Ein Vorschlag im Rat der EU-Staaten will Staatstrojaner-Überwachung gegen Journalist:innen erlauben – bei „zwingendem Erfordernis des Allgemeininteresses“. Dieser Gummiformulierung könnte den Sinn des Gesetzes ad absurdum führen.
Eine Reihe an EU-Staaten arbeitet hinter verschlossenen Türen daran, den Schutz von Journalist:innen vor Überwachung im geplanten EU-Medienfreiheitsgesetz zu schwächen. Das geht aus einem Kompromissvorschlag der schwedischen Ratspräsidentschaft hervor, den netzpolitik.org im Volltext veröffentlicht.
Mit ihrer Gesetzesinitiative für das Europäische Medienfreiheitsgesetz reagierte die EU-Kommission im vergangenen Herbst auf steigende Besorgnis über die Lage der Pressefreiheit in EU-Staaten wie Ungarn, Polen und Griechenland. Dort sinkt zunehmend die Unabhängigkeit und Vielfalt der Medienlandschaft, zudem haben Regierungen Journalist:innen mit Staatstrojanern gehackt. Der Gesetzesvorschlag soll Einflussnahme auf die Presse und Überwachung von Journalist:innen explizit verbieten. Auch sollen die Staaten Transparenz bei der Eigentümerschaft von Medien und bei Geldflüssen an die Presse schaffen. Über das Gesetz beraten derzeit das EU-Parlament und der Rat der EU-Staaten.
Wie nun bekannt wird, drängen bei den nicht-öffentlichen Beratungen im Rat einige Staaten auf eine Abschwächung des Artikels 4 des Kommissionsentwurfs. Dieser soll Journalist:innen und ihre Familienangehörigen vor Überwachung schützen. Explizit wird im Entwurf der Kommission der Einsatz von Staatstrojanern verboten, um an die Quellen von Journalist:innen zu kommen – allerdings gibt es dabei Ausnahmen „im Einzelfall aus Gründen der nationalen Sicherheit“ sowie in Ermittlungen bei schweren Straftaten.
Der Vorschlag für Artikel 4 stößt einigen Staaten offenbar generell auf: Der Textentwurf der Kommission für den Artikel sei „teilweise überflüssig, teilweise verletzt er die Souveränität der Mitgliedsstaaten, und teils erfüllt er nicht die Bedingung der Rechtssicherheit“, schrieb Ungarn in einer bislang nicht öffentlich bekannten Stellungnahme. Das Gesetz dürfe nicht den Spielraum der Staaten für „Untersuchungen und Strafverfolgung“ einschränken.
Polen wandte in seiner Stellungnahme ein, dass es keine Basis im EU-Recht für ein Gesetz sehe, sich in die Strafverfolgung einzelner Mitgliedsstaaten einzumischen. Die französische Regierung schlug vor, den Schutz auf Journalist:innen zu beschränken und Angehörige aus dem Vorschlag herauszustreichen.
Gummiformulierung „zwingendes Erfordernis“
Die schwedische Ratspräsidentschaft streicht den fraglichen Artikel in ihrem aktuellen Textvorschlag nicht, nimmt allerdings deutliche Veränderungen vor. Bestimmungen gegen die Überwachung von Journalist:innen werden beschränkt auf den Quellenschutz. Auch dieser gilt demnach nur, „es sei denn, [Überwachungsmaßnahmen] sind durch ein zwingendes Erfordernis des Allgemeininteresses gerechtfertigt und im nationalen Recht vorgesehen“. Diese Einschränkung soll für die Bestimmungen zur Überwachung durch Staatstrojaner gelten, aber auch andere Schutzmaßnahmen gegen Überwachung für Journalist:innen.
Eine solche Formulierung öffne jedoch Tür und Tor für eigenmächtige Interpretation der Mitgliedstaaten, kritisieren sozialdemokratische Politiker:innen im Europaparlament. Sie bedeuteten eine Schwächung des Quellenschutzes von Journalist:innen in Deutschland und anderen Staaten, argumentiert die SPD-Abgeordnete Petra Kammerevert gegenüber netzpolitik.org. „Ein European Media Freedom Act muss hier europaweit einen absoluten Schutz gewähren und darf nicht unter das bestehende Schutzniveau in Deutschland zurückfallen.“ Eine ähnliche Gummiformulierung tauche allerdings auch in Vorschlägen der Chefverhandlerin des EU-Parlaments auf, der rumänischen Abgeordneten Ramona Strugariu.
Gemeinsam mit ihren Fraktionskolleginnen Birgit Sippel und Elena Yoncheva schlägt Kammerevert stattdessen Änderungen am Text vor, die Quellenschutz und Schutz von Journalist:innen vor Überwachung gewährleisten sollen. Noch ist allerdings unklar, ob es im zuständigen Bürgerrechteausschuss dafür eine Mehrheit gibt.
Wie genau der vorliegende Textentwurf des Rates zustande kam, ist unklar. Der Rat der EU-Staaten muss nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichts vom Januar grundsätzlich alle Arbeitsdokumente auf Anfrage herausgeben. Auf unsere Frage hin hat der Rat alle bisher produzierten Arbeitsdokumente verfügbar gemacht. Sie sind hier als zip-Datei abrufbar.
Allerdings sind in den Dokumenten nur schriftliche Eingaben der EU-Staaten enthalten – was in den Sitzungen der Ratsarbeitsgruppen besprochen wird, hält der Rat nicht schriftlich fest. Nur vereinzelt kommen Mitschriften solcher Sitzungen ans Tageslicht. Verhandlungen von Rat und Parlament über einen endgültigen Gesetzestext werden noch für dieses Jahr erwartet.
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