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Degitalisierung: Der Elefant im Raum

Es gäbe so viele Probleme im Land, die man mit digitalen Lösungen angehen könnte. Stattdessen wird der Ruf nach technischen Lösungen immer dann laut, wenn es gilt Geflüchtete und Migrant*innen zu überwachen. Die Sehnsucht nach einer digital möglichst effizienten Nicht-Willkommenskultur in diesen Tagen lässt unsere Kolumnistin schaudern.

Ein Elefant auf einem Sofa
Ein Elefant im Raum – Alle Rechte vorbehalten Midjourney („Elephant in the room“)

Die heutige Episode von Degitalisierung wird schwer und tiefgründig. Denn sie wird sich mit einem Elefanten beschäftigen müssen. Mit dem sprichwörtlichen Elefanten im Raum im Kontext aktueller Digitalisierung.

Das mit dem Elefanten im Raum kommt – zur Schwere dieser Kolumne passend – eigentlich von Dostojewski:

Belinski hat genau wie der Wißbegierige in der Kryloffschen Fabel den Elefanten im Museum gar nicht bemerkt, da er ja seine ganze Aufmerksamkeit den französischen sozialistischen Käferchen zuwandte.

Ja, immer wieder spielt Digitalisierung das sprichwörtliche Käferchen, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht und den Elefanten im Raum scheinbar aus dem Blick verschwinden lässt. Aber im Raum bleibt der Elefant immer noch. So sehr wir uns auch auf den digitalen Aspekt fokussieren wollen. Zeit für einen Perspektivwechsel.

Vier Uhr morgens, Josef-Hirn-Platz, Stuttgart

Wenn es eine bildliche Demonstration bräuchte, wie scheinbar glasklar Digitalisierung in Amtsprozessen im Jahr 2023 fehlt: Es hätte gereicht, den Josef-Hirn-Platz in Stuttgart zu besuchen.

Am Josef-Hirn-Platz in Stuttgart befindet sich das Amt für öffentliche Ordnung, genauer Ausländer‐ und Staatsangehörigkeitsrecht. Davor viele wartende Menschen aus sogenannten Drittstaaten, die teils schon sehr lange in Deutschland leben, aber immer wieder ihren Aufenthaltstitel verlängern müssen. Nur ist das gar nicht so einfach: Warteschlangen, die sich schon mitten in der Nacht bilden. Wer nicht schon vor vier Uhr kommt, hat kaum eine Chance auf einen Platz vorne in der Schlange. Und bekommt am Ende womöglich nur ein Notfallticket, um die wie ein Damoklesschwert über den Menschen schwebende Frist zur Verlängerung des Aufenthaltstitels etwas nach hinten verschieben zu können.

Nun würde sich der Belinski dieser Tage wohl zuerst einmal den scheinbar offensichtlichen Details des Problems zuwenden. Belinski im Schwabenland 2023 würde wohl eine Online-Terminverwaltung für die Verlängerung von Aufenthaltstiteln einführen. Gut, das wurde in Stuttgart inzwischen auch gemacht. Die langen Schlangen am Josef-Hirn-Platz sind weg. Zumindest vordergründig.

Allerdings sind die digitalen Warteschlangen vor den Ausländerbehörden in Stuttgart auch nicht wirklich kürzer. Die Verfahren dauern genauso lange und die Amts-Experience ist immer noch sehr on brand. Guter Service für Mitmenschen, die oftmals lange hier leben, jahrelang Teil unserer Arbeitswelt sind und bei einem Ablauf des Aufenthaltstitels jedes Mal aufs Neue Stress ausgesetzt werden? Wo denkst du hin. Menschen, die einen Aufenthaltstitel verlängern müssen, sind schließlich per Gesetz verpflichtet und so weiter und so fort.

Dabei sei der Fairness halber auch gesagt, dass es bestimmt auch positive Beispiele von engagierten Ämtern und engagierten Mitarbeitenden gibt, die sich mit beschränkten Mitteln und wenig Personal wirklich um die Bedürfnisse von Menschen bemühen, die aus anderen Ländern zu uns kommen. Nur ist die überwiegende Haltung, die auch aus der digitalen Umsetzung deutlich wird, eine den jeweiligen Systemen innewohnende argwöhnische bis rassistische Haltung Ausländer*innen gegenüber. Sie kommt verbunden mit zweifelhaften Versuchen von technisch innovativen Lösungen für soziale Probleme.

Technisch innovativer Argwohn

Ein durchaus innovativer Bereich der Verwaltung, zumindest rein technologisch betrachtet, scheint der zu sein, der mit Grenzen, Flucht und Asyl zu tun hat. Nur ist die scheinbar innovative Technik oftmals dazu da, eher schwierige soziale Probleme technisch lösen zu wollen. Und dabei vielleicht noch ein paar neue Technologien zu verkaufen.

Eine der ersten Blockchain-Anwendungen in der deutschen Verwaltung, die FLORA-Blockchain, entstand etwa im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Sie sollte Asylverfahren schneller machen und sie wird immer länger. Beschleunigung von „Ankunft, Entscheidung und Rückführung“ im Asylverfahren durch Hype-Technik von vor ein paar Jahren: klingt nach Win-Win für alle Beteiligten – außer den von Asylverfahren Betroffenen.

