Science-Fiction-Blockbuster wie „Matrix“ bedienen sich eines gängigen Motivs: Die Protagonist:innen tauchen in eine virtuelle Parallelwelt ein. Das Motiv ist älter als das World Wide Web selbst. Auch der Autor Neal Stephenson erschuf mit seinem Roman „Snow Crash“ eine zweischichtige Welt aus der analogen Realität und der des Metaversums, einer Mischung aus Internet und Computer-Rollenspiel, in dem sich Avatare der Protagonist:innen treffen. Für den Charakter Hiro in „Snow Crash“ ist das eine willkommene Abwechslung zur dystopischen Realität: „Wenn man in einem Drecksloch lebt, gibt es immer noch das Metaversum, und im Metaversum ist der Protagonist Hiro ein Kriegerprinz.“
Nach gut drei Jahrzehnten ist diese Erzählung keine pure Fantasie mehr, sondern der Ausgangspunkt für die nächste zukunftsträchtige Vision des Silicon Valleys. Facebook arbeitet nach Angaben seines Gründers Mark Zuckerberg daran, in den kommenden Jahren ein echtes Metaversum zu schaffen. Es soll ein Online-Raum werden, in dem physische, erweiterte und virtuelle Realitäten zusammenkommen. Das bedeutet, Menschen können einen individuellen Avatar schaffen, ein Abbild der realen Benutzer:in. Mit diesem können sie im virtuellen Raum shoppen, spielen, sich verabreden und Live-Events besuchen. Das Metaversum ist dabei nicht von der analogen Welt abgekapselt, sondern legt sich vielmehr wie eine zweite Ebene über sie. Das heißt, die Nutzer:innen können jederzeit in diesen geteilten Online-Raum eintauchen.
Zwischen Virtueller Realität und vager Utopie
Heutzutage gelangen wir über Apps in sozialen Netzwerke wie Facebook oder Twitter. In naher Zukunft sollen wir zusätzlich durch bestimmte Hardware, etwa einer Augmented-Reality-Brille, Zugang zu dem Metaversum haben. Der Begriff „Augmented Reality“ steht für eine erweiterte Realität, in der sich die Nutzer:in zwar in einer analogen Umgebung bewegt, diese aber durch digitale Angebote ergänzt werden kann. Jedoch betont Zuckerberg in einem Interview mit The Verge, dass das Metaversum viel mehr sei als reine Virtuelle Realität. Was genau ist es dann? Eine genaue Definition kann er nicht liefern und seine Vision bleibt sehr vage: „Die Idee ist, eine Art Internet der nächsten Ebene zu schaffen, die über unsere physische Welt gelegt wird.“
Diese Idee ist nicht allein in Zuckerbergs Kopf gereift. Der Facebook-Gründer greift auf die populären Blogbeiträge des Risikokapitalgebers Matthew Ball zurück. Seit 2019 setzt er sich auf seinem Blog mit der Vision des Metaversum auseinander und verankert damit den von Neal Stephenson erschaffenen Begriff in der Tech-Szene. Im Juni diesen Jahres veröffentlichte er ein Update mit dem Titel „A Framework for the Metaverse„. Er beschreibt die acht Eigenschaften des Metaversums. Der Fokus liegt dabei auf der digitalen Kommerzialisierung und der Interoperabilität, also der Fähigkeit, dass verschiedene dezentrale Systeme gemeinsam funktionieren können. Diese Vision steht allerdings im Widerspruch zur bisherigen Vorgehensweise Facebooks, in sich geschlossene Inseln im Internet zu schaffen.
