Wir haben eine Rewe-Filiale in Berlin besucht, in der eine neue Generation von Supermärkten getestet wird. Hunderte Kameras überwachen jede Bewegung. Ein System führt Buch, welche Waren man aus dem Regel nimmt. Am Ende weiß die Kasse automatisch, wie viel man bezahlen muss. Wie funktioniert dieses System und wie sensibel sind die erfassten Daten?
Wir stehen vor einem kleinen Supermarkt in Berlin, an der vielbefahrenen Schönhauser Allee im Prenzlauer Berg. Es ist nicht irgendein Supermarkt, sondern eines der Testlabore des Lebensmittelhändlers Rewe, wenn es um die Einführung neuer Kassentechnologien geht. Vor der Tür steht ein Schild mit einer ungewöhnlichen Info: Dieser Markt, lernen wir, nutze keine Gesichtserkennung. Im ersten Moment ist nicht klar, warum dieses Schild dort auf der Straße steht, immerhin sollte das bei den meisten Supermärkten der Fall sein. Doch wer in diesem Supermarkt einkaufen geht, wird die Bedeutung des Schildes schnell erkennen.
Denn die Technologie an der Supermarktkasse hat sich noch einmal deutlich weiterentwickelt. SB-Scan-Stationen, bei denen nicht Angestellte, sondern die Einkaufenden selbst ihre Waren scannen, sind mittlerweile fest etabliert. Nicht nur bei Rewe, sondern auch bei vielen anderen Ketten. Doch Rewe experimentiert schon länger mit noch moderneren Kassentechnologien. So konnten registrierte Kund:innen in einigen ausgewählten Märkten schon länger ein sogenanntes Pick-&-Go-System via App nutzen. Das heißt: Sie nehmen sich im Supermarkt einfach, was sie möchten, und gehen wieder nachhause. Das System registriert im Hintergrund alle Waren und rechnet den Einkauf per Handy-App ab. Mehr dazu zeigt dieses Werbevideo von Rewe auf YouTube.
Zahlen ohne zu Scannen
Dieses System hat Rewe in seinem Berliner Testsupermarkt vor einigen Monaten ausgeweitet, und zwar auf alle Kund:innen. Das berichtet der Supermarktblog, und auch wir haben das vor Ort beobachtet. Geht eine Person in den Supermarkt und legt Dinge in den Korb – oder trägt sie in der Hand – dann wird ihr später am Kassenterminal direkt die Liste der eingekauften Waren und der zu zahlende Preis angezeigt. Hierzu muss sich die einkaufende Person in einen markierten Bereich an der Kasse stellen, in der sie dann wiedererkannt wird. Das System ist so aufgebaut, dass es einzelne Kund:innen voneinander unterscheiden kann und sie während ihres gesamten Einkaufs verfolgt. Eine App braucht es dafür nicht mehr.
Das System funktioniert nicht nur mit Waren, die einen Strichcode haben, sondern etwa auch mit der Kümmelstange oder der Brezel aus dem Backregal. In der Anfangsphase kontrollierten noch Menschen, ob das automatische System alles richtig erfasste; korrigierten die durchaus vorkommenden Fehler. Nun läuft das System auch ohne diese menschliche Überprüfung.
Doch wie funktioniert diese Technologie überhaupt? Und wie verhält sich das mit dem Datenschutz, wenn der Supermarkt einzelne Personen bis zur Kasse verfolgen und identifizieren kann? Dafür haben wir uns im Supermarkt umgesehen, die Datenschutzbestimmungen gesichtet und bei Rewe nachgefragt.
Skelett-Kontrolle zur Unterscheidung der Kund:innen
Grundsätzlich werden in solchen Supermärkten alle Kund:innen von den Überwachungssystemen erfasst, verfolgt und gespeichert – auch wenn sie ganz herkömmlich einkaufen und am Kassenband bezahlen. Laut den Datenschutzbestimmungen geht es um folgende Daten:
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Videoaufzeichnung im Markt: schematische Darstellung deines Knochenbaus, in Ausnahmefällen Farbe deiner Kleidung oder auffällige Accessoires inkl. Zeitstempel und deines Einkaufswegs durch den Markt
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Daten, die du generierst, wenn du Ware nimmst oder zurücklegst (z. B. Warenart, Warenmenge)
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Daten, die du bei deinem Einkauf an der Kasse generierst (z. B. Zeitpunkt des Einkaufs, -Warenart, Warenmenge)
Wenn hier eine Textstelle besonders aufhorchen lässt, dann die „schematische Darstellung deines Knochenbaus“. Das mag zwar nicht das Gesicht sein, ist aber dennoch ein besonderes körperliches Merkmal, das sich nicht ablegen und kaum verbergen lässt. In Ermangelung eines besseren Begriffs nennen wir diese Erfassung an dieser Stelle: Skelettkontrolle.
Es sei „nicht möglich, sich im teilnehmenden Markt zu bewegen, ohne dass deine Daten von Videokameras erfasst und in Ausnahmefällen in einer Cloud gespeichert werden“, heißt es in den Datenschutzbestimmungen weiter.