Für die Grundrechte der betroffenen Personen ist es aber Lose-Lose, denn Löschen ist halt so eine Sache aus einer Blockchain. Eine ihrer zentralen Eigenschaften ist schließlich, dass sie nicht im Nachhinein verändert und manipuliert werden kann. Möglichkeiten zum Löschen wurden dann zwar irgendwie durch für „jeden Anwendungsbereich eigene Blockchain-IDs“ implementiert. Asylverfahren taugen so aber eher als digitales Experimentierfeld, mit einer Tendenz Grundrechte erst irgendwann nachher zur berücksichtigen.

Eine gewisse Tendenz zur Ignoranz von Grundrechten wohnt vielen digitalen Projekten im Kontext von Ausländern und Geflüchteten inne. Aktuelles Beispiel: Das Ausländerzentralregister mit Asylbescheiden im Volltext, deren sensible Informationen wie sexuelle Orientierung oder politische Überzeugungen fortan zentral gespeichert werden. Im möglichen Zugriff für nicht weniger als etwa 16.000 öffentliche Stellen und mehr als 150.000 Behördenmitarbeiter*innen. Der wirkliche Nutzen der Entscheide in der Datenbank ist zwar eher beschränkt, aber lieber erst mal mehr haben wollen – dem Argwohn wegen.

Bezahlkarten gegen den Pull-Faktor

Weiteres Beispiel des digital getriebenen Argwohns sind die Bezahlkarten für Geflüchtete. Pull-Faktoren wolle man dadurch reduzieren. Die Technik geht dabei in ihrem Argwohn aber noch viel weiter in ihren Möglichkeiten, bis hin zum Geofencing der Karten und einer „statistischen Auswertung des Einsatzes“.

Etwas weniger digitalen Argwohn gibt es immerhin gegenüber Smartphones von Geflüchteten, seit ein Gericht dem BAMF beschied, das Auslesen der Geräte auf Vorrat sei rechtswidrig. Neuen digitalen Argwohn gibt es dafür gegenüber Cloud-Daten von Asylsuchenden, zumindest gibt es dazu schon Diskussionsentwürfe.

Wobei ein kritischer Blick an die europäischen Außengrenzen schon länger die dunkle Seite der Digitalisierung im Kontext der Migration offenbaren hätte können: Lager für Geflüchtete mit Biometrie und Videoüberwachung, garniert mit „Künstlicher Intelligenz“. Überwachung Geflüchteter durch Frontex und Europol. Am liebsten solle die digitale Überwachung von Fliehenden schon vor der Flucht beginnen, so wirkt es zumindest.

Auf der anderen Seite soll es aber auch bequemer werden für die guten Europäer durch den automatisierten Abgleich von biometrischen Daten bei der Aus- / Einreise aus oder in die EU. In ähnlicher Form ist das schon zu sehen am Flughafen Frankfurt, dessen Kontrollstellen fortan „mit nur einem einzigen Blick“ durchlaufen werden können. Sogar mit Maske vor dem Gesicht in infektiösen Zeiten.

Dabei scheint Digitalisierung heute fast schon die allerletzte Möglichkeit zu sein, überhaupt noch mit der gespaltenen Gesamtsituation umgehen zu können.

Effizienz der Nicht-Willkommenskultur

Äußerungen unseres aktuellen Bundeskanzlers Olaf Scholz explizit zur Digitalisierung sind eher selten. Oft scheint es, als würde das Thema für ihn nicht existieren. Umso schwerer wiegen die wenigen Momente, in denen Olaf Scholz das Thema doch erwähnt. Mit dem Papierzeitalter müsse endlich Schluss sein, Behörden müssten rund um die Uhr erreichbar sein, denn die Digitalisierung müsse endlich vorangetrieben werden.

Bis hier hin klingt es nach einem Machtwort für bessere Verwaltungsdigitalisierung. Wäre da nicht die Einschränkung, dass sich das Zitat explizit nur auf Ausländerbehörden bezieht. So zu lesen im eher zweifelhaften Spiegel-Interview von Mitte Oktober.

Es ist nicht so, dass es in Deutschland nicht genügend digitale Probleme gäbe. Mal von noch viel elementareren Problemen wie Klimawandel, Artensterben und so weiter ganz zu schweigen. Die Liste der digitalen Probleme reicht von der fehlenden Glasfaser bis zur digitalen Bildung. Aber wirklich wichtig wird es dieser Tage anscheinend nur, wenn einige laut genug „Abschiebung“ schreien.

Die Sehnsucht nach einer auch mit Mitteln der Digitalisierung effizienter gemachten Nicht-Willkommenskultur in diesen Tagen lässt mich schaudern.

Digitalisierung ist, so hart sie manchmal in der Umsetzung ist, eigentlich einfach. Probleme werden scheinbar virtualisiert und effizienter gelöst. So logisch es aber auch scheinen mag, mit Digitalisierung etwa die Warteschlange am Josef-Hirn-Platz in Stuttgart „wegzudigitalisieren“: Digitalisierung führt auch dazu, dass wir nicht mehr direkt mit ansehen brauchen, dass von unserem Handeln echte Menschen betroffen sind. Die Distanz zur menschlichen Seite der Migration wird durch Digitalisierung zusehends größer. Am Ende verschwindet so aber nicht der Elefant im Raum: unser eigener inhärenter Rassismus.


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