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Wikipedia: Neue Features werden Probleme nicht lösen

Die Wikimedia Foundation startet – wieder einmal – eine Initiative, um neue Beitragende zur Wikipedia zu rekrutieren. Im Fokus stehen dabei – wieder einmal – neue Software-Features. Doch dass sich die größten Probleme der freien Enzyklopädie damit wirksam werden lösen lassen, ist unwahrscheinlich. Dafür müsste an grundlegenden Regeln gerüttelt werden. Ein Kommentar.

Kunstprojekt einer ausgedruckten Wikipedia
Wikipedia ist keine klassische Enzyklopädie, auch wenn man sie ausdrucken und ins Regal stell kann. CC-BY 4.0 Michael Mandiberg

Wikipedia ist zweifellos ein digitales Weltwunder: Wissen, werbefrei in über 300 Sprachversionen kostenlos für alle Menschen mit Internetzugang verfügbar. Dank freier Lizenz ermöglicht die Wikipedia die kreative Nachnutzung in allen noch so entlegenen Ecken des Internets, ohne Rechte klären zu müssen. Und nicht nur die Inhalte, auch die Wiki-Software steht unter einer freien Lizenz, das alles getragen von der gemeinnützigen, primär über Kleinspenden finanzierten Wikimedia Foundation. Die Bedeutung des Wikipedia-Wissen reicht dabei weit über das Wiki hinaus, basieren auch Googles Suchergebnisse und Infoboxen auf Inhalten der freien Online-Enzyklopädie.

Doch große Reichweite und Relevanz bringen große Verantwortung mit sich. Der kontinuierlich wachsende Artikelbestand will ausgewogen gestaltet und aktuell gehalten werden – vor allem auch, weil Wikipedia in vielen Fällen die erste (und oft einzige) Informationsquelle über „relevante“ Organisationen und Personen ist. Veraltete, verfälschte oder einseitige Darstellungen in Artikeln zu korrigieren ist eine Mammutaufgabe, die in der Wikipedia seit Gründung ausschließlich von unbezahlten Freiwilligen erledigt wird. Doch nach über 20 Jahren erweisen sich drei Problemkreise in diesem Zusammenhang als besonders hartnäckig:

  1. Autor:innenmangel: Das stetig wachsende Wikipedia-Wissen erfordert kontinuierliche Bearbeitung, die Zahl der regelmäßig Beitragenden stagniert jedoch seit Jahren. In der deutschsprachigen Wikipedia steuerten im September 2022 4.723 Menschen jeweils mehr als 5 Editierungen bei. Zum Höchststand im Januar 2007 waren es knapp 20.000 Menschen.
    Autor:innenzahl in der deutschsprachigen Wikipedia im Zeitverlauf
    Autor:innen in der deutschsprachigen Wikipedia im Zeitverlauf

    Die stagnierende Zahl an Beitragenden ist aber nicht nur wegen eines veraltenden Artikelbestands ein Problem, sondern auch wegen des dadurch konservierten Mangels an Vielfalt unter den Autor:innen.

  2. Diversitätsdefizite: Wikipedia selbst beschreibt Ausmaß und Folgen der fehlenden Repräsentativität unter den Freiwilligen im Artikel zu „Systemic Bias“. Dort werden die seit Jahren wissenschaftlich untersuchten Diversitätsdefizite auch als eine wesentliche Hürde dafür genannt, dem eigenen Anspruch eines „neutralen Standpunkts“ gerecht werden zu können. Die bisweilen auch von Wikimedia selbst finanzierte Forschung, zum Beispiel zum geringen Anteil an Autorinnen in vielen Sprachversionen, hat eine Reihe von Ursachen identifiziert, die von technischen Problemen bis zu männlich geprägter Kultur und Belästigungsvorwürfen reichen.
  3. Persönlichkeitsrechte: Besonders betroffen von veralteten, falschen oder einseitigen Darstellungen auf der Wikipedia – nicht unbedingt was die Häufigkeit, aber jedenfalls was die möglichen Folgen betrifft – sind Personen, die von der Wikipedia-Community als relevant genug für einen eigenen Eintrag eingestuft wurden. Ihre öffentliche Persona wird mit Veröffentlichung des Artikels maßgeblich und dauerhaft von der Darstellung in der Wikipedia geprägt. Gleichzeitig wird explizit davon abgeraten, den eigenen Artikel selbst zu editieren. Stattdessen sollen diesbezügliche Anliegen auf der Diskussionsseite des Artikels geschildert oder per E-Mail an das Support-Team geschickt werden. Auch hier dauert die Bearbeitung umso länger, ist die Abhängigkeit von einzelnen Artikelwächter:innen umso größer, je weniger aktive Wikipedianer:innen sich um solche Anliegen kümmern können oder wollen.