Die erhobenen Aufnahmen werden laut Rewe verpixelt bei einem Cloudanbieter auch außerhalb der EU gespeichert und mittels „künstlicher Intelligenz“ ausgewertet. Für die Verarbeitung der Daten arbeitet Rewe mit dem israelischen Unternehmen Trigo Vision Ltd zusammen, das auch andere internationale und nationale Supermärkte wie Tesco, Auchan und Aldi ausrüstet. Rewe hat in das Unternehmen investiert.
Daten werden in der Cloud außerhalb der EU gespeichert
Die Videoaufzeichnungen werden laut Rewe bis zu zehn Tagen gespeichert, bis zu sechs Stunden unverpixelt im Supermarkt selbst, anschließend mit verpixelten Darstellungen in der Cloud. „Daten zu Optimierungszwecken“ würden zudem bis zum Vertragsende mit dem Dienstleister gespeichert. Wir haben nachgefragt, was für Daten das sind und ob auch skelettbasierte Daten „bis zum Vertragsende“ gespeichert werden. Rewe hat auf diese Frage von netzpolitik.org nicht geantwortet.
Laut Trigo und Rewe funktioniert das System „Easy Out“ mit Deckenkameras und Gewichtssensoren, die in allen Regalböden verbaut sind. So können Waren und Einkaufende getrackt werden. Wir haben bei Rewe gefragt, wie viele Kameras im Berliner Supermarkt installiert sind. Rewe hat auf die Presseanfrage geantwortet, dass je nach Marktgröße 200 bis 500 Kameras verbaut seien. Das klingt plausibel: Wir schätzen bei unserem Besuch im Berliner Markt die Anzahl auf mehr mehrere Hundert Stück.
Trigo spricht außerdem davon, dass das System „Privacy by Design“ sei. Die Lösung von Trigo erstelle ein 3D-Modell des Supermarktes, um die Umgebung und Bewegungen darin digital abzubilden, sodass die Kund:innen Artikel auswählen und mit ihnen hinausgehen können, heißt es in einer Pressemitteilung von Rewe. Trigo selbst sagt, dass das System die Bewegungen der Kund:innen erkenne, während sie sich im Laden aufhalten, ohne aber zu wissen, wer sie sind.
„Definitiv ein biometrisches System“
Auch wenn Rewe in der Unternehmenskommunikation sagt, dass keine biometrischen Daten erfasst würden, weist die Technologie auf etwas anderes hin. Längst haben Forschende zu sogenannter „skelettbasierte Gangart-Erkennung“ Paper veröffentlicht. Auf eine konkrete Nachfrage von netzpolitik.org zu diesem Thema hat Rewe nur mit einem Standardtext geantwortet. Demnach „werden keine biometrischen Daten erfasst – das System erkennt keine individuellen Kunden und keine persönlichen Merkmale. Jeder Nutzer und jedes Produkt wird als abstraktes Objekt erkannt.“ Darüber hinaus schreibt Rewe aber auch, dass es Detailinformationen zur Lösung seiner Technologie-Partner nicht kommuniziere.
Wir haben den Biometrie-Experten Jan Krissler alias starbug um eine erste Einschätzung gebeten. Er sagt gegenüber netzpolitik.org, dass es sich bei dem System im Rewe definitiv um ein biometrisches System handele: „Körpermerkmale erfassen ist der Inbegriff von Biometrie – und das passiert hier.“ Dabei sei es unerheblich, ob daraus, wie von Trigo behauptet, ein 3-D-Modell errechnet würde oder nicht. Es handele sich um biometrische Daten, die in diesem Fall offenbar pseudonymisiert seien.
Die Firma Trigo hat auf eine kurzfristige Anfrage noch nicht geantwortet.
Auswertung von Bewegungen und Produkten
Rewe nutzt das System nicht nur, um Kund:innen das Warten beim Abkassieren zu verkürzen oder um langfristig Personal zu sparen. Denn die erhobenen Daten erlauben noch weitere Rückschlüsse: Wie viele Kund:innen halten sich wann wie lange im Markt auf? Welche Wege gehen sie? Wo ist viel Gedränge? Wo werden besonders viele Produkte in den Korb gelegt? Welche Regale sind unattraktiv? Wo werden Produkte gegen andere getauscht? Solche Daten können die beteiligten Märkte in einem Dashboard abfragen, wie Trigo auf seiner Website erklärt.
Und noch ein weiteres Thema dürfte für die Supermärkte interessant sein. Trigo verspricht, dass die übliche „Schwund“-Rate im Supermarkt um 70 Prozent heruntergehe – gemeint ist offenbar Diebstahl. Unabhängige Recherchen, wie sich das System für solche Zwecke möglicherweise gezielt austricksen lässt, gibt es bislang noch nicht.
Es gibt noch eine Frage, die uns Rewe nicht beantwortet hat: Ob ein solches System nicht eine ausdrükliche Zustimmung der Kund:innen benötige. Immerhin können Menschen den Supermarkt in Berlin einfach betreten und werden entsprechend erfasst. In seinem Standardtext schrieb uns Rewe hierzu lediglich, dass vor und im Laden „deutliche und verständliche Datenschutzhinweise“ angebracht seien. Darunter dürfte auch das Schild fallen, das am Eingang in der Schönhauser Allee 130 den Verzicht auf Gesichtserkennung anpreist.
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