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Abgeschaltete Browser-Erweiterung: Der Weg hinter die Paywall bleibt kompliziert

Paywalls vor Nachrichtenartikeln sind so eine Sache. Einerseits sind sie inzwischen eine Grundlage für die Finanzierung von Journalismus und ihre Zunahme darf als Zeichen gewertet werden, dass die Medien sich weniger abhängig vom kaputten Geschäftsmodell des Targeted Advertising machen. Andererseits schließen sie viele Menschen von relevanten Informationen aus. Und sie nerven. Bis heute haben es die Verlage nicht geschafft, eine gemeinsame Infrastruktur für Bezahlinhalte und attraktive Bezahlmodelle an den Start zu bringen.

Wer Zugriff auf die ganze Bandbreite der Nachrichtenmedien haben will, an die sich Internetnutzer:innen in den ersten 30 Jahren des WWW so gewöhnt haben, braucht trotz Online-Kiosken wie Blendle oder Readly eine Vielzahl von Accounts. Wer zudem nicht immer einzelne Artikel bezahlen will, sondern das ganze Angebot nutzen möchte, muss tief in die Tasche greifen. Ein digitales Abo der FAZ kostet beispielsweise 40 Euro im Monat, für die ZEIT und den SPIEGEL zahlt man etwa 20 Euro, für die Online-Artikel der SZ kämen noch mal 15 Euro monatlich hinzu.

Als Geheimtipp, um doch halbwegs günstig an eine Vielzahl von bezahlpflichtigen Artikeln zu kommen, galt lange Zeit eine Online-Mitgliedschaft bei den öffentlichen Bibliotheken. So wie man dort vor Ort in einer vielen unterschiedlichen Zeitungen schmökern kann, enthält auch die Online-Mitgliedschaft Zugriff auf Pressedatenbanken. Über den Online-Zugang des Verbunds der öffentlichen Bibliotheken Berlins (VÖBB) etwa lässt sich auf das Zeitungsarchiv Genios.de und auf das Munzinger-Archiv zugreifen, die Artikel von Medien wie dem SPIEGEL, der Welt, der SZ oder dem Tagesspiegel enthalten. Ähnliche Angebote gibt es auch bei anderen Bibliotheksverbunden überall im Land.

Zugang zu Journalismus ist eine Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Mit ihren Bezahlschranken haben die Verlage hierfür Hürden errichtet, die dem Internet lange Zeit fremd waren. Die Bibliotheken haben diese unterschiedlichen Voraussetzungen beim Zugang zu Wissen bis zu einem gewissen Grad nivelliert. Die Mitgliedschaft beim VÖBB kostet nur zehn Euro im Jahr. Mit wenigen Einschränkungen – teilweise erscheinen die Artikel erst später, manchmal gar nicht – konnte man so auch ohne gut gefülltes Portemonnaie auf viele relevante Artikel zugreifen. Der einzige Nachteil: Die Usability des Dienstes macht die Nutzung ziemlich umständlich. Das Design ist etwas altbacken. Artikel müssen jeweils einzeln über eine Suchmaske aufgerufen werden. Wer wirklich schmökern will, muss viel klicken.

„Das muss doch einfacher gehen“, hat sich deshalb Stefan Wehrmeyer gedacht. Der Entwickler und Journalist findet gerne praktische Lösungen für nervige Probleme. Mit dem von ihm gegründeten Transparenzportal FragDenStaat etwa können Bürger:innen seit fast zehn Jahren unkompliziert von ihrem Recht auf Informationsfreiheit Gebrauch machen und IFG-Anfragen an staatliche Stellen richten. Auch seine neueste Entwicklung ist von diesem Pragmatismus geprägt. Nur hat sie nicht ganz so lang gehalten.

Verlage laufen Sturm

Das Browser-Add-On VÖBBot sollte den Abruf-Prozess der Artikel aus den Pressedatenbanken erleichtern und in das alltägliche Surfverhalten integrieren. Wenn die Erweiterung einen gepaywallten Artikel auf einer der unterstützten Nachrichtenseiten findet, hätte das Programm im Hintergrund ein neues Tab geöffnet, in dem sich Nutzer:innen automatisiert mit ihrem VÖBB-Account eingeloggt hätten. Der gefragte Artikel wäre dann selbstständig in den Pressedatenbanken gesucht worden und in das Layout der Nachrichtenseite eingesetzt worden.

So weit, so praktisch. Aber: hätte, wäre. Wehrmeyer hatte das Add-On auf seiner Website zum Download angeboten und darüber getwittert. Nur drei Tage später musste er seiner Entwicklung bereits den Saft abdrehen. Verlagsmanager:innen, die Wehrmeyers 200 mal geteilten Tweet gesehen haben, liefen bei den Datenbankanbietern Sturm. Der Verbund der öffentlichen Bibliotheken Berlins reagierte mit einer drastischen Maßnahme: Er sperrte allen Nutzer:innen den Online-Zugriff auf die Pressedatenbanken.