Vorreiter Fortnite
Wer Schwierigkeiten hat, sich das Metaversum vorzustellen, zieht am Besten einen Vergleich zu dem weltweit populären Videospiel „Fortnite“. Das Spiel gehört zu dem Unternehmen Epic Games. Kenner:innen beschreiben es als „Vorreiter“ oder „Basis“ des Metaversum. Auch Matthew Ball widmet seinen ersten Text über das Metaversum dem Videospiel. Schließlich funktioniert das Spiel plattformübergeifend, kann also mit verschiedener Hardware von diversen Anbietern wie Nintendo Switch, Playstation, Xbox, dem PC oder gar dem Handy gespielt werden. Außerdem besitzt es vier unterschiedliche Spielmodi, die alle ihre eigenen Vorzüge haben. So ist der Party-Royal-Modus beispielsweise kampffrei und ermöglicht den Spieler:innen gemeinsam im virtuellen Raum abzuhängen. Fortnite geht sogar noch einen Schritt weiter und lässt berühmte Künstler:innen wie Marshmello und Ariana Grande live auf einem virtuellen Event performen. Damit zieht die kostenlose Videospiel-Plattform zahlreiche Fans an.
Matthew Ball bezeichnet das Geschäftsmodell als sehr lukrativ, da die Plattform prinzipiell frei zugänglich ist, die Nutzer:innen ihren Avatar aber durch rein optische Extras, etwa Kleidung, aufwerten können. In dem Fortnite-Shop kann man beispielsweise sogenannte „Skins“ von berühmten Menschen kaufen und damit den eigenen Avatar wie den Rapper Travis Scott aussehen lassen. Mit diesem Modell konnte Fortnite eine globale Community mit 350 Millionen registrierten Accounts gewinnen. Ball und Zuckerberg schwebt für das Metaversum ein ähnliches Konzept wie das von Fortnite vor. So soll das Metaversum zahlreiche Angebote auf verschiedenen Plattformen umspannen, die ein konstanter Avatar besuchen kann. Der Vergleich mit Fortnite ist zwar anschaulich – das Metaversum soll dennoch mehr sein als ein Spiel, eine App und Virtuelle Realität.
Matthew Ball stellt klar: „Das Metaverse mag zwar einige spielähnliche Ziele haben und Spiele enthalten (…), aber es ist weder selbst ein Spiel noch ist es auf bestimmte Ziele ausgerichtet.“
Der Kapitalismus auf der nächsten Ebene
Zuckerberg sieht in dem Metaversum eine Zukunft ohne soziale Netzwerke – zumindest wie wir sie heute kennen. Stattdessen möchte er mit dem Metaversum den digitalen Status quo hinter sich lassen und so eine neue Art der Interaktion erschaffen. Das äußert er in einem Interview gegenüber The Verge. Ein zentraler Aspekt seiner Vision ist es, eine eigene Wirtschaft mit digitalen Zahlungsprozessen und Blockchain-Technologien zu schaffen. So wie Menschen auf Fortnite ihren Charakter ausstatten können, soll das Metaversum einen ganz eigenen Markt von digitalen Produkten geben. Das Metaversum setzt damit nicht nur das Internet, sondern auch den Kapitalismus auf die nächste Ebene – und mit ihm, die Spaltung in Klassen.
Es ist fraglich, wer am Ende überhaupt den Zugang zu dieser Gemeinschaft im Online-Raum bekommt. Zunächst können sich wohl nur wenige Reiche diese Technologien überhaupt leisten. Matthew Ball schreibt vor wenigen Wochen auf seinem Blog: „Wie dem auch sei, man kann nur über Hardware auf das Metaverse zugreifen, und jeder Hardware-Player kämpft darum, das (oder zumindest ein) Zahlungs-Gateway zum Metaverse zu sein.“
Die Nutzer:innen bleiben von der Software und Hardware einzelner, dominanter Anbieter abhängig.
Die Computerrevolution: A never-ending story
Dabei versuchten Computer-Revolutionär:innen schon seit den 1960er Jahren, die Hierarchie zwischen Tech-Unternehmen und Konsumierenden aufzubrechen. Einer von ihnen ist Alan Kay, der sich schon mit dem Aufkommen der ersten Computer-Prototypen für ein dynamisches Medium einsetzte, das für alle leicht zu verstehen und zu bedienen sei. Damit wollte er verhindern, dass es zu der Bildung einer technologischen Elite kommt, die wir heute im Silicon Valley vorfinden. Alan Kay inspirierte den Visionär Bret Victor, der im Jahr 2013 die Forschungsgruppe Dynamic Media Group gründete um die Idee eines interaktiven und dynamischen digitalen Mediums weiterzuentwickeln. Die diverse Gruppe arbeitet in Oakland an ihrer ganz eigenen Version, wie die Zukunft der Technologien aussehen kann – an dem gemeinnützigen Dynamicland.
