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Deutscher Anwaltverein: „Bundesregierung muss EU-Pläne zur Totalüberwachung ablehnen“

Der Deutsche Anwaltverein lehnt die Chatkontrolle rundherum ab. Er vergleicht die EU-Pläne damit, dass bei der Post alle Briefe und Pakete geöffnet und auf strafbare Inhalte untersucht würden. Von der Bundesregierung fordert der Verband, die Pläne auf EU-Ebene abzulehnen.

Auge, sehr nah fotografiert mit technisch anmutendem Rand um die Pupille.
Die geplante Chatkontrolle verletzt gleich mehrere in der EU-Grundrechtecharta verankerte Rechte, sagt der DAV. Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Arteum.ro

Der Deutsche Anwaltverein (DAV) kritisiert die bisherige Haltung des Bundesinnenministeriums zur Chatkontrolle und fordert eine klare Ansage der Bundesregierung. Die Chatkontrolle sei weder verhältnismäßig noch mit den Freiheitsgrundrechten vereinbar und sie bedrohe das Mandatsgeheimnis, heißt es in einer Pressemitteilung der Interessensvertretung von Rechtsanwälten. Die Bundesregierung müsse sich klar zum Grundrechtsschutz bekennen und zum Koalitionsvertrag stehen, so der DAV weiter.

Nachdem es in den Koalitionsfraktionen in dieser Woche gebrodelt hatte, hat Justizminister Marco Buschmann (FDP) gestern auf Twitter eine Einigung mit Innenministerin Nancy Faeser (SPD) verkündet, ohne jedoch weitere Details zu nennen. Ob dies schon die „Leise Absage an die Chatkontrolle“ ist, wird die spätere Einigung der Bundesregierung zeigen.

Bei der „Chatkontrolle“ handelt es sich um eine derzeit in Brüssel verhandelte EU-Verordnung zur Bekämpfung von sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Während das Ziel Kinderschutz nicht umstritten ist, sind es die bisher im Gesetz enthaltenden Maßnahmen, die zu einer neuen Form von anlassloser Massenüberwachung führen würden. Ein Teil davon ist das sogenannte Client-Side-Scanning. Der Einsatz dieser Technologie würde dazu führen, dass E-Mails, Messenger-Dienste und weitere Kommunikationsplattformen anlasslos und massenhaft überwacht werden. Beim Client-Side-Scanning werden Inhalte auf den Geräten der Nutzer:innen vor dem Versand von Nachrichten durchsucht und somit eine spätere Ende-zu-Ende-Verschlüsselung unterlaufen.

Verletzt die EU-Grundrechtecharta

„Dass die EU stärker gegen Kindesmissbrauch vorgehen will, ist ohne Frage zu unterstützen“, betont Rechtsanwalt Dr. David Albrecht, Mitglied des DAV-Ausschusses Gefahrenabwehrrecht. „Stellen Sie sich vor, die Post würde unterschiedslos alle Briefe und Pakete öffnen und auf strafbare Inhalte überprüfen“, so Albrecht. Mit dem Recht auf Achtung des Privatlebens, dem Recht auf Schutz personenbezogener Daten und dem Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit verletze eine solche Maßnahme gleich mehrere in der EU-Grundrechtecharta verankerte Rechte.

Der DAV geht davon aus, dass eine solche Verordnung keine Zukunft haben würde, weil sie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) widersprechen würde. Der Verband kritisiert die Technologie zudem wegen möglicher Sicherheitsrisiken und warnt davor, dass Geräte kompromittiert und ausgelesen werden könnten.

Auch vor der automatisierten Detektion von Grooming, einer strategischen Online-Annäherung von erwachsenen Täter:innen an Minderjährige, warnt der DAV. „Die EU-Kommission geht beispielsweise bei Scans auf Grooming-Inhalte von einer Falsch-Positiv-Rate von 10 Prozent aus“, sagt der Fachanwalt für Strafrecht. Unter solchen Voraussetzungen würden täglich milliardenfach Inhalte zu Unrecht als strafbar gemeldet. Außerdem müssten dafür alle Nutzer:innen klar verifiziert werden – ohne Klarnamen- und Identifizierungspflicht sei das nicht umsetzbar. Damit würden sämtliche Internetnutzer:innen unter einen Generalverdacht gestellt.

„Auf europäischer Ebene deutlich gegen Chatkontrolle positionieren“

Zudem wäre von einer Chatkontrolle auch die Kommunikation zwischen Anwält:innen und ihrer Mandantschaft betroffen. „Kritisch ist das insbesondere für Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen, die Opfer oder Beschuldigte in Missbrauchsfällen vertreten“, warnt Albrecht. Sie könnten nicht mehr davon ausgehen, dass online ausgetauschte Nachrichten und Dateien vertraulich blieben. Die berufs- und strafrechtlichen Risiken seien so hoch, dass die Anwaltschaft in der Konsequenz auf analoge Kommunikation umstellen müsste.

Der Deutsche Anwaltsverein appelliert deshalb an die Ampelkoalition: „Die Bundesregierung sollte sich auf europäischer Ebene deutlich gegen eine Chatkontrolle positionieren, wie es auch der Koalitionsvertrag verlangt.“ Auch der Bundestag sei aufgerufen, sich mit einer Stellungnahme nach Art. 23 III des Grundgesetzes gegen den Verordnungsentwurf auszusprechen.

Breite Ablehnung der Chatkontrolle in Deutschland

Die Chatkontrolle steht von verschiedener Seite in der Kritik. Gestern haben sich alle Jugendorganisationen der Regierungsparteien und die Jugend der Linkspartei dem Bündnis „Chatkontrolle stoppen“ angeschlossen, dem mehr als 30 Organisationen und Initiativen angehören. Eine Petition von Campact gegen die Chatkontrolle wurde schon mehr als 164.000 Mal unterschrieben.

Neben der Tatsache, dass sie eine neue Form der Massenüberwachung etablieren würde, wird auch der Sinn dieser Maßnahme grundsätzlich angezweifelt, die soziale Probleme mit technischen Maßnahmen bekämpfen will und damit als Mogelpackung gilt. So sehen Expert:innen unter anderem überforderte Jugendämter und den Mangel an Fachkräften in Schulen als vorrangiges Problem bei der Bekämpfung von sexualisierter Gewalt gegen Kinder, das weder die Bundesregierung noch die EU-Kommission adressiert.


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