Nicht zuletzt wegen dieser Probleme bemüht sich die Wikimedia Foundation seit über zehn Jahren mit diversen Initiativen um mehr neue Beitragende. Bereits 2012 wurde mit dem „Teahouse“ ein (eher versteckter) Ort geschaffen, in dem Neulinge freundlich willkommen geheißen werden sollten. (Dass der Erstkontakt mit dem Maschinenraum der Wikipedia oft alles andere als freundlich abläuft, lässt sich gut am Beispiel von Löschdiskussionen illustrieren.) Jahrelang wurde ein „Visual Editor“ entwickelt, um das Editieren der Wikipedia möglichst ähnlich zu herkömmlicher Textverarbeitungssoftware zu machen. Und ebenfalls schon lange erhalten neu registrierte Nutzer:innen ein Unterstützungsangebot von erfahrenen Wikipedianer:innen auf ihrer persönlichen Seite.

Neuer Anlauf mit „Growth Team“

Logo des "Growth Teams" der Wikimedia Foundation
Das „Growth Team“ der Wikimedia Foundation arbeitet an Features für Wikipedia-Neulinge - CC-BY 4.0 RHo (WMF)

Die jüngste Wikimedia-Initiative zur Steigerung der Autor:innenzahlen folgt ziemlich genau diesem Muster. Ein „Growth-Team“ arbeitet seit einiger Zeit an einer Reihe von neuen Software-Features, um den Einstieg ins Editieren zu erleichtern und die Absprungrate zu verringern. So soll eine neue und personalisierte Newcomer-Startseite Informationen zum Einstieg und Rückmeldung zu Abrufzahlen editierter Artikel geben. Ein Feed mit „Newcomer Tasks“ soll auf mehr oder weniger spielerische Weise niedrigschwellige Möglichkeiten zur Editierung unterbreiten. Und ein Mentor-Dashboard soll es freiwilligen Mentor:innen leichter machen, Neulinge bei ihren ersten Schritten zu begleiten. 

Nun ist nicht auszuschließen, dass diese neuen Feature die Absprungrate neuer Wikipedia-Autor:innen ein wenig verringern und im Ergebnis etwas mehr Leute einige Edits mehr beisteuern werden. Aber letztlich ist es vor allem eines: mehr von den Rezepten, die schon seit über zehn Jahren keinen durchschlagenden Erfolg gebracht haben. Es würde mich deshalb außerordentlich überraschen, wenn es diesmal anders wäre.

An rigiden Regeln rütteln

Denn wesentliche Ursachen für Wikipedias drei Probleme sind nicht technischer Natur. Neue Features werden sie deshalb auch nur in sehr begrenztem Ausmaß eindämmen können. Das betrifft vor allem den männlich geprägten, oft als unfreundlich erlebten Umgangston. Und es betrifft die Kehrseite des zentralen Wikipedia-Mantras des „anyone can edit“, nämlich eine Zurückhaltung bei der Durchsetzung sozialer Mindeststandards gegenüber einer kleinen Minderheit mit toxischem Sozialverhalten. Die fehlende Durchsetzung von Gemeinschaftsstandards ist deshalb so entscheidend, weil effektive Moderation essentiell für Klima und Kultur in Online-Communities ist

Diese Problemursachen zu adressieren würde jedoch erfordern, an zwei Tabus zu rütteln, die tief in der aktuellen Wikipedia verankert sind.

