Die EU-Mitgliedstaaten arbeiten an neuen Leitlinien der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Diese sollen in einem „Strategischen Kompass“ zusammengefasst werden, auf dessen Grundlage dann konkrete Maßnahmen und Operationen beschlossen werden. Damit bauen die Regierungen die anfangs eher defensiv ausgerichtete „Globale Strategie der EU“ weiter aus.
Die 2016 beschlossene Globale Strategie sieht vor, dass die Europäische Union ihre Rüstungsausgaben und die Zahl ihrer Militäreinsätze erhöht. Mit dem juristisch umstrittenen Verteidigungsfonds und der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ) wurden die Vorschläge in verhältnismäßig kurzer Zeit umgesetzt. Die SSZ bestimmt konkrete Maßnahmen für die Forschung und Entwicklung militärischer Systeme, darunter etwa „Cyber-Abwehr und -Reaktion“, „Aufklärung und Weltraum“ sowie Drohnen zu Wasser, an Land und in der Luft.
Geheimdienste liefern „Bedrohungswahrnehmungen“
Auf den nun diskutierten Strategischen Kompass hatten sich die Regierungen vor über einem Jahr in Schlussfolgerungen geeinigt. Er soll die Anstrengungen im Verteidigungsbereich konkretisieren und stärker operativ ausrichten und ist deshalb auch Teil des sogenannten Trio-Programms der aufeinanderfolgen Ratspräsidentschaften Deutschlands, Portugals und Sloweniens.
In einem ersten Schritt sollten die In- und Auslandsgeheimdienste der Mitgliedstaaten zunächst die aus ihrer Sicht drängendsten „Bedrohungswahrnehmungen“ mitteilen. Diese nationalen Einschätzungen mündeten in einer „umfassenden 360-Grad-Analyse des gesamten Spektrums der Bedrohungen und Herausforderungen“ für die Europäische Union.
Für die Erstellung dieser sogenannten Bedrohungsanalyse waren die geheimdienstlichen EU-Lagezentren INTCEN und EUMS INT zuständig. Beide Einrichtungen unterstehen dem Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) in Brüssel. Zusammen bilden sie das „Einheitliche Analyseverfahren“ (SIAC), das den Rat bei der Entscheidungsfindung unterstützen soll.
Keine parlamentarische Kontrolle möglich
Im INTCEN kooperieren die nicht-militärischen Geheimdienste der Mitgliedstaaten, es besteht aus den Arbeitseinheiten Analyse, offene Quellen, Lagezentrum und konsularisches Krisenmanagement. Aus Deutschland nehmen daran der Bundesnachrichtendienst (BND) und das Bundesamt für Verfassungsschutz teil. Das EUMS INT gilt hingegen als „Nachrichtenwesen des Militärstabs“, von deutscher Seite liefert das Bundesministerium der Verteidigung entsprechende Informationen zu.
Neben den Geheimdiensten und dem Militär beteiligen sich auch das Bundeskanzleramt, das Bundesinnenministerium und das Wirtschaftsministerium an der Ausgestaltung des Strategischen Kompasses. Die Federführung liegt beim Auswärtigen Amt.
Die am 9. November 2020 vorgelegte „Bedrohungsanalyse“ ist als „Geheim“ eingestuft. Das bedeutet, dass das Dokument durch EU-Abgeordnete nicht eingesehen werden darf. Auch die parlamentarische Kontrolle durch nationale Parlamente ist unmöglich.
Eigentlich muss die Bundesregierung dem Bundestag gemäß dem Gesetz über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBBG) alle wichtigen EU-Dokumente zugänglich machen. Für die Bedrohungsanalyse soll dies aber nicht gelten. Als Begründung nennt das Auswärtige Amt in der Antwort auf eine Kleine Anfrage die Vertraulichkeit, die den Geheimdiensten anderer Mitgliedstaaten versprochen wurde. Ein „Verstoß gegen diese Absprachen“ habe demnach folgenschwere Konsequenzen für den BND.
Ausbau des INTCEN
Ebenfalls unter strenger Geheimhaltung haben im Januar die Beratungen für den Strategischen Kompass begonnen. An diesem „Strategischen Dialog“ nehmen außer den Mitgliedstaaten und dem EAD auch die EU-Kommission und die Europäische Verteidigungsagentur teil. Der „Dialog“ ist in die vier Schwerpunkte Krisenmanagement, Resilienz, Entwicklung von Kapazitäten und Partnerschaften unterteilt. Sie werden als „Körbe“ bezeichnet.
Heute beraten die EU-Verteidigungsminister:innen im Rat für Außenbeziehungen erstmals über den Korb zum Krisenmanagement. Laut den deutschen „Bedrohungswahrnehmungen“ gehören dazu unter anderem Cyberangriffe. Auch die Regierung in Österreich verlautet, dass die Gespräche einer „Stärkung der kollektiven Widerstandsfähigkeit gegen Cyber-Bedrohungen“ dienen.
Hierzu wurde bereits die Rolle des INTCEN ausgebaut, indem es die Attribution von Cyberangriffen unterstützen und Gegenmaßnahmen vorschlagen soll. Das geheimdienstliche Lagezentrum soll zudem gemeinsame „Bedrohungsanalysen“ mit Europol erstellen, die dann in der Ratsarbeitsgruppe „Terrorismus“ vorgestellt werden.
Instrumente gegen „Cyber-Bedrohungen“
Zu den im Strategischen Kompass zu bestimmenden Fragen gehört, ob und wie die EU auf eine Bedrohung im Cyberraum mit militärischen oder nicht-militärischen Mitteln reagiert. Unter deutscher und finnischer Leitung führen die Beteiligten dazu entsprechende Workshops durch.
Im Rahmen des existierenden Krisenmanagement können sich die Regierungen aus Instrumenten der EU-Verträge bedienen. Wenn ein oder mehrere Mitgliedstaaten von einem Ereignis betroffen sind, das ihre „Bewältigungskapazitäten eindeutig übersteigt“, greift etwa Artikel 222 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). „Vorkehrungen für die Anwendung“ dieser Solidaritätsklausel hat der Rat der EU 2014 beschlossen. Der Artikel gilt als zivile Krisenreaktion, regelt aber auch den Einsatz von „militärischen Fähigkeiten“ etwa im Falle von Katastrophen oder terroristischen Anschlägen.
Der bewaffnete Einsatz von Militär im Innern eines Mitgliedstaates ist aber im Rahmen des wechselseitigen Beistands gemäß Art. 42 Abs. 7 EUV ausformuliert. Diesen militärischen Bündnisfall hatte zuerst die französische Regierung nach den Terroranschlägen von 2015 geltend gemacht. Ob es sich dabei jedoch tatsächlich um einen „bewaffneten Angriff“ auf das Hoheitsgebiet eines EU-Staates handelte, ist umstritten.
Bis Ende dieses Jahres sollen die Ergebnisse des Strategischen Dialogs zusammengeführt werden. Zuständig dafür sind das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK) sowie der Militärausschuss (EUMC) der EU. Dort organisieren sich hochrangige Beamt:innen der Außen- sowie Verteidigungsministerien einzelner Mitgliedstaaten. Anfang 2022 soll der Strategische Kompass dann unter französischer Ratspräsidentschaft als „sicherheits- und verteidigungspolitisches Grundlagendokument“ angenommen werden.
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