„Bei den Abrufen über das Plug-In handelt es sich um automatische Abrufe. Diese sind nach den AGB von Genios unzulässig“, erklärt Anna Jacobi, die Pressesprecherin der Zentral- und Landesbibliothek Berlins (ZLB). Es gehe dabei um „den Ausschluss von Haftungsrisiken, sowohl für die ZLB als auch für die Nutzer:innen, die das Plug-In einsetzen.“

Nach der ersten Begeisterung beschweren sich nun Menschen auf Twitter bei Wehrmeyer. Mit seiner Aktion habe er ihre Bibliotheksmitgliedschaft entwertet. Auch Anna Jacobi weiß, dass nun viele Menschen einen Nachteil haben. „Wir haben den Schritt im vollen Bewusstsein getroffen, dass dies große Einschränkungen für die Online-Nutzer:innen mit sich bringt. Wir arbeiten deswegen auch an einer schnellen Lösung.“ Noch in dieser Woche sollen die Datenbanken wieder nutzbar sein. Der VÖBBot aber soll abgeschaltet bleiben.

„Auch Journalisten müssen Miete zahlen“

„Vielleicht war ich ein bisschen naiv“, sagt Wehrmeyer. „Ich hätte das Add-On wahrscheinlich lieber nicht als Umgehungsmöglichkeit für Paywalls bezeichnen sollen. Wir bezahlen ja schließlich unsere Bibliotheksmitgliedschaft.“ Schließlich habe er die Erweiterung gar nicht als Angriff auf die Bezahlmodelle der Verlage gedacht, sondern eigentlich für sich selbst als Erleichterung für den Alltag gebaut. Seine Frau habe ihn ermutigt, auch andere von der einmal gemachten Programmierarbeit profitieren zu lassen.

Dass die Erweiterung einen tatsächlich automatisierten Abruf und damit einen Verstoß gegen Geschäftsbedingungen der Datenbanken darstellt, bestreitet er allerdings. „Das ist natürlich Definitionssache, aber ich habe hier ja keinen Scraper gebaut, der Millionen Artikel herunterlädt. Das Plug-In hat eigentlich nur das gemacht, was die Nutzer:innen sonst händisch machen – bloß in praktisch.“

Wer länger mit Anna Jacobi spricht, merkt jedoch, dass es ohnehin nicht nur um die Frage der Geschäftsbedingungen geht, sondern um Grundsätzliches. Gut 3,1 Millionen Mal haben VÖBB-Mitglieder laut Jahresbericht 2019 [PDF, S.4] Artikel über Genios, Munzinger und andere Datenbanken abgerufen. Das Browser-Plug-In hätte dazu führen können, dass diese Zahlen dramatisch ansteigen und die Paywalls nutzlos werden, erklärt sie – „auch Journalisten müssen Miete zahlen.“

Die Pressesprecherin zieht einen Vergleich: Die gedruckten Zeitungen in Bibliotheken müsse man ja auch vor Ort lesen. Genauso müsse man für die Nutzung der Datenbanken eben die virtuelle Bibliothek betreten. Die Umständlichkeit der Pressedatenbanken, sie ist also genau so gewollt. Der Preis für den günstigen Zugang zur Presselandschaft ist Unbequemlichkeit, weil er sonst das Geschäftsmodell der Verlage stören könnte.

Der VÖBBot ist nicht das Problem

Wie groß die Sache wirklich geworden wäre, lässt sich derweil nur schwer abschätzen. Gut 1000 neue VÖBB-Accounts seien in der vergangenen Woche angelegt worden, erzählt Anna Jacobi auf Nachfrage. Das seien 300 mehr als in der Woche davor, aber es könne auch gut an den verstärkten Werbemaßnahmen liegen.

Auch Wehrmeyer bezweifelt, dass viele Menschen das Add-On installiert haben, dessen Code im Übrigen noch unter Open-Source-Lizenz im Netz steht. Die Download-Zahlen hat er nicht getrackt, doch da die Erweiterung nicht in offiziellen Browser-Bibliotheken zu finden war, sondern händisch installiert werden musste, dürften in den drei Tagen nicht allzu viele Nutzer:innen zusammengekommen sein.

Dass der VÖBBot für die Verlage wirklich ein Problem geworden wäre, darf also bezweifelt werden. Vielmehr weist der Konflikt auf ein grundsätzliches Problem hin, dem wir uns als Gesellschaft stellen müssen: Journalismus muss finanziert werden, aber die Paywalls der Verlage sorgen dafür, dass man ihn sich leisten können muss.

Wie verhindert werden kann, dass die steigende Zahl von Bezahlschranken sich negativ auf die gesellschaftliche Teilhabe auswirkt, ist nicht geklärt und ein gerechtes Modell, bei dem der Zugang zu Informationen nicht vom Einkommen abhängt, noch nicht gefunden. Der solidarische Ansatz der Bibliotheken könnte ein Teil der Lösung sein, eigentlich.


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