Das Projekt orientiert sich an den Idealen der Hippie-Computerrevolution und erschafft selbstorganisierte, dezentrale Strukturen im digitalen Raum. Sowohl Zuckerberg als auch die Programmierer:innen von Dynamicland entwerfen eine digitale Zukunft, in der die Gemeinschaft und die Verknüpfung von digitalen mit realen Räumen im Vordergrund stehen. Beide Projekte versprühen damit einen gewissen Silicon-Valley-Spirit, der etwas Neues, Größeres und Besseres schaffen möchte. Während Mark Zuckerbergs Herz für die Silicon-Valley-Szene schlägt, versteht sich die Dynamic Media Group als Gegenentwurf zu ihr – oder doch zumindest als radikale Subkultur. So treibt die Vision von Zuckerberg den Kapitalismus durch digitale Zahlungsprozesse und Kryptowährungen voran, der Ansatz des Dynamiclands ist hingegen eindeutig antikapitalistisch.
Ein Gegenentwurf der „Radikalen Ingeneur:innen“
Ähnlich wie Zuckerbergs Utopie des Metaversums soll das Dynamicland einen interaktiven Raum in der analogen Welt schaffen, in dem neue Technologien gemeinsam erprobt und entwickelt werden. Die Dynamic Media Group sieht den Computer der Zukunft nicht als Produkt, sondern als Raum, beziehungsweise als „Computer with no box“. Damit möchte die Gruppe das digitale Medium vom Bildschirm lösen und als haptische Objekte darstellen. Doch wie kann ein solches Programmieren im Raum aussehen? Die Ingenieur:innen nutzen dazu hauptsächlich Papierstücke, auf denen von Hand ein paar simple Zeilen Code stehen und an dessen Ecken Punkten kleben. Der Computercode gibt darüber Auskunft, welche Funktion dieses Stück hat. Eine Kamera, die sich an der Decke des Raumes befindet, erfasst durch die Punkte die Position des Objektes. Außerdem kann ein Projektor mit Licht bestimmte Informationen auf das Objekt projiizieren. Ein Computer verarbeitet den kompletten Prozess.
Um diese Arbeitsweise zu verstehen, schaut man sich am besten ein Video über ein solches Projekt an. Der Entwickler und Forscher Josh Horowitz arbeitete für Dynamicland und gibt auf Twitter Einblicke in diese Arbeit.
Die Dynamic Media Group schafft laut dem Sozialanthropologen und Ethnograf Götz Bachmann ein „fundamental neues Denkwerkzeug“. Er setzt sich in seiner Arbeit mit der Gruppe auseinander und hatte das Projekt schon mehrfach besucht. Bachmann beschreibt sie in einem Podcast des SWR als „radikale Ingenieure“, da sie mit ihrer Vision gleichzeitig einen Kulturwandel anstoßen, als auch den Status quo, wie wir Technik nutzen, kritisieren würden. Götz Bachmann meint gegenüber netzpolitik.org:
Im Gegensatz zu der Art und Weise wie wir heute digitale Medien nutzen, hat Bret Victor ein grundsätzlich anderes Verständnis von dem Verhältnis zwischen Körper und Maschine. Für ihn sind private Computer und Smartphones mit Bildschirmen eine kulturelle Katastrophe.
Das kapitalismuskritische Dynamicland – eine Alternative?
