Viel fürs Neue Jahr vorgenommen hat sich Emmanuel Macron. Denn der französische Präsident stellt sich am 10. April 2022 nicht nur der Wiederwahl, sondern mit Jahresbeginn übernimmt er auch für sechs Monate den rotierenden EU-Ratsvorsitz. In der Zeit leiten französische Diplomat:innen die Sitzungen der EU-Staaten, Frankreich führt außerdem für den Rat die Verhandlungen mit Kommission und Parlament über endgültige Texte für neue Gesetze. Ab Juli 2022 übernimmt dann Tschechien, wo die Piratenpartei als kleiner Koalitionspartner an der Regierung ist.
Ein Plattformgrundgesetz bis zum Sommer
Als digitalpolitische Priorität für die kommenden sechs Monate nennt Macron das Digitale-Dienste- und Digitale-Märkte-Gesetz. Die beiden Zwillingsverordnungen sollen Grundregeln für die digitale Welt schaffen und die Macht großer Plattformen wie Google, Amazon und Apple beschränken. Damit werde Europa zur globalen Vorreiterin, sagt Macron. Frankreich möchte beide Gesetze bis zum Sommer fertigverhandeln, sie könnten dann noch 2022 in Kraft treten.
Die EU-Staaten und das Parlament gehen mit stark verschiedenen Positionen in die Verhandlungen. Der Rat möchte bei keiner der beiden Verordnungen grundlegenden Änderungen am ursprünglichen Vorschlag der EU-Kommission. Hingegen hofft das Parlament darauf, durch das Digitale-Märkte-Gesetz soziale Netzwerken und Messenger-Diensten zur Interoperabilität verpflichten. Das heißt, diese sollen den Austausch von Nachrichten und Posts mit anderen Diensten zulassen. Kommission und Rat wollen das nur bei „Nebendienstleistungen“ wie Zahldiensten und Identitätsprüfungen vorschreiben. Im Digitale-Dienste-Gesetz drängt das Parlament auf einen stärkeren Schutz von Nutzer:innen vor Online-Tracking, für Kontroverse sorgten im Vorfeld auch einzelne Bestimmungen wie ein Quasi-Verbot von anonymen Uploads auf Porno-Plattformen.
Neue Regeln für Wahlwerbung und Informationsmüll
Bei der Regulierung von Online-Plattformen will die Europäische Union außerdem mit zwei Spezial-Gesetzen ansetzen. Eine Verordnung soll eine Kennzeichnungspflicht für politische Werbung einführen, die sowohl online auf Plattformen wie Facebook und YouTube als auch offline gilt. Mit dem Vorschlag der Kommission sollen sich in den kommenden Monaten Rat und Parlament befassen, sie soll dann rechtzeitig vor der nächsten Europawahl 2024 wirksam sein.
Um besser gegen illegale Wahlbeeinflussung und Falschnachrichten vorzugehen, arbeitet die EU-Kommission zugleich auch an einer Überarbeitung des Verhaltenskodex gegen Desinformation. Diesem haben sich seit 2018 Unternehmen wie Facebook, Google, TikTok und Twitter angeschlossen. Die Plattformen liefern etwa regelmäßig Berichte zu Desinformation über Covid-19 ab. Doch die Überarbeitung ist ins Stocken geraten, die Vorstellung eines neuen Kodex wurde zuletzt auf März 2022 verschoben. Hintergrund ist laut dem französischen Medium Contexte ein Streit zwischen Zivilgesellschaft und Digitallobby darüber, ob die neuen Regeln schärfer sein und auch Sanktionsmöglichkeiten enthalten sollen.
Eine KI-Verordnung aus der Feder von Axel Voss
Große Schritte nehmen will die EU auch bei der geplanten Verordnung zur Regulierung von Künstlicher Intelligenz. Die Kommission hat vorgeschlagen, hochriskante Anwendungen genehmigungspflichtig zu machen, bestimmte Anwendungen möchte sie gänzlich verbieten. Für Streit sorgt allerdings, dass vorliegende Vorschlag kein gänzliches Verbot biometrische Videoüberwachung an öffentlichen Orten vorsieht, diese soll in „wenigen, eng definierten Ausnahmefällen“ weiter erlaubt sein – ein Zugeständnis an zahlreiche EU-Staaten, die auf solche Überwachungsmaßnahmen setzen.
