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We fight for your digital rights!: „Wenn sie das durchkriegen, ist der Damm gebrochen.“

Es ist ein Kampf, der schon mehr als ein Jahrzehnt andauert. Constanze Kurz war von Anfang an dabei. Sie ahnte damals nicht, wie schwer es wird, den Versuch der anlasslosen Massenüberwachung zu vereiteln, als ihr vor 14 Jahren ein zentimeterdicker Umschlag überreicht wurde.

Fotografie von Constanze Kurz mit Beschriftung
Kommt mit uns in den Maschinenraum von netzpolitik.org: In sieben Videos und persönlichen Einblicken zeigen wir euch, mit welchen Prinzipien und mit welchen Mitteln unsere Redaktion arbeitet. CC-BY-NC-SA 4.0 – Foto: Darja Preuss, Bearbeitung: netzpolitik.org – owieole

Angefangen hat alles lange vor meiner Zeit bei netzpolitik.org. Ich arbeitete noch an der Uni und mir wurde ein zentimeterdicker Umschlag überreicht, darin Dokumente verbunden mit der Frage, ob ich mich beim Bundesverfassungsgericht sachverständig äußern würde. Es war der Fragenkatalog zur Verfassungsbeschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung, also zur Massenüberwachung von Telekommunikationsdaten.

Plötzlich ging es um die gesamte Bevölkerung

Ich habe mich davor viel mit Biometrie befasst, also Verfahren, die menschliche Körpermerkmale vermessen und analysieren. Es gab dabei ein paar Aspekte, die auch Massenüberwachung betreffen. Die Idee, alle erwachsenen Menschen anlasslos biometrisch zu erfassen, ist ein bisschen älter noch als die Idee der massenhaften Erfassung von Telekommunikationsdaten.

Aber bei der Vorratsdatenspeicherung war es gewissermaßen holistisch: Es ging plötzlich um die gesamte Bevölkerung und nicht nur um einen Anteil. Außerdem war es die erste wirklich in der breiten Öffentlichkeit geführte Debatte um technisierte Massenüberwachung, die häufig in den Nachrichten vorkam.

Die Menschen gingen wieder auf die Straße

In der Zeit vor der Bundestagswahl 2009 wurde das Thema zum Politikum, stärker als zuvor. An den Protesten der Freiheit-statt-Angst-Demos beteiligten sich damals auch die politischen Parteien – außer die CDU.

Das Beschwerdeverfahren gegen die Vorratsdatenspeicherung war die zahlenmäßig größte Verfassungsbeschwerde, die die Bundesrepublik je gesehen hatte. Es brachte sehr viel Aufmerksamkeit für die Umsetzung der Idee, die gesamte Bevölkerung in ihrem Kommunikationsverhalten zu erfassen. Das erschien vielen damals unglaublich monströs. Das ist heute vielleicht nicht mehr unbedingt so, man ist diese Forderung mittlerweile gewöhnt.

Aber damals dachten viele: Wenn sie das durchkriegen, dann können sie auch andere anlasslose große Datensammlungen durchsetzen. Das ist ein Dammbruch. Und die Tatsache, dass Speicher billiger werden und dass die Software, mit der man solche Daten analysiert, einfacher verfügbar und auch mächtiger in ihren Funktionen wird, war damals schon absehbar.

Wenn man sich heute durchliest, was zum Beispiel in der damaligen Stellungnahme (pdf) steht, aber auch in anderen, die Sachverständige dort abgegeben haben, dann sieht man, dass technische Entwicklungen, die sich danach gezeigt haben, schon prognostiziert wurden.

Ein Kampf über ein Jahrzehnt

Als es losging in der mündlichen Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde und in der Zeit, bevor das Urteil kam, war die Hoffnung groß, dass das Gericht dem Vorhaben eine wirklich harte Grenze setzt – dass sie entscheiden, diese Form von anlassloser Massenüberwachung ist mit unserer Verfassung letztlich nicht zu vereinbaren. Wir haben natürlich gefeiert, als das Urteil kam: Nicht nur, dass die Vorratsdatenspeicherung unrechtmäßig war und verfassungswidrig, sondern auch, dass die Daten sofort gelöscht werden mussten. Für so gefährlich hat das Gericht diese Idee gehalten. Es war ein großer Erfolg.

