Eurodac, die biometrische EU-Datei zur Migrationskontrolle, kommt an ihre Kapazitätsgrenze. Eine politische Einigung zum Ausbau kommt seit 2016 aber nicht voran. Nun überraschen immens viele Abfragen durch die Polizei aus Deutschland.
Gemäß dem Dubliner Übereinkommen sind jene Staaten für Asylanträge zuständig, in denen Schutzsuchende zuerst in Europa ankommen. Zur Umsetzung dieses Beschlusses haben die damaligen EU-Staaten vor 23 Jahren die Einrichtung der Eurodac-Datei zur Speicherung von Fingerabdrücken beschlossen. Drei Jahre später ging diese „Datenbank für Asyl-Daktyloskopie“ in Betrieb. Auch die Schengen-Staaten Norwegen, die Schweiz und Island sind daran beteiligt.
Das 20 Jahre alte System kann sieben Millionen Einträge speichern, nun kommt es an seine Kapazitätsgrenze: 2022 enthielt Eurodac biometrische Daten von 6,5 Millionen Menschen, im Vorjahr waren es noch 5,8 Millionen. Im Vergleich zu 2021 stiegen auch die Abfragen des Systems um 73 Prozent. So steht es in einem aktuellen Bericht von eu-LISA, der Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen. Sie ist für die Organisation des Zentralsystems von Eurodac zuständig und gibt dazu jährlich eine Statistik heraus. Darin heißt es, dass die maximale Auslastung zwischen Ende 2023 und Anfang 2024 erreicht sein könnte.
Vorläufiger Rückgang wegen Corona und Brexit
Die deutliche Zunahme von Einträgen in Eurodac geht auf die vermehrten Ankünfte von Asylsuchenden nach der Corona-Krise zurück, die wie der Brexit Großbritanniens ab 2020 für einen vorläufigen Rückgang der Nutzung um 30 Prozent gesorgt hatte. Auch die Geflüchteten des Ukraine-Krieges brachten zunächst einen Anstieg, der jedoch mit der EU-Richtlinie über den vorübergehenden Schutz von Ukrainer:innen im März 2022 zurückging. Demnach werden sie nicht mehr als Asylsuchende in Eurodac erfasst.
Laut dem aktuellen Bericht stieg der durchschnittliche tägliche Eurodac-Datenverkehr nach Ausbruch des Krieges im vergangenen Jahr von rund 3.000 Speicherungen und Abfragen im Januar auf 5.000 im März, zwischenzeitlich wurde sogar ein Spitzenwert von 9.500 Transaktionen erreicht.
Mit 26 Prozent erfolgen meisten Aktivitäten im Eurodac-System aus Deutschland, danach folgen Italien, Frankreich, Österreich und Spanien. Auf diese fünf Länder entfielen im vergangenen Jahr 67 Prozent aller Transaktionen – also Speicherungen und Abfragen.
„Aufdeckung von unerlaubten Bewegungen“
Die im Zentralsystem von Eurodac Gespeicherten werden in drei Kategorien eingeteilt. Als „Kategorie 1“ müssen innerhalb von 72 Stunden alle Geflüchteten eingetragen werden, die bei ihrer Ankunft in einem Schengen-Staat einen Asylantrag stellen. Auch Minderjährige ab 14 Jahren müssen hierfür ihre Fingerabdrücke abgeben. Über ein automatisches Fingerabdruckidentifizierungssystem (AFIS) erfolgt anschließend ein Abgleich, ob diese Person bereits in einem anderen Land als asylsuchend registriert ist. In 22 Prozent der Fälle haben diese Abfragen 2022 einen Treffer ergeben.
In „Kategorie 2“ werden alle Angehörigen eines Drittstaats oder auch Staatenlose eingetragen, wenn diese bei ihrer Ankunft in Europa offensichtlich die Außengrenze eines Schengen-Landes irregulär überschritten haben, ohne etwa ein Visum zu besitzen.
Die „Kategorie 3“ wurde schließlich 2017 für Personen eingerichtet, die von der Polizei ohne Aufenthaltsgenehmigung in einem Schengen-Staat angetroffen werden. Bei dieser Kontrolle zur „Aufdeckung von unerlaubten Bewegungen“ von Geflüchteten werden keine Daten im Zentralsystem von Eurodac gespeichert, es erfolgen aber Abfragen. Im Trefferfall können die Betroffenen aufgefordert oder gezwungen werden, in den Staat zurückzukehren, in dem sie ihr Asylgesuch gestellt haben.
Auch Kinder sollen biometrische Daten abgeben
Mit der sogenannten Flüchtlingskrise hatte die EU-Kommission 2016 weitgehende Änderungen für Eurodac vorgeschlagen. So sollten auch Kinder ab sechs Jahren ihre Fingerabdrücke abgeben müssen. Auch würden demnach mehr personenbezogenen Daten der Asylsuchenden gespeichert, darunter das Gesichtsbild. Der Neuentwurf war Teil der Reform des gesamten EU-Asylsystems, der jedoch seitdem auf der Stelle tritt.
2020 folgte ein überarbeiteter Vorschlag, der Eurodac außerdem in das System zur „Interoperabilität“ eingliedern sollte. Dort werden fünf EU-Datenbanken zusammengeführt, die Fingerabdrücke und Gesichtsbilder enthalten.