Im EU-Parlament zeichnet sich für die kommenden Monate ein heftiger Streit um die eigene Position ab. Die größte Fraktion, die Europäische Volkspartei, hat als ihren Verhandler Axel Voss bestellt – einen CDU-Abgeordneten, der in der heftigen Auseinandersetzung um die EU-Urheberrechtsreform als Chefunterhändler des Parlaments die Wünsche der Rechteinhaber durchsetzte. Voss‘ starke Rolle bei der Gestaltung des KI-Gesetzes sorgt für Bedenken unter linken Abgeordneten, da Voss und seine Fraktion nach Berichten „in jedem Fall verhindern wollen“, dass das Parlament den Entwurf verschärft – will heißen, darin einen stärkeren Grundrechteschutz verankert. Die Debatte in den zuständigen Ausschüssen für Binnenmarkt und für Justiz und Inneres dürfte heiß geführt werden, eine Einigung auf ein fertiges Gesetz kann sich daher auf unbestimmte Zeit hinziehen.
Mehr Privatsphäre oder Chatkontrolle?
Baustellen hat die EU weiterhin beim Thema Datenschutz. Die lange erwartete ePrivacy-Verordnung soll eigentlich die Privatsphäre bei der Online-Kommunikation stärken. Doch nach jahrelangem Trödeln hat der Rat der EU-Staaten im Frühjahr 2021 eine Version vorgelegt, die den Schutz von Nutzer:innen schwächt und obendrein neue Hintertüren für die Vorratsdatenspeicherung einbaut. Aufgrund der großen Differenzen zwischen der privatsphärefreundlichen Version das Parlaments und der Ratsposition laufen die Verhandlungen über ein endgültiges Gesetz schleppend, eine Einigung im Laufe des Jahres 2022 ist aber zumindest möglich.
Ebenfalls erwartet wird unterdessen in den kommenden Monaten ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Frage, ob Verbandsklagen gegen Facebook wegen Datenschutzverletzungen zulässig sind. Solche Klagen könnten Facebook – und anderen Konzerne – teuer zustehen kommen.
Parallel schuf die EU im Vorjahr eine Ausnahme aus der alten, derzeit noch gültigen ePrivacy-Richtlinie, um Diensten wie Facebook das massenhafte Durchleuchten privater Nachrichten auf mögliche Kindesmissbrauchsinhalte zu erlauben. Ihr will die EU-Kommission einen Vorschlag für ein neues Gesetz folgen lassen, das Diensteanbietern das Durchleuchten von Inhalten auf den Endgeräten vor der Verschlüsselung verpflichtend vorschreibt. Die Überwachungstechnologie ist als als Client-Side-Scanning bekannt, Kritiker:innen wie der EU-Abgeordnete Patrick Breyer sprechen in diesem Zusammenhang von „Chatkontrolle“. Geplant ist ein Kommissionsvorschlag für verpflichtendes Scannen von Inhalten für Anfang kommenden Jahres.
Von Hintertüren und Vorratsdaten
Auch mit weiteren Vorschlägen für Überwachungsgesetzen wir im neuen Jahr gerechnet. Seit längerem fordert der EU-Innenrat eine Möglichkeit für Strafverfolgungsbehörden und Geheimdienste, auf verschlüsselte Nachrichteninhalte zugreifen zu können. Das sorgt für schwere Bedenken von Menschenrechtsorganisationen und EU-Abgeordneten, die vor einer globalen Schwächung für sichere Kommunikation und damit einer Einschränkung der Meinungsfreiheit warnen. Allen Einwänden zum Trotz ist laut geleakten EU-Dokumenten ein Gesetzesvorschlag für den Zugriff auf verschlüsselte Inhalte im Laufe des Jahres 2022 geplant. Genauere Details dazu sind bislang nicht bekannt.
Eine Comeback könnte auch die umstrittene Vorratsdatenspeicherung haben. Telekommunikationsdienstleister sollen verpflichtet werden, Daten über die Kommunikation ihrer Kundschaft für eine bestimmte Zeit zu speichern und auf Anfrage den Behörden verfügbar machen. Eine solche Verpflichtung zur anlasslosen und massenhaften Speicherung von Verkehrsdaten ist wiederholt vom Europäischen Gerichtshof gekippt worden, in den kommenden Monaten soll der EuGH erneut über einen deutschen Fall entscheiden. Doch Bedenken zum Trotz gibt es neue Überlegungen der EU-Kommission, wie eine Vorratsdatenspeicherung doch wieder eingeführt werden soll. Ob und wann genau damit zu rechnen ist, ist noch ungewiss.
