Die Europäische Union steht vor dem Beschluss einer Verordnung, die europaweit einheitliche Regeln für Online-Dienste wie Instagram, TikTok und eBay schaffen soll. Verhandler:innen der EU-Kommission, der Mitgliedstaaten und des Parlaments einigten sich nach einem 16-stündigen Verhandlungsendspurt in Brüssel auf einen fertigen Text für das Digitale-Dienste-Gesetz. Er soll noch vor dem Sommer endgültig beschlossen werden.
Das „Plattformgrundgesetz“ ist das digitale Leuchtturmprojekt der EU-Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen. Der heute vereinbarte Gesetzestext sei „historisch, sowohl in der Geschwindigkeit [der Verhandlungen] als auch in seinem Inhalt“, sagte von der Leyen. Das Gesetz soll faire Bedingungen für europäische Nutzer:innen und Firmen gegenüber Plattformkonzernen wie Google, Amazon und Apple schaffen. Bereits vor einigen Wochen einigten sich Verhandler:innen auf das Digitale-Märkte-Gesetz, nun ist auch der zweite Teil des Zwillingsvorhabens fertig.
Im seinem Kern soll das Gesetz europaweit einheitliche Standards für den Umgang mit illegalen Inhalten im Netz schaffen. Besondere Auflagen macht es sogenannten „sehr großen Plattformen“ wie Google, Facebook oder Amazon. Sie müssen mit Strafen von bis zu sechs Prozent ihres globalen Umsatzes rechnen, wenn sie systematisch die Bestimmungen des Digitale-Dienste-Gesetzes verletzten – im Fall von Apple wären das nach Vorjahresumsatz rund 20 Milliarden Euro.
Auflagen für Plattformen
Das Digitale-Dienste-Gesetz macht Plattformen eine ganze Reihe von Auflagen:
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Wer Dienste für Nutzer:innen anbietet, muss Prozesse für das Melden illegaler Inhalte (Notice & Action) schaffen. Solche Möglichkeiten gibt es auf großen Plattformen wie Instagram oder TikTok längst – künftig müssen diese aber unabhängige Beschwerdemöglichkeiten schaffen, wenn Nutzer:innen Einspruch gegen Entscheidungen zum Löschen oder Sperren von Inhalten einlegen.
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Das Digitale-Dienste-Gesetz schafft eine europaweit einheitliche Verpflichtung, auf Anordnung von Behörden illegale Inhalte zu entfernen oder darüber Informationen herauszugeben. Auch müssen Plattformen den Behörden melden, wenn Inhalte den Verdacht auf kriminelle Aktivitäten wecken. Eine Überwachungspflicht ist jedoch nicht vorgesehen.
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Um illegale Inhalte systematisch aufzuspüren, können Behörden den Status eines „Trusted Flaggers“ an Verbraucherorganisationen oder NGOs verleihen. Diese können Plattformen über deren Meldesystem Inhalte von Dritten melden, die diese dann unverzüglich behandeln sollen.
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Wer auf Handelsplattformen wie eBay Waren verkauft, soll sich ihnen gegenüber identifizieren (Know-your-customer-Prinzip). Diese müssen bei den Plattformen künftig verpflichtend Informationen wie Namen, Adressen, Ausweiskopien und Bankdaten hinterlassen. Damit soll gegen Produktfälschungen und Betrug vorgegangen werden.
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Plattformen erhalten Transparenzauflagen. Der Einsatz automatisierter Tools wie Uploadfiltern für die Moderation von Inhalten muss etwa offengelegt werden, auch müssen die Plattformen regelmäßig Berichte über die Zahl der ungerechtfertigt gelöschten oder gesperrten Inhalte und Konten veröffentlichen. Offenlegen sollen die Plattformen zudem, von wem eine bestimmte Werbung stammt, die Nutzer:innen angezeigt wird, sowie Angaben über das Targeting.
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Sehr große Plattformen sollen regelmäßig öffentliche Risikoeinschätzungen über die Ausbreitung illegaler Inhalte, systematische Grundrechtsverletzungen oder gezielte Desinformation vorlegen sowie mögliche Gegenmaßnahmen. Zu diesen zählt die EU-Kommission etwa gestärkte Inhalte-Moderation, Algorithmenänderungen oder Werbeverbote für bestimmte Inhalte. Kommt eine unabhängige Prüfung zu dem Schluss, dass die Plattformen keine ausreichenden Gegenmaßnahmen wählen, dann kann die EU Korrekturen vorschlagen und bei Nicht-Erfüllung Strafen androhen. In Krisenfällen wie einem Kriegsausbruch oder einer Pandemie kann die EU-Kommission zudem eine außerordentliche Überprüfung bisheriger Risikoeinschätzungen einfordern.
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Behörden können bei großen Plattformen einen Datenzugang für Forscher:innen anordnen. Damit will die EU bessere wissenschaftliche Erkenntnisse zu Problemen wie Hassrede und Desinformation ermöglichen. Auf die Bedeutung von solchen Daten für die Forschung hatte zuletzt etwa die Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen hingewiesen.
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Für die Durchsetzung der neuen Regeln liegt die Verantwortung sowohl bei der EU-Kommission wie bei den Mitgliedstaaten. Während bei der Datenschutzgrundverordnung die Verantwortung auch für Konzerne ausschließlich bei der Behörde im EU-Sitzland liegt, soll die EU-Kommission direkt für die Durchsetzung des neuen Gesetzes gegenüber sehr großen Plattformen verantwortlich sein. Auf nationaler Ebene sollen Koordinatoren für digitale Dienste den Anbietern auf die Finger schauen.
Zuletzt umstritten waren bei den Verhandlungen noch gewisse Detailfragen, etwa zu Beschränkungen für personalisierte Werbung. Das EU-Parlament hat außerdem ein gänzliches Verbot sogenannter Dark Patterns gefordert, also von Designelementen, die Nutzer:innen zu einer bestimmten Entscheidung verleiten sollen. Der Rat der EU-Staaten wollte ein solches Verbot jedoch nur beschränkt einführen – damit dürfte er sich nach Angaben von Teilnehmer:innen durchgesetzt haben. Offen war auch die Frage, inwiefern Kleine und Mittlere Unternehmen (KMUs) von manchen Bestimmungen ausgenommen sein sollen. Ein konsolidierter Text der Einigung soll erst in einigen Wochen vorliegen.
Pirat Breyer kritisiert „verwässerte“ Werbebeschränkungen
Nach dem Abschluss der Verhandlungen lobten Teilnehmende das Ergebnis. „Der heutige Kompromiss verbessert den Vorschlag der EU-Kommission deutlich“, sagte der Linken-Ko-Fraktionsvorsitzende Martin Schirdewan. „Personalisierte Werbung für Minderjährige und die Verwendung von sensiblen Daten werden verboten. Das ist ein großer Erfolg für den Schutz von Nutzer:innen, auch wenn ein komplettes Verbot von personalisierter Werbung wünschenswert wäre.“
Die Einigung kritisierte hingegen der Piraten-Abgeordnete Patrick Breyer. Das vom Parlament geforderte Verbot, sensible Persönlichkeitsmerkmale wie die politische Meinung, Krankheiten oder sexuelle Vorlieben eines Nutzers zur gezielten Manipulation und Ansprache zu nutzen, sei „stark verwässert“ worden. „Die Bezeichnung ‚Digitales Grundgesetz‘ verdient das neue Regelwerk insgesamt nicht, denn der enttäuschende Deal versagt vielfach beim Schutz unserer Grundrechte im Netz.“
Als nächster Schritt ist eine Abstimmung über die Endfassung des Digitale-Dienste-Gesetzes im EU-Parlament und im Rat der EU-Staaten fällig. Passiert dies noch vor der Brüsseler Sommerpause, könnte das Gesetz noch dieses Jahr in Kraft treten.
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