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Telegram: Einfach abschalten ist nicht

Nancy Faeser im Seitenprofil und ein Telegramlogo
Innenministerin Faeser (SPD) nimmt Telegram ins Visier (Symbolbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / photothek, Bearbeitung: netzpolitik.org

In einem Interview mit der Zeit sagt Bundesinnenministerin Nancy Faeser, dass man es nicht ausschließen könne, den Messengerdienst Telegram als „Ultima Ratio“ abzuschalten. Auf dem Dienst verbreiten Querdenker:innen Verschwörungsfantasien, Mordaufrufe gegen Politiker:innen finden Beifall. Doch genauso tauschen Familien Urlaubsfotos aus und Oppositionelle in autoritär regierten Ländern organisieren demokratischen Protest.

Deutsche Behörden gehen bereits gegen Telegram vor, besser gesagt: Sie versuchen es. Es gibt Bußgeldverfahren gegen den Betreiber, der strafbare Inhalte nicht löscht, obwohl die zuständigen Stellen davon ausgehen, der Dienst wäre nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz dazu verpflichtet. Doch Telegram reagiert nicht, eine deutsche Kontaktstelle für die Behörden – Fehlanzeige. Ist es demnach überhaupt möglich, den Messenger in Deutschland oder in der EU abzuschalten? Und wie ginge das? Da die Entwickler:innen offiziell von Telegram in Dubai sitzen, werden wohl kaum deutsche Polizeibeamt:innen vorbeikommen können, um den Stecker zu ziehen.

Hilflose Netzsperren

Was die Innenministerin offenbar als letztes Mittel andeutet, ist eine Sperre des Messengers. Damit könnte der Dienst für Nutzer:innen bei deutschen Internetanbietern nicht mehr erreichbar sein. Auf ähnlichem Weg hatte Russland im Jahr 2018 versucht, Telegram einzuschränken und ist krachend gescheitert. Zum einen lassen sich die Sperren von den Nutzer:innen umgehen, in dem diese VPNs nutzen, mit denen man ganz einfach aus einem anderen Land auf den Dienst zugreift. Zum anderen wechselte Telegram während der Maßnahme selbst ständig die IP-Adressen und griff auf Datencenter von Google und Amazon zurück.

Russland blockierte daraufhin immer mehr. Die Folge: Insgesamt mehr als 16 Millionen IP-Adressen sollen letztlich nicht erreichbar gewesen sein. Doch auf diesen kommunizierte nicht nur der in Ungnade gefallene Messengerdienst. Auch das Kreml-Museum und Supermärkte nutzten die Adressen – und waren erstmal weg vom Browserfenster. Am Ende nahm Russland die Sperre blamiert zurück.

Warum eine Sperrung von Telegram auch juristisch schwierig wäre, hat Julia Reda ausführlich erklärt: „Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat derartige Sperrungen von Internetdiensten, die wahllos auch legale Inhalte treffen, mit dem Verbot einer Zeitung oder eines Fernsehsenders verglichen und als grundrechtswidrig ausgeschlossen.“ Die umstrittenen Netzsperren wurden in Deutschland bisher bei Seiten diskutiert, die vorwiegend illegale Inhalte zugänglich machten.

Rausschmiss aus den App-Stores?

Eine weitere Möglichkeit, die Nutzbarkeit von Telegram zu erschweren, haben Google und Apple als Betreiber der großen App-Stores in der Hand. Sie können Anwendungen aus ihren Stores werfen, wenn die sich nicht an die Regeln der Unternehmen halten. Dazu gehört: Die App-Betreiber müssen sich an die Gesetze der jeweiligen Länder halten. Fliegt die App aus den Angeboten der großen Konzerne, dürfte das ihre Reichweite empfindlich einschränken. Weg wäre sie damit jedoch lange nicht: Die App kann für Android auch von Telegram direkt heruntergeladen werden, daneben gibt es Versionen für den Desktop und eine Web-Oberfläche.

Die einzige mutmaßliche Reaktion auf den politischen Druck, der seit Monaten zunimmt, ist eine punktuelle Sperre von Verschwörungskanälen und -gruppen durch Telegram selbst. Recherchen von netzpolitik.org zeigen, dass Telegram derzeit gegen manche Inhalte aus der deutschen Verschwörungsszene vorgeht. Gruppen lassen sich nicht öffnen, Kommentare in Kanälen werden nicht angezeigt. Es handelt sich bisher offenbar um Einzelfälle. Betroffen sind mindestens sechs Kanäle und Gruppen aus der Verschwörungsszene. Die Einschränkungen gelten nur für Nutzer:innen, die Telegram aus dem Google Play Store oder dem App Store von Apple heruntergeladen haben. Wer Telegram aus anderen Quellen bezieht oder etwa auf dem Laptop nutzt, kann die eingeschränkten Inhalte weiterhin sehen.

Die Bundesregierung ist in der Telegram-Frage in einer Zwickmühle. Die Drohung Faesers von der Abschaltung bleibt damit vor allem eins: ein Druckmittel. Auf Telegram selbst, auf diejenigen, die Telegram in ihren App-Stores anbieten und Infrastruktur bereitstellen, und nicht zuletzt auf die Nutzer:innen. Denn wenn der Familien-Messenger mit den Urlaubsfotos täglich negativ als kriminelle Plattform in den Schlagzeilen ist, dann geht man vielleicht doch lieber woanders hin.


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