Thilo Weichert sei „eine Art Hohepriester“ einer „radikalen Datenschutzschule“ – so kritisiert Kolumnist Sascha Lobo im Spiegel den ehemaligen Datenschutzbeauftragten aus Schleswig-Holstein. In diesem Gastbeitrag antwortet Thilo Weichert darauf.
Am 7. September veröffentlichte der SPIEGEL eine von Sascha Lobo verfasste Kolumne, in der Unkenntnis und richtige Aussagen derart verquirlt werden, dass daraus ein gefährlicher Gesamteindruck zurückbleibt.
Lobo beschreibt zutreffend, wie „Datenschutz“, also der Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, missbraucht wird: von Bürokraten, die damit ihre Untätigkeit kaschieren wollen, und von Bürgerrechtsfundamentalisten, die jedes Augenmaß bei der dringend nötigen Digitalisierung vermissen lassen. Dabei hätte Lobo es belassen sollen. Doch belegt er dann seine These mit völlig ungeeigneten Beispielen und bedient damit dumpfe, auf Unkenntnis basierende Vorurteile. Er erledigt damit letztlich das Geschäft derjenigen, die „Digitalisierung first – Bedenken second“ propagieren und grundrechtsfeindliche Geschäfts- und Politikmodelle verfolgen.
Lobo gegen die „radikale Datenschutzfraktion“
Lobo meint, in Deutschland sei der „real existierende Datenschutz“ nicht menschenzugewandt, aufgeklärt und progressