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Barrierefreiheit: Verwaltungsdigitalisierung mit Hürden

Wer sehbehindert ist und einen Personalausweis beantragen möchte, steht buchstäblich vor gleich mehreren Hindernissen. Zwar obliegt die digitale Barrierefreiheit laut Onlinezugangsgesetz den Verwaltungen. Doch sie und die Politik behandeln diese Aufgabe nachrangig und verhindern so gesellschaftliche Teilhabe aller.

Symbolbild, Kollage - Im Vordergrund sind Wellenbrecher aus Beton aufgetürmt, dahinter ragen Aktenstapel in die Höhe, vor einem blauen Himmel mit ein paar Wolken
Die Verwaltungsdigitalisierung tut sich schwer mit Barrierefreiheit (Symbolbild) – Alle Rechte vorbehalten Wellenbrecher: Unsplash/Gabriel Komorov; Aktenstapel: IMAGO/Shotshop; Montage: netzpolitik.org

„Die Verwaltung sollte wegkommen von diesem PDF-Fetisch“, sagt Casey Kreer. Sie ist freiberufliche Beraterin für Barrierefreiheit und Web-Entwicklerin. Kreer ist von Geburt an sehbehindert und nutzt seit ihrem sechsten Lebensjahr assistive Technologien. Das sind Hilfsmittel wie Spezialtastaturen und -mäuse, Spracheingabe- und Vergrößerungssoftware sowie Screenreader.

Mit Hilfe des Screenreaders macht sich Kreer Webseiten und PDFs mühsam zugänglich. Im Gegensatz zu HTML-Dokumenten oder dem offenen E-Book-Format ePUB sind PDFs relativ unflexibel. Sie lassen es beispielsweise nicht zu, Textgröße oder Bildinhalte zu verändern. Zudem gibt es kaum Tagging-Optionen, um die Einstellungen im Screenreader anzupassen. Tags markieren Elemente wie Absätze, Grafiken, Überschriften oder Tabellen, die der Screenreader erkennen soll.

Daher sind PDF-Dateien alles andere als nutzer:innenfreundlich. „Barrierefreiheit, User Experience und Usability gehen immer Hand in Hand. Wenn man die eine Sache gut macht, dann ist die andere meistens sehr gut.“ Spricht die junge Frau mit dem roten Tuch um den Kopf von Barrierefreiheit, dann sprüht sie einerseits vor Elan und äußert viele Ideen, wie sich diese gut umsetzen ließe. Zugleich zeigt sie sich desillusioniert. Es gebe viele Möglichkeiten, das öffentliche Digitalangebot barrierefrei zu machen. Getan werde bislang jedoch viel zu wenig dafür.

Standards, wo es sonst an Standards mangelt

Dabei birgt Digitalisierung nicht nur für Nutzer:innen mit Beeinträchtigungen viele Chancen auf gesellschaftliche und politische Teilhabe. Sie könnte sie dazu befähigen, selbstbestimmt einen Antrag zu stellen oder nach Informationen zu suchen. Dazu braucht es digitale Barrierefreiheit. Doch Verwaltungen behandeln sie in vielen Digitalisierungsprojekten nachrangig. Nutzer:innen, die darauf angewiesen sind, stoßen auf Barrieren, die leicht vermieden werden könnten, wenn die Verwaltung die gesamte Gesellschaft in den Blick nimmt.

Entsprechende Vorgaben müssen Bund, Länder und Kommunen erfüllen. Seit 2016 gibt es die EU-Richtlinie „über den barrierefreien Zugang zu den Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen“. Sie wurde ins Behindertengleichstellungsgesetz und in die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV) eingebunden.

Wenn es darum geht, Barrierefreiheit in einem Digitalisierungsprojekt technisch umzusetzen, dann weist die europäische Norm EN 301 549 den Weg. Sie umfasst die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG), ein internationaler Standard für barrierefreie Webinhalte. Und auch das Onlinezugangsgesetz verpflichtet Bund und Länder, einen „barriere- und medienbruchfreien Zugang zu elektronischen Verwaltungsleistungen“ zu schaffen.

Zu wenig Fachpersonal

Um diese Vorgaben zu berücksichtigen, sind öffentliche Stellen jedoch auf Fachpersonal und zusätzliche Ressourcen angewiesen. Durch die geplanten Mittelkürzungen für die Verwaltungsdigitalisierung werden diese allerdings noch knapper ausfallen als bisher. Menschen mit Expertise sind zudem rar gesät. Kreer ist so ein Mensch. Täglich wird sie um Mithilfe und Rat gebeten, auch und gerade von Behörden. Als Ein-Frau-Unternehmen kann sie davon jedoch nur einen Bruchteil bearbeiten.

Dass es zu wenig Fachpersonal gibt, verdankt sich auch dem fehlenden Bewusstsein darüber, wie wichtig digitale Barrierefreiheit. Meist werden schon die Barrieren selbst nicht erkannt – oder anerkannt. Im Umgang mit Behörden stoße er regelmäßig auf Unverständnis und Intoleranz, sagt Dominik Fels. Er ist Experte für Barrierefreiheit in der illume Akademie, ein Projekt des PIKSL Labors in Düsseldorf. Fels unterstützt Menschen dabei, digitale Kompetenzen zu erlernen und aktiv an der digitalen Gesellschaft teilzunehmen. Über Videos in sozialen Medien wie TikTok oder YouTube spricht er von seinem Alltag im Rollstuhl. Er wurde mit linksbetonter Tetraspastik geboren. Die Muskeln in seinen Extremitäten sind daher dauerhaft angespannt. Mit seinen Videos will Fels Vorurteile bei anderen Menschen abbauen.

Barrieren im Kopf

Fels meidet es, mit der Hand zu schreiben oder auf einem Touchscreen zu tippen. Stattdessen benutzt er eine Tastatur oder die Diktierfunktion seines Laptops oder Smartphones. Gegenüber Behördenmitarbeiter:innen müsse er sich immer wieder erklären und hartnäckig bleiben, um nicht abgewiesen zu werden. „Du musst den Bordstein erst gespürt haben, bevor du verstehst, dass er ein Hindernis ist“, sagt Fels. Viele Verwaltungsmitarbeiter:innen nähmen sich nicht die Zeit, um zu verstehen, was Barrieren sind, und individuelle Lösungen anzubieten. Stattdessen verweisen sie auf gesetzliche Betreuer:innen, die bei Problemen helfen könnten.

Das widerspreche dem zeitgemäßen Verständnis von Behinderung, sagt Inga Gebert. Sie arbeitet als Medienpädagogin bei PIKSL und leitet das Projekt illume Akademie. Nicht die Person sei behindert, sondern ihr Umfeld behindere die Person. „Im Verwaltungskontext wird nicht gefragt, wie wir Menschen dazu befähigen, selbstbestimmt eine Leistung in Anspruch zu nehmen“, so Gebert, „sondern es wird oft die Verantwortung bei der Person gesucht, wenn etwas nicht klappt.“

Das nächste große Ding für digitale Zugänglichkeit?

Menschen wie Fels wollen es selbst in die Hand nehmen, Verwaltungsleistungen zu beantragen. Dafür braucht es „Aufklärung, Sensibilisierung über Schulungen“ in öffentlichen Verwaltungen, wie sie Kreer anbietet oder auch die Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik (BFIT-Bund). Die Behörde prüft stichprobenartig Webseiten des Bundes auf ihre Barrierefreiheit und verfasst Prüfberichte. Außerdem berät sie Ministerien und nachgeordnete Behörden dabei, wie sie ihre digitalen Angebote verbessern können. Auch durch Webinare und Vorträge auf Großveranstaltungen wie der re:publica versucht sie, ein Bewusstsein für barrierefreie digitale Angebote zu schaffen.

Von Brüchen und Fachverfahren

„Barrieren im Digitalen fallen weniger auf“, so Alexander Pfingstl, Mitarbeiter bei der BFIT-Bund. „Beim Bauen beispielsweise hat man das verstanden, dass eine Türöffnung so breit sein muss, dass ein Rollstuhl durchfahren kann.“ Doch wenn es darum geht, die Überschriftenhierarchie einer Webseite sauber zu gestalten, sieht das meist anders aus. Überschriften helfen etwa blinden Nutzer:innen dabei, die inhaltliche Gewichtung eines Angebots zu verstehen und einen Überblick über die Informationen auf einer Seite zu erhalten.

Das fehlende Bewusstsein ist aber nicht das einzige Problem. Denn die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung weist auch strukturelle Probleme auf. So entwickelten Bund, Länder und Kommunen jeweils eigene Lösungen. Daher gebe es hierzulande auch keine allgemein gültigen Standards, so Pfingstl, die in allen öffentlichen Digitalisierungsprojekten angewendet werden.

Zudem erzeugten „Brüche zwischen Fachverfahren zusätzliche Aufwände, die nur schwer zu lösen“ seien. Brüche bestünden etwa zwischen Medien, wenn also eine Anwendung nicht Ende-zu-Ende digitalisiert ist und Verwaltungsmitarbeiter:innen Onlineformulare ausdrucken und später wieder einscannen müssen. Brüche gebe es aber auch zwischen Fachverfahren. Daten werden dann per Hand von einem System in ein anderes übertragen, weil keine Schnittstelle besteht. Fehler seien dabei an der Tagesordnung.

Während der Bund laut seiner Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV) das größtmögliche Maß an Barrierefreiheit anstrebt, wenn er Formulare im Netz verfügbar macht, schreiben die entsprechenden Verordnungen einiger Bundesländer beispielsweise nicht vor, leichte Sprache und Gebärdensprache zu integrieren. Bund, Länder und Kommunen haben ihre Verwaltungen im unterschiedlichen Maße digitalisiert und das betreffe auch die Barrierefreiheit.

Barrierefreiheit kommt allen Menschen zugute

Schon wenn es darum geht zu erkennen, wie groß und vielfältig die Zielgruppe ist, mangelt es in öffentlichen Stellen an Kompetenz. Laut EU-Richtlinie bedeutet Behinderung, dass Menschen „langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“.

Nach Pfingstl sollte der Adressat:innenkreis um jene Menschen erweitert werden, die situativ oder temporär beeinträchtigt sind. Eine situative Beeinträchtigung besteht zum Beispiel dann, wenn man einen Säugling auf dem Arm hat. Temporär beeinträchtigt ist etwa, wer sich das Handgelenk gebrochen hat. In diesem Sinne aber hilft Barrierefreiheit nicht nur jenen, die eine dauerhafte Einschränkung haben, sondern sie kommt allen Menschen zugute.

Barrierefrei planen

Eine gute Verwaltungsleistung bezieht all diese Gruppen ein. Sie bietet mehrere Wege an, wie Nutzer:innen einen Antrag stellen, sich identifizieren und registrieren können. Das heiße nicht automatisch, dass die Dienstleistung damit barrierefrei ist, so Alexander Pfingstl, aber sie ist damit ohne Blockade nutzbar. Solange Menschen mit Beeinträchtigung nicht die Möglichkeit erhalten, die Dienstleistung selbstbestimmt in Anspruch zu nehmen, tragen sie eine Doppelbelastung: „Neben den inhaltlichen Herausforderungen müssen sie auch technische Probleme lösen.“

Teilhabe von Anfang an mitdenken

Für Softwareentwickler:innen wie Casey Kreer ist klar: Wenn digitale Barrierefreiheit von Anfang an Teil des Projektkonzepts ist, bedeutet sie nur einen geringen Mehraufwand. Und auch Pfingstl schätzt, dass sie die Kosten um etwa nur ein Zehntel erhöht. Versuche man hingegen, Barrierefreiheit nachträglich in ein fertiges Projekt zu implementieren, sei der Mehraufwand meist enorm und kaum noch kalkulierbar.

Um diesen Mehraufwand bewältigen zu können, setzen Verwaltungen zunehmend ihre Hoffnung in die sogenannte Künstliche Intelligenz (KI). Sie soll Barrierefreiheit automatisiert umsetzen. „Als Leistungsanbieter muss ich den Prozess immer aus der Sicht der Bürger:innen mit Beeinträchtigung her denken. Wie werden sie befähigt, ein Angebot wahrzunehmen?“, erklärt Pfingstl. KI könne geplante oder bestehende Digitalisierungsprozesse hier zwar unterstützen. Die Verantwortung für Barrierefreiheit könne sie uns als Gesellschaft aber nicht abnehmen, mahnt Pfingstl.

Wir müssten uns schlichtweg damit auseinandersetzen, dass es viele verschiedene Menschen gibt, die „unterschiedliche Grundvoraussetzungen haben und die auf ganz unterschiedliche Arten und Weisen mit Angeboten interagieren werden“. Digitalisierung betreffe alle Menschen und sei daher auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.


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