Aber die kleinen Türen, die dabei offen blieben, sind als viel größer interpretiert worden, vor allem politisch. Das liegt auch an der EuGH-Rechtsetzung, denn der Europäische Gerichtshof verfügte in seinen letzten Urteilen zur Vorratsdatenspeicherung zwar, dass man so eine riesenhafte anlasslose Datensammlung auf das unbedingt Notwendige beschränken müsse. Eine Ausnahme wären aber zum Beispiel konkrete terroristische Gefahrensituationen. Nun fangen die ersten Regierungen an zu sagen: Wir könnten uns eigentlich eine beständige Terrorismusgefahr hindefinieren. Wir müssen das nur juristisch so fassen, dass wir die Vorratsdatenspeicherung dann trotzdem umsetzen können.

Es hat sich eine Selbstverständlichkeit eingeschlichen, mit der die Vorratsdatenspeicherung immer wieder gefordert wird. Staatliche Massenüberwachung ist mittlerweile in gestandenen Demokratien ein Standard-Forderungskatalog-Element in konservativen Kreisen, das von der absoluten Ausnahme zu einer normalen politischen Forderung verkommen ist. Gegen diese Normalisierung der Massenüberwachung muss man sich wehren, sonst wird sie alltäglich.

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Gezielte statt anlassloser Überwachung

In Deutschland war und ist der Treiber für Massenüberwachung das Bundesinnenministerium, aber in Teilen auch das Bundeskanzleramt. Es geht ja nicht nur um die Interessen der Polizei, sondern auch um die Interessen der Geheimdienste. Bei den Behörden besteht der Wunsch, möglichst alle Daten bekommen zu können, die möglich sind. Das ist vielleicht verständlich aus Sicht der Verbrecherjagd. Und wenn, um eine Straftat aufklären zu können, nun mal Millionen andere Datensätze aufgezeichnet werden müssten, dann nehmen das manche in Kauf.

Doch der Kampf gegen Massenüberwachung darf nicht als Gegnerschaft von Kriminalitätsbekämpfung oder von individuellen Überwachungsmaßnahmen umdefiniert werden. Tatsächlich ist es ein Kampf gegen anlassloses milliardenfaches Wegspeichern von Daten über Menschen.

Manche Leute scheinen zu denken: Ja, was habt ihr denn gegen Verbrechensbekämpfung? Die Antwort ist einfach: nichts, im Gegenteil. Denn oft ist die Idee, sich technisch von einer Massenüberwachung zu verabschieden, damit verbunden, qualitativ bessere Verfahren einzuleiten, die individualisiert überwachen und wirklich was nutzen. Alternativvorschläge, gerade auch bei der Vorratsdatenspeicherung, gehen genau in diese Richtung: nicht alle und jeden überwachen, sondern sich darauf konzentrieren, wie man mit technischen Mitteln Verbrechensbekämpfung sinnvoll betreiben kann.

Fakt ist: Wenn jemand einer Straftat konkret verdächtigt ist, haben Ermittler heute alle Möglichkeiten bei technischen Überwachungsmaßnahmen. Das ist auch grundsätzlich in Ordnung. Denn eine individuelle technische Überwachungsmaßnahme ist eben nicht anlassloses Überwachen von allen.

Im Analogen inakzeptabel, im Digitalen Normalität

Im Digitalen scheint einiges anders als in der analogen Welt. Denkt man an einen alten Krimi in vordigitalen Zeiten: Niemand wird auf die Idee kommen, dass ein Kommissar in den Siebzigern überhaupt den Gedanken haben würde, dass er tagelang unterm Sofa von zig Leuten liegt und deren Leben belauscht.

Es hat sich aber heute bei vielen so festgesetzt, dass digitalisierte Informationen zugänglich sein müssen. Doch wir haben auch eine höchstpersönliche Ebene bei diesen Daten. Und wir brauchen ein neues Konzept von Privatsphäre und auch von Intimsphäre, denn das ist im Digitalen noch nicht gut geklärt. Ansonsten werden wir in einer massenhaft überwachten Gesellschaft landen, aus der wir nicht mehr herausfinden.

Das Denken, dass es keine Form von Kommunikation geben darf, in die man nicht potenziell reinhören kann, hat sich verbreitet. Das ist neben der eigentlichen Idee der Vorratsdatenspeicherung eine Art schwerer Kollateralschaden. Die aktuelle Idee der Chatkontrolle, was auch eine Form der Massenüberwachung ist, spricht Bände darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit und in welchem Ausmaß etwas gefordert wird, was die Kommunikation von vielen Millionen Menschen betrifft. Es ist fast unerklärlich, wie wenig reflektiert dabei über das Grundrecht auf Achtung der Privatsphäre hinweggegangen wird.