Die Verhandlungen der EU-Staaten mit dem Parlament über diesen neuen Eurodac-Vorschlag sind jedoch blockiert. Erste Verhandlungen mit dem Parlament hatten zwar in diesem Jahr stattgefunden, wurden jedoch von den Abgeordneten ab Juni auf Eis gelegt. Hintergrund ist eine von der Kommission geplante „Krisen-Verordnung“, die durch die Hintertür auch Verschärfungen für Asylsuchende einführt.
Hardware hat „Ende ihres Lebenszyklus erreicht“
Ungeachtet des politischen Stillstands hat eu-LISA im vergangenen Jahr mit „zwei größeren Modernisierungsmaßnahmen“ für Eurodac begonnen. Denn laut dem Jahresbericht für 2022 hätten Architektur und Komponenten des Systems „das Ende ihres Lebenszyklus erreicht“.
Die Soft- und Hardware wird deshalb erneuert und die Speicherkapazität des Systems auf neun Millionen Datensätze erhöht. Die „Durchsatzkapazität“ soll auf 24.000 tägliche Transaktionen angehoben werden. Allerdings habe sich das für dieses Jahr geplante Upgrade „aufgrund von Engpässen in der globalen Lieferkette“ verschoben, heißt es in dem Bericht von eu-LISA.
Grundsätzlich laufe das System nach Aussagen von eu-LISA aber stabil und sei in den 365 Tagen des vergangenen Jahres zu fast 100 Prozent erreichbar gewesen. Im Mai habe eine Störung des Mailservers für einen fast zweistündigen Ausfall gesorgt, im Oktober habe Eurodac über vier Stunden „keine Transaktionen im Zusammenhang mit Fingerabdrücken“ verarbeiten können. Als Hauptursache nennt die Agentur eine falsche Konfigurierung in einem Mitgliedstaat.
Bayerische Polizei nutzt Asyl-Datei für Ermittlungen in „Cold Cases“
Seit 2015 dürfen auch Polizeibehörden das Eurodac-System zur Strafverfolgung und Gefahrenabwehr nutzen und die dort enthaltenen Fingerabdrücke durchsuchen, um damit terroristische oder andere schwerwiegende Straftaten aufzuklären oder zu verhindern. Möglich sind Abfragen dieser „Kategorie 4“ mit Daten aus der erkennungsdienstlichen Behandlung, aber auch mit Fingerabdrücken, die an Tatorten gefunden wurden. In diesem Fall liefert das System eine Reihe von am besten übereinstimmenden Kandidaten möglicher Treffer.
In der „Kategorie 4“ von Eurodac wurden 2022 insgesamt 1.491 Abfragen durchgeführt, gegenüber dem Vorjahr ist dies ein Anstieg um mehr als das Doppelte. 98 Prozent dieser Suchläufe stammten von Polizeibehörden aus Deutschland.
Die Bundestagsabgeordnete Clara Bünger hat das Innenministerium zu den Gründen dieser auffälligen Verteilung gefragt. Laut der Antwort ist dafür das bayerische Landeskriminalamt verantwortlich. Dieses habe 2022 insgesamt 1.261 Abfragen in Eurodac durchgeführt. Dabei handele es sich zumeist um Recherchen zu „Cold Cases“ zur Aufklärung von Tötungsdelikten.
111 falsche Treffer
Die bayerische Trefferquote in der „Kategorie 4“ betrug jedoch nur 0,4 Prozent. „Der Natur der Sache geschuldet muss hier von einer geringen Aufklärungsquote ausgegangen werden“, erklärt das Bundesinnenministerium zu den Altfall-Abfragen aus Bayern. „Die äußerst geringen Treffer-Zahlen unterstreichen, dass die 2015 erfolgte Öffnung von Eurodac für den Zugriff der Sicherheitsbehörden schlicht überflüssig war“, kommentiert die Linken-Politikerin Bünger gegenüber netzpolitik.org. Die Funktion trage „ganz offensichtlich nicht dazu bei“, schwere Straftaten aufzuklären oder die Sicherheit der Bürger:innen zu erhöhen.
Ohne die „Cold Cases“ lag diese Quote im Vorjahr jedoch viel höher. Deutsche Behörden hatten 2021 insgesamt 55 Abfragen mit Fingerabdrücken durchgeführt und dabei 21 passende Einträge in Eurodac gefunden. 2022 haben die Strafverfolgungsbehörden aller Teilnehmer der Fingerabdruckdatei 30 Treffer erzielt. Jedoch erzeugt Eurodac auch falsche Treffer: 2022 wurden eu-LISA dazu aus den Mitgliedstaaten in allen Kategorien 111 Vorkommnisse gemeldet, heißt es in der Statistik.
Bünger übt aber auch eine grundsätzliche Kritik an Eurodac. Mit der Datei würden die Behörden ermächtigt, „noch tiefer als zuvor in die Grundrechte von Geflüchteten einzugreifen“. Deshalb müssten die Erfassung von Daten über Geflüchtete und Zugriffsrechte der Behörden darauf wieder eingeschränkt werden, so die Abgeordnete.
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