  • Striktes Ehrenamtlichkeitsprinzip unter den Autor:innen und Administrator:innen: Wie das Beispiel des Wikimedia „Growth Teams“ demonstriert, ist es für die Wikimedia Foundation völlig selbstverständlich, beträchtliche Mittel in professionelle Weiterentwicklung der eigenen, frei lizenzierten Wikisoftware zu stecken. Kein Spendengeld wird hingegen ausgegeben, um Autor:innen für die Erstellung von Inhalten zu bezahlen oder in professionelles Community-Management zu investieren. Beides ist ausschließlich Freiwilligen oder gegebenfalls von Dritten bezahlten Autor:innen vorbehalten. Damit einher geht, dass nur jene Dinge innerhalb der Wikipedia passieren, für die sich Freiwillige gewinnen lassen. Task-Forces zur Bearbeitung von Lücken oder zur Pflege vernachlässigter Artikelbestände gibt es deshalb nicht.   
  • Strikte Trennung zwischen Wikimedia Foundation und Wikipedia Community: Sollte am Tabu Ehrenamtlichkeit gerüttelt werden, würde das jedoch dazu zwingen, mit einem weiteren Tabu zu brechen: die Kluft zwischen formaler Organisation Wikimedia und informaler Wikipedia-Gemeinschaft. Bis zu einem gewissen Grad ist die herrschende Trennung für beide Seiten bequem. Wikimedia muss keine Verantwortung für rechtlich oder ethisch fragwürdige Inhalte übernehmen, sondern kann auf die selbstorganisierte Community verweisen. Die Community wiederum braucht keine Einmischung vonseiten der Foundation bezüglich Inhalten oder Community-Management befürchten. Genau diese Nichteinmischung befördert dann aber die beobachtete Stagnation der Wikipedia-Community, sowohl was Zahl als auch Diversität der Autor:innen betrifft.

Bezahlung von Autor:innen und Administrator:innen in relevanten – also nicht nur den größten – Sprachversionen durch die Wikimedia Foundation könnte aber nicht nur einen Beitrag gegen Autor:innenmangel und Diversitätsdefizite leisten. Es würde auch dazu führen, dass viel mehr von den jährlich steigenden Spendenmillionen unmittelbar in die Verbesserung der Wikipedia selbst zurückfließen. Finanziell wäre die Wikimedia Foundation definitiv dazu in der Lage.

Zum Einstieg würden sich kleine Redaktionen oder Task-Forces für spezielle, ehrenamtlich schwierig zu leistende Aufgaben anbieten. Beispielsweise könnten sich in großen Sprachversionen eine Redaktion primär Wikipedia-Artikeln von noch lebenden Personen und Organisationen widmen sowie als Ansprechpartner:innen für diesbezügliche Anliegen dienen. Zu ihren Aufgaben könnte auch das Aufspüren von systematischen Manipulationsversuchen in diesem Bereich zählen.

Als Vorbild für eine stärkere Integration von Ehren- und Hauptamtlichen könnte dabei eine Organisation dienen, die mir selbst bereits vor über zehn Jahren von führenden Wikipedianer:innen diesbezüglich genannt wurde: Wikimedia verstanden als „das Rote Kreuz für das Weltwissen“. Denn bei Rettungsorganisationen wie dem Roten Kreuz ist die Zusammenarbeit von Hauptamtlichen und Freiwilligen lange geübte Praxis. Natürlich gibt es keine Garantie, dass so eine Strategie auch für die Wikipedia funktionieren würde. Allerdings verspricht sie allemal mehr Erfolg, als die Einführung weiterer neuer Features.


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