Wir müssen uns nicht dafür rechtfertigen, Grundrechte zu haben

Diejenigen, die massive Einschränkungen von Grundrechten fordern, müssen dafür gute Gründe vorlegen. Haben sie keine oder keine evidenzbasierten, dann darf man nicht in die Defensive rutschen. Die Grundrechte sind uns quasi geschenkt worden, glücklicherweise. Wir müssen uns nicht dafür rechtfertigen, sie auch in der Praxis umgesetzt sehen zu wollen.

Ich wehre mich auch gegen den Begriff Abwehrkampf. Faktisch ist es natürlich einer, da die immer wiederkehrende Forderung etwa nach einer Vorratsdatenspeicherung auch juristisch immer wieder abgewehrt werden muss. Aber in Wahrheit sollte sich niemand dafür verteidigen müssen, dass er ein Grundrecht auch ausübt. Dafür besteht kein Rechtfertigungsdruck. Denn alle, die diese Grundrechte einschränken wollen, müssen dafür ordentliche Gründe vorbringen. Und sie müssen Argumente haben und nicht nur Sockenpuppen oder Anekdoten.

Privatsphäre als Störfaktor

In den vergangenen Jahren kam in Deutschland eine Entwicklung hinzu, die in die Richtung geht, Datenschutz als den ewigen Hemmschuh, als Innovationshindernis, als Verkomplizierung oder als alles drei hinzustellen. Dieses Framing hat enorm zugenommen. Privatsphäre ist dann kein zu schützendes Grundrecht mehr, das mit dem Kern der Menschenwürde in Verbindung steht, sondern ein bloßer Störfaktor.

Trotzdem gilt generell, dass politische Debatten bei uns in Deutschland auch dadurch gekennzeichnet sind, dass Datenschutz zumindest mitgedacht wird. Und wir von netzpolitik.org haben auch einen Anteil daran. Es gibt eben eine gewisse Selbstverständlichkeit, mit der wir das ansprechen können, mit der wir auch von einer Community getragen werden. Wenn sich keiner dafür interessieren würde, könnten wir nicht existieren. Und ich höre häufig aus anderen Ländern, dass sie sich so eine Plattform wie netzpolitik.org wünschen würden, allein schon, um Debatten anzustoßen und weiterzuführen.

Beispielsweise das deutsche Urteil zur Vorratsdatenspeicherung war eine international beachtete Entscheidung. Dass vom Gericht ein Pflock eingehämmert wurde, hat nicht nur die deutsche politische Debatte verändert.

Fast 1.000 Artikel zur Vorratsdatenspeicherung

Wir werden ganz sicher nicht aufhören, weiter über technisierte Massenüberwachung zu berichten. Wir sind da Überzeugungstäter. Wir haben über die Jahre fast eintausend Artikel allein zur Vorratsdatenspeicherung angesammelt. Das ist natürlich auch ein Zeichen, wie wichtig wir das Thema immer wieder nehmen. Und wir haben eine Expertise angehäuft, die man anderswo nicht hat. Damit ist nicht nur die Technik an sich gemeint, sondern zum Beispiel auch politische Abläufe und Absprachen, juristische Feinheiten, die mit der Technik zusammenhängen, oft auch die politische Gemengelage – und was etwa argumentativer Bullshit ist, der trotzdem immer wiederholt wird.

Ich würde mir wünschen, dass Menschen gegen Massenüberwachung wieder auf die Straße gehen. Aber die Situation in Deutschland kommt derzeit solchen Protesten nicht entgegen: Die Leute haben einfach andere Probleme, die finanzielle Situation und natürlich auch der Krieg in der Ukraine. Ich kann verstehen, dass für viele Menschen Überwachung aktuell nicht das drängendste Problem ist. Doch die Freiheit von Überwachung, insbesondere von dauerhafter anlassloser Massenüberwachung, bleibt letztlich die Voraussetzung für politische Veränderung: Eine überwachte Gesellschaft kann sich nur schwer ändern, sie erstarrt.

Der Text basiert auf einem Gespräch, das Stefanie Talaska geführt und aufbereitet hat.

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