Die Deutsche Bahn schafft die Bahncard aus Plastik ab. Ein vermeintlicher Versuch, digitalen Fortschritt und Umweltschutz zusammenzubringen. Kritiker:innen befürchten: Menschen, die bereits durch den technologischen Wandel benachteiligt sind, werden so weiter ausgeschlossen.
Die Deutsche Bahn (DB) will ab Mitte 2024 die Bahncard nur noch in digitaler Form via App anbieten und auf die Variante aus Plastik verzichten. Begründet wird dieser Schritt mit einem klaren Bekenntnis zum Umweltschutz und als wegweisender Schritt in Richtung Nachhaltigkeit. Die Frage ist: Will die DB hier am falschen Ende sparen?
Für viele Verbraucher:innen ist der öffentliche Personenverkehr essenzieller Teil ihrer Mobilität. Laut einer Pressemitteilung der DB aus dem letzten Jahr nutzten über fünf Millionen Bahn-Kund:innen die Rabatt-Karten, um kostengünstigere Fahrkarten zu kaufen. Ein Großteil, 60 Prozent nutze bereits die digitale Bahncard über die Navigator-App. Für sie ist die Neuerung offenbar keine Änderung. Doch was ist mit den anderen 40 Prozent.
Der Zwang zur digitalen Bahncard ist problematisch: Die benötigte App ist nicht vollständig barrierefrei und kann so etwa für Menschen mit Sehbehinderung zum Problem werden. Andere wollen oder können kein Smartphone nutzen. Das betrifft etwa ältere Menschen oder solche, die sich aus persönlichen Gründen dagegen entschieden haben.
Der Digital Gap ist real
Am 12. Oktober dieses Jahres stellte die damalige Bundestagsfraktion der Linken einen Antrag für ein Offlinezugangsgesetz. In diesem argumentieren die Abgeordneten, dass die Benachteiligung bereits diskriminierter Gruppen mit dem digitalen Fortschritt weiter verstärkt wird. Daher die Forderung: Solange diese Lücke besteht, darf niemand ausgeschlossen werden, indem Leistungen und Angebote rein digital verfügbar sind.
Die Argumentation wird durch zahlreiche Studien gestützt. Auswertungen des Statistischen Bundesamtes mit Stand April 2023 zeigen, dass sechs Prozent der Menschen im Alter zwischen 16 und 74 Jahre bis 2022 noch nie das Internet genutzt haben. Das entspricht etwa 3,4 Millionen Menschen in Deutschland. In der Altersgruppe der 65- bis 74-Jährigen beträgt der Anteil 17 Prozent, was etwa ein Sechstel der Gesamtbevölkerung dieser Altersgruppe entspricht.
Laut den Erhebungen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) sei besonders auffällig, dass insbesondere ältere Altersgruppen, Frauen, Menschen mit niedrigem Bildungsgrad, Einkommensschwache, Personen mit kognitiven Einschränkungen und Menschen in Pflegeheimen das Internet signifikant weniger nutzen.
Der D21-Digital-Index 2021/22 kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Eine bedeutende Anzahl der Offline-Nutzer:innen gehören benachteiligten Gruppen an. Dabei seien 35 Prozent der Befragten besorgt darüber, mit dem technischen Fortschritt nicht mithalten zu können. Vor allem wenn öffentliche Dienstleistungen vermehrt nur noch digital beantragt oder genutzt werden können.
Aus Solidarität gegen Digitalzwang
Bereits jetzt setzen viele Vorzüge des Lebens die Nutzung digitaler Dienste voraus. Unter diesen Voraussetzungen sprechen Leena Simon und Rena Tangens (€) der Bürgerrechtsorganisation Digitalcourage von einer Form des Digitalzwangs:
Digitalzwang liegt vor, wenn es sich nicht um einen Extraservice handelt und ein Verzicht auf diese Leistung die Teilhabe am öffentlichen Leben einschränkt, also eine Diskriminierung entsteht, insbesondere bei staatlichen Leistungen; wenn es keine analoge Alternative gibt, obwohl das technisch möglich wäre; wenn die analoge Alternative durch etwa höhere Kosten oder größeren Aufwand so unattraktiv gemacht wird, dass sie faktisch nicht infrage kommt.
Digitalisierung darf kein ausschließlicher Selbstzweck sein, auch nicht für Angebote der Deutschen Bahn, um Kosten zu sparen. Vielmehr sollte sie Verbraucher:innen das Leben vereinfachen. Vor allem bei Diensten der Grundversorgung müsse es auch immer eine analoge Alternative geben, die für alle Menschen gleichermaßen zugänglich ist. Ansonsten könnten Leistungen der Grundversorgung mit immer mehr Digitalzwang und damit auch Überwachung belegt werden.
Auch wenn wir die Vorzüge von Technik lieben, sollten wir uns kollektiv gegen Digitalzwang und der damit verbundenen Ausgrenzung einsetzen. Ein Akt der Solidarität. Ein Kompromiss wäre im Fall der DB angebracht. Wer ausschließlich die App nutzen möchte, sollte auf eine Karte verzichten, auch im Sinne des Umweltschutzes. Wer aus diversen Gründen die Plastik-Karte behalten möchte, sollte auf Wunsch weiterhin eine erhalten.
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