Der Zustand der deutschen Digitalisierung zeigt sich beim Störfall einer Download-Anlage in Nordrhein-Westfalen. Wegen einer „massiven technischen Störung“ musste im Bundesland das Zentralabitur in einigen Fächern um zwei Tage verschoben werden. Noch ist unklar, wann die Anlage wieder hochgefahren wird. Ein Kommentar.
Der Bildungs- und Innovationsstandort Nordrhein-Westfalen (NRW) ist gerade an der Mammut-Aufgabe gescheitert, ein paar Dateien zum Herunterladen anzubieten. In der Pressemitteilung des zuständigen Ministeriums heißt es: „Beim Download der schriftlichen Abituraufgaben für das Zentralabitur hat es am heutigen Dienstag, 18. April 2023, eine massive technische Störung gegeben.“ Der Tonfall der Mitteilung erweckt den Eindruck, es handele sich um einen hoch anspruchsvollen Vorgang in einer Fabrikanlage. Man ist versucht, zu ergänzen: Zu keiner Zeit entstand eine Gefahr für Leib und Leben der Einwohner:innen des Bundeslandes, es flossen lediglich 600.000 Liter giftiges Downloadwasser in den Rhein bei Düsseldorf.
Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: Das Land vermeldet eine „massive technische Störung“ – beim Download von Abiturklausuren. Die Bildungsministerin Dorothee Feller (CDU) äußerte sich heute morgen zum Störfall in der hochkomplexen Download-Anlage. Sie machte im von ihrem Ministerium verbreiteten Statement allerdings keine Angaben zu den Gründen für den Störfall selbst: „Bis zum Schluss hatten wir auch durchaus die Hoffnung, dass wir eine Lösung finden, aber als sich dann abzeichnete, es könnte noch länger dauern, haben wir gesagt jetzt müssen wir entscheiden und jetzt müssen wir doch leider verschieben.“
Na gut, auch ein Raketenstart in Cape Canaveral muss gelegentlich verschoben werden. Vertagt hat das konservative Ministerium die Abiprüfung nun treffsicher auf Weihnachten das muslimische Zuckerfest am Freitag.
Wenn die Schüler:innen für ihr Zentralabitur nicht zufällig die gesamten Trainingsdaten für GPT-4 durchforsten sollten, dürfte man davon ausgehen, dass sich die Dateigröße des Klausurmaterials von ein paar Schulfächern in Grenzen hält. Und eigentlich dürfte das Download-Vorhaben auch keine Server überlasten, denn mit landesweit 623 Gymnasien und 364 Gesamtschulen sollte ein halbwegs vorbereiteter Anbieter ja wohl klarkommen. Da wird man nicht überrannt und kennt sogar die Anzahl der User. Skalierbarer geht wirklich nimmer.
Upload zu 96 Prozent „gelungen“
Derzeit berichten Nachrichtenmedien, dass möglicherweise eine zu große Filmdatei die technische Infrastruktur eines externen Dienstleister zum Kollaps gebracht habe. Im Gespräch ist auch, dass vielleicht die neu eingeführte Zwei-Faktor-Authentifizierung ein Grund für den kritischen IT-Zwischenfall sein könnte. Auf diese Sicherheitsmaßnahme wolle man laut Kölner Stadtanzeiger nun verzichten. Die Zeitung zitiert die Bildungsministerin, die von den staatlichen Bemühungen berichtet, den Download doch noch irgendwie möglich zu machen: Demnach sei es „gelungen“, 96 Prozent der Aufgaben upzuloaden. „Die 100 Prozent habe man aber leider nicht mehr erreichen können“. Gegen ein paar Aufgaben weniger hätten die Schüler:innen sicher nichts einzuwenden…
Zu allem Übel verschärfen offenbar auch Sicherheitslücken die Lage. Denn auch das ist passiert: Daten, die wie die Abiturklausuren aussahen, ließen sich laut der Sicherheitsforscherin Lilith Wittmann offen zugänglich im Internet auf einem Testserver finden. Ob das wohl die fehlenden vier Prozent der Uploads der Ministerin waren? Die Bildungsministerin bezeichnet den Tweet von Wittmann laut dem WDR gar als „gefälscht“. Wittmann sagt im gleichen Artikel: „Es ist nur das Testsystem, aber es sagt einiges über die Sicherheit des Produktivsystems aus.“
Die Aufarbeitung des Vorfalls läuft vermutlich „auf Hochtouren“ und es wird spannend, welches verharmlosende Wort dieses Mal für „Inkompetenz“ gefunden wird. Denn Hand aufs Herz: Es kann doch nicht zu viel verlangt sein, dass der Staat an knapp 1.000 staatliche Abnehmer zuverlässig, sicher und verschlüsselt ein paar Dateien zur Verfügung stellt. Und wenn man das alles nicht digital schafft, dann schickt man eben Einschreiben an diese knapp 1.000 Schulen oder bringt Kuriere mit Festplatten auf den Weg. Oder was auch immer.
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