Vielmehr soll mit Dynamicland ein neues digitales Medium geschaffen werden, bei dem die Entwickler:innen sich ausprobieren, Ideen entwickeln und eigene Lösungen für ihre Probleme finden können. Die Visionär:innen von Dynamicland sind mit dem Medium selbst in Kontakt und sind so ihre eigenen Programmierer:innen. Die sogenannten Radikale Ingenieur:innen führen damit die Ideale fort, die sie in den Anfänge des Internets sahen: Dezentrale, nicht kommerzielle Strukturen zum Wissensaustausch für alle. Sie möchten ihre Produkte nicht kommerziell vermarkten. Auf ihrer Webseite schreiben sie:
Als gemeinnützige Organisation sind wir frei und verpflichtet, alles zu tun, was nötig ist, um sicherzustellen, dass dieses allgegenwärtige Medium sicher ist und alle Menschen unterstützt, anstatt Unternehmen oder schändlichen Interessen Vorrang zu geben.
Diese Ideal sind zwar durchaus ehrenwert – es ist aber fraglich inwiefern sie sich als durchsetzungsfähige Alternative zum kapitalistischen Metaversum behaupten können. Nach der Vision der Arbeitsgruppe soll die Infrastruktur des Dynamiclands im Jahr 2060 überall sein. Mark Zuckerberg peilt für die Anfänge des Metaversums das Jahr 2030 an. Bisher können diese Utopien parallel zueinander bestehen, ihre Konzepte sind aber unvereinbar. Zuckerberg und die Radikalen Ingenieur:innen arbeiten jeweils mit einem komplett verschiedenen Menschenbild, das ein eigenes System verlangt. Während Zuckerbergs Vision im Kapitalismus gedeiht, verfolgt die kapitalismuskritische Dynamic Media Group eine profitfreie Wirtschaftsweise im Online-Raum. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass in den kommenden Jahrzehnten der Kapitalismus abgeschafft wird. In diesem System hat Facebook nun mal eine stärkere Startposition, da es über mehr Kapital, bestehend aus Daten, Nutzer:innen und Geld, verfügt. Dazu kommt noch der Netzwerkeffekt ins Spiel, der beschreibt, dass ein Netzwerk umso nützlicher und somit umso erfolgreicher ist, je mehr Menschen es vernetzt.
Zwischen Abhängigkeit und Autonomie
Während Facebook in einem System agiert, das für das Unternehmen Vorteile und Macht verheißt, arbeitet das Team um Dynamicland an einer grundlegenden Alternative, wie wir gemeinschaftliches Leben mit Technologien verstehen. Dynamicland bildet damit einen scharfen Kontrast zum aktuellen Diskurs über das Metaversum. Ersteres zielt auf ein gemeinschaftliches Entwickeln, das für alle zugänglich und teilbar ist. Letzteres stellt den Nutzer:innen Technologien und digitale Produkte zu Verfügung, für die sie entweder mit Geld oder Daten zahlen müssen. Kurz gesagt: Dynamicland verkörpert den Anspruch auf Autonomie und Gleichheit aller, während das Metaversum die Abhängigkeit der Konsument:innen von großen Unternehmen stärkt.
Götz Bachmann betrachtet das Metaversum aus den Augen der Dynamic Media Group:
Dynamicland entstand aus dem Wunsch ein fundamental neues Medium zu schaffen, das neue Arten des Zusammen- und Mensch-Seins ermöglicht. Ein elementarer Aspekt des Selbstverständnis der Dynamic Media Group ist, dass die Menschen selbst Teil des Dynamiclands sind und das Projekt mitgestalten können. Nur so kann sich das Verhältnis zwischen Körper und Computer ändern und zu einem Kulturwandel führen. Im Metaversum hingegen ist dieses Potenzial nicht vorhanden, da die Konsument:in außerhalb des Mediums bleibt.
Der Sci-Fi-Autor Stephenson, der den Begriff des Metaversum zum ersten Mal verwendete, sah in ihm eine Möglichkeit, aus dem „Drecksloch“ der realen Welt zu flüchten und sich in dem Metaversum neu zu verwirklichen. Vielleicht ist das Metaversum genau das: Eine bunte und spannende Illusion, aber kein Werkzeug um einen grundlegenden Kulturwandel anzuregen, den wir im Hinblick auf die drängenden globalen Herausforderungen doch dringend benötigen.
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