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Bezahlkarten für Geflüchtete: Eine Idee aus den 90ern

Bezahlkarte statt Bargeld sollen Asylsuchende davor abschrecken, nach Deutschland zu kommen. Was momentan als moderne Idee verkauft wird, ist seit den 90er Jahren schon mehrfach gescheitert.

Ein Reklameschild für den Extra-Supermarkt, im Hintergrund ein 10-DM-Schein
In den Neunzigern gab es in Berlin den Supermarkt Extra, D-Mark und Bezahlkarten für Geflüchtete. – Alle Rechte vorbehalten Supermarkt: IMAGO/Hoch Zwei/Angerer

Geflüchtete sollen in Deutschland künftig eine Bezahlkarte statt Bargeld bekommen. So erhoffen sich Politiker:innen mehrerer Parteien, Deutschland unattraktiver für Schutzsuchende zu machen. Obwohl Migrationsfachleute das für verkürzt halten, hat sich die Idee im Rahmen einer beständig restriktiveren Migrationspolitik durchgesetzt.

Neu ist das Konzept der eingeschränkten Bezahlkarten nicht, ganz im Gegenteil. Es gab sie etwa bereits in Berlin, in Osnabrück oder im Landkreis Erding. Doch nach der Einführung wurden sie immer wieder abgeschafft – zu teuer, zu fehleranfällig und im Grunde unnötig.

1998: Berlin legt vor

Berlin startete früh mit der Chipkarten-Idee. Die damalige Sozialsenatorin Beate Hübner (CDU) führte 1998 die Bezahlkarte für Geflüchtete in Landesobhut ein, vier Bezirke zogen mit. Sie sagte damals: „Der Anreiz, ausschließlich aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland zu kommen, wird mit der Einführung des Chipkartensystems nicht mehr so groß sein.“

Von Anfang an machte das System Probleme: Es gab nicht in allen Geschäften die damals nötigen ISDN-Anschlüsse, um die Kartenzahlungen abzuwickeln. Generell akzeptierten nur wenige Händler die Karte, zu Beginn waren es in ganz Berlin nur 42 Geschäfte. Zielvorgabe waren mindestens drei Geschäfte pro Berliner Bezirk. Discounter waren nicht darunter, daher mussten die Asylbewerber:innen oft vergleichsweise viel Geld für Grundlebensmittel ausgeben.

Händler machen Geld mit der Not

Was sie kaufen konnten, war ebenfalls eingeschränkt: kein Alkohol, keine Zigaretten, lediglich Lebensmittel, Körperpflegeartikel und Haushaltsbedarf. Was als solcher auszulegen sei, machte laut Berichten Probleme.

„Es gibt auch immer wieder Fälle, in denen VerkäuferInnen, die hier die rechtsauslegende Instanz sind, zum Beispiel Kochtöpfe nicht als Haushaltswaren ansehen und den Verkauf verweigern“, heißt es in einer damaligen Mitteilung der Initiative gegen das Chipkartensystem. Außerdem war es nicht möglich, Geld anzusparen, das Guthaben verfiel zum Ende eines Monats.

Transparent auf einer Demo vor einem Supermarkt mit der Aufschrift "antirassistischer Einkauf jetzt"
Schon vor 20 Jahren gab es Proteste gegen die Bezahlkarten. - Alle Rechte vorbehalten chipkartenini.squat.net

Einige der beteiligten Händler nutzten die Situation früh aus: Gegen eine Provision zahlten sie den Asylsuchenden Bargeld aus, laut taz behielten sie durchschnittlich 15 Prozent der Summe ein. Es entwickelte sich ein Geschäft mit der Not. Später organisierten solidarische Menschen „antirassistisches Einkaufen“ mit den Chipkarten. Sie gingen in die teilnehmenden Läden, erledigten ihre eigenen Besorgungen und gaben den Geflüchteten das Geld dafür in bar.

2002: Zurück zum Bargeld

Verdient hat an dem System auch der Anbieter der Karten: Das Unternehmen Infracard, das später von Sodexho aufgekauft wurde, bekam 1,5 Prozent des monatlichen Umsatzes als Provision, im Jahr 2001 waren das 113.788 D-Mark.

2002 entschied sich die mittlerweile zuständige Sozialsenatorin Knake-Werner von der PDS dazu, „das Chipkartensystem zugunsten von Barleistungen“ aufzugeben und die Verträge mit Sodexho zu kündigen. Da das Land jedoch lediglich für die Erstaufnahmeeinrichtungen zuständig ist, behielten einige Bezirke die Karten noch länger bei. Reinickendorf stellte den Chipkartenversuch 2006 ein und zahlte wieder Bargeld aus, 2007 musste sich auch Spandau als letzter Bezirk von den Karten verabschieden. Sodexho kündigte den Vertrag selbst, aus wirtschaftlichen Gründen.

2016: Erding versucht es auch

Das Scheitern des bayerischen Landkreises Erding liegt noch nicht so lange zurück wie das aus Berlin und hat andere Gründe. Im Mai 2016 begann der Kreis mit dem sogenannten KommunalPass. Der hatte jedoch deutlich weniger Einschränkungen als das frühere Berliner Modell: Geflüchtete konnten dort bezahlen, wo Maestro-Karten akzeptiert wurden und waren nicht auf wenige Geschäfte beschränkt. Nach anfänglichen Problemen konnten sie auch Bargeld abheben, zumindest bis zu 43 Prozent der ausgezahlten Geldleistungen.

Kritik gab es dennoch: Die Zahlung und Abhebung funktioniere oft nicht, so die Erdinger Aktionsgruppe Asyl. Es gab wiederholt technische Probleme. Nach einer Petition legte auch der Sozialausschuss des bayerischen Landtags dem Erdinger Landrat nahe, die Karte zu überdenken – ohne Effekt.

Landrat Martin Bayerstorfer hielt trotz ständiger Kritik an der Karte fest. Sie fand erst 2020 ein unfreiwilliges Ende: Der Finanzdienstleister Wirecard ging in einem spektakulären Betrugsfall insolvent. Zwar stellte eigentlich das Unternehmen Sodexo – das „h“ im Namen verschwand 2008 – den Kommunalpass aus, war aber auf Wirecard zur Zahlungsabwicklung angewiesen. Nichts ging mehr, von einem Tag auf den anderen musste Erding auf Bargeldzahlungen umschwenken.

Zunächst wollte man eine Nachfolge für Wirecard suchen, doch daraus wurde nichts. Stattdessen begann der Landkreis im Mai 2021 mit einer Methode, die sowohl die Verwaltung entlastete als auch Geflüchteten einen selbstbestimmten Umgang mit dem knappen Geld ermöglichte: Erding überwies das Geld standardmäßig auf die Konten der Asylsuchenden. Wer noch keines hatte, bekam das Geld bar. Ein neuer Zahlungsdienstleister wäre „zu teuer geworden“, sagte der Landrat.


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