. Nach dem Sturz ihrer Diktatoren hatten etwa Libyen und Tunesien die Kontrollen ihrer maritimen Grenzen vernachlässigt. Daraufhin versuchten Tausende Menschen auch aus anderen afrikanischen Ländern, das Mittelmeer mit Booten zu überqueren und in der EU Asyl zu beantragen.

Viele der Geflüchteten reisten nach ihrer Ankunft in Italien nach Frankreich weiter. Diese „Sekundärbewegungen“ führten zu Spannungen zwischen den beiden Staaten. Die Regierung in Paris verfügte die Schließung der südlichen Landgrenze zu Italien, während Rom von der EU einen solidarischen Mechanismus für die Asylsuchenden forderte.

Regierungen finden neue Anlässe

Der daraufhin neu gefasste Schengener Grenzkodex sah eine Verlängerung des Kontrollzeitraums auf maximal zwei Jahre vor. Voraussetzung ist, dass der EU-Ministerrat mehrheitlich eine „systematische Gefährdung“ der Schengen-Zone anerkennt. Ein solcher Beschluss erging Anfang 2016 angesichts steigender Zahlen ankommender Geflüchteter in Griechenland. Anschließend hatten Deutschland, Österreich, Dänemark, Schweden und Norwegen die an einigen ihrer Landgrenzen eingeführten Kontrollen darauf gestützt.

Möglich ist die mehrmonatige Wiedereinführung und Verlängerung der Kontrollen aber auch aus anderen Anlässen. Nach mehreren Anschlägen begründete dies etwa Frankreich mit einer anhaltenden terroristischen Bedrohung. Viele andere Staaten haben ihre Grenzen auch wegen Gesundheitsrisiken im Zuge der Corona-Pandemie geschlossen, nur Finnland hält heute noch daran fest.

Nachdem Deutschland, Österreich und die drei nordischen Staaten die dreifache Kettenverlängerung der Kontrollen zur Migrationskontrolle ausgeschöpft hatten, bedienten sie sich ab 2018 einer neuen Rechtfertigung. Die Regierungen behaupteten fortan eine „ernste Bedrohung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit“ und beriefen sich dabei auf den Artikel 25 des Kodex. Österreich erkannte ab 2019 außerdem ein Risiko organisierter Kriminalität, dem schloss sich später auch Dänemark an.

Bundesregierung verlängert Kontrollen bis November

Der Gesamtzeitraum, innerhalb dessen Kontrollen nach Artikel 25 SGK an den Binnengrenzen wiedereingeführt werden können, beträgt jedoch höchstens zwei Jahre. Dies hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofes nun in ihrem Urteil bekräftigt. Demnach ist die Verordnung hinsichtlich der Dauer der Kontrollen sehr eng auszulegen. Selbst die einmalige Verlängerung wegen derselben Bedrohung verstößt demnach gegen das EU-Primärrecht.

Es ist unklar, wie die Länder auf das Urteil reagieren. Deutschland hat den Kontrollzeitraum zwei Wochen vor dem Urteil des EuGH für die bayerisch-österreichischen Grenze um weitere sechs Monate verlängert, ebenso Dänemark.

Raphael Bossong, der für die Stiftung Wissenschaft und Politik eine Studie zur Umsetzung des Schengener Grenzkodex verfasst hat, sieht die Bundesregierung auf Anfrage von netzpolitik.org in der Pflicht. Die Vorabentscheidung belege „eindeutig, dass die Binnengrenzkontrollen, die auch fünf weitere Schengen-Staaten seit 2016 aufrechterhalten, spätestens seit Ende 2017 nicht hinreichend begründet sind, bzw. gegen den Schengen-Kodex verstoßen“. Dies gelte insbesondere für Grenzkontrollen zur vermeintlichen „Wahrung der öffentlichen Ordnung“.

„Schleierfahndung“ statt Kettenverlängerungen?

Und nun? Eigentlich müsste die EU-Kommission als „Hüterin der EU-Verträge“ tätig werden und die sofortige Rücknahme der Kontrollen verlangen. Bislang ist jedoch keine öffentliche Stellungnahme aus Brüssel bekannt.

Im Dezember hat die EU-Kommission einen Entwurf zur Reform des Grenzkodex vorgelegt, der zur Zeit von den Mitgliedstaaten im Rat beraten wird. Weiterhin ist darin von bis zu drei Kettenverlängerungen der Binnengrenzkontrollen die Rede.

Zwar werden die Anforderungen dafür höher gelegt. Jedoch enthält der Entwurf auch Vorschläge für „alternative“ Maßnahmen, darunter den allgemeinen Ausbau der polizeilichen Zusammenarbeit und gezielte Polizeikontrollen an den Binnengrenzen, wie sie in Deutschland seit vielen Jahren als „Schleierfahndung“ üblich sind.


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