Von Identitäten und Sicherheitslücken
Einen europaweiten digitalen Identitätsnachweis hat die EU-Kommission vor einigen Monaten angekündigt. Eine neue EU-Verordnung soll den Flickenteppich nationaler eIDs durch eine einheitliche Lösung ersetzen. Technische und organisatorische Details ließ die EU-Behörde allerdings vorerst offen, sie sollen bis September 2022 nachgeliefert werden. Datenschützer:innen pochen darauf, dass die Nutzung der eID freiwillig bleiben und hohe Privatsphärestandards erfüllen müsse. Auch müsse freie, quelloffene Software zum Einsatz kommen.
Für die zweite Jahreshälfte plant die EU-Kommission den European Cyber Resilience Act. Das Gesetz soll angesichts eine Welle an Ransomware-Attacken und anderer IT-Sicherheitsprobleme gemeinsame Standards zum Schutz von internetfähigen Geräten schaffen. Wie genau das aussehen soll, und ob das auch ein Umdenken bei absichtlich vom Staat offengehalteten Sicherheitslücken für Staatstrojaner bedeutet, lässt die Kommission fürs Erste offen.
Vom Ladegerät zur Handy-Werkstätte
Elektronische Geräte sollen künftig nachhaltiger werden. Mehr als ein Jahrzehnt nach der ersten Ankündigung möchte die EU einheitliche Ladegeräte mit gleichen Ladeanschlüssen für alle Smartphones und andere Geräte durchsetzen. Dadurch sollen jährlich viele Tonnen Elektromüll gespart werden, praktischer ist es obendrein. Doch insbesondere Apple, das mit Lightning einen eigenen Ladeanschluss entwickelt hat, wehrt sich dagegen und warnt vor einem „Innovationshemmnis“. Die Debatte darüber wird nun im EU-Parlament und im Rat der EU-Staaten ausgetragen, eine Einigung auf ein fertiges Gesetz ist im Laufe des Jahres wahrscheinlich.
Handys haben in Deutschland eine durchschnittliche Lebensdauer von nur zweieinhalb Jahren, obwohl Konsument:innen sich länger haltbarere Geräte wünschen würden. Um das zu ändern, hat die EU-Kommission ein Recht auf Reparatur für elektronische Geräte angekündigt, eigentlich sollte ein Vorschlag schon 2021 vorgelegt werden. Doch inzwischen ist das Vorhaben auf die zweite Jahreshälfte 2022 verschoben, erst dann legt die Kommission ihren Gesetzesvorschlag vor. Umwelt-NGOs hoffen, dass er ambitioniert ausfällt. Das Ziel müsse sein, Handys zehn Jahre lang nutzen zu können – damit könne der Klimafußabdruck unserer Handy-Sucht deutlich gesenkt werden.
Beim Thema Transparenz machen die europäischen Institutionen zaghafte Schritte nach vorne. Das Informationsfreiheitsgesetz der EU ist inzwischen 20 Jahre alt, am liebsten würde es EU-Kommissionsvizechefin Věra Jourová gänzlich überholen. Doch weil es dafür keine politischen Mehrheiten gebe, werde sie zumindest für ihre Behörde neue Leitlinien für den Dokumentenzugang vorlegen.
Darin soll auch ein Thema geregelt werden, vor dem sich die Kommission bislang drückt: Den Umgang mit SMS und Nachrichten auf WhatsApp, Signal und Co. Denn obwohl in Brüssel viele wichtige Deals übers Handy laufen, hat die Kommission bislang keine einzige solche Nachricht archiviert. In der Frage hat netzpolitik.org eine Beschwerde bei der EU-Ombudsfrau Emily O’Reilly eingelegt. Konkret geht es um SMS-Nachrichten von Ursula von der Leyen mit dem Pfizer-Chef Albert Bourla. Bislang will die EU-Kommission nicht einmal auf die Frage antworten, ob die Nachrichten überhaupt existieren. O’Reilly soll nun entscheiden, ob ein Fehlverhalten der Kommission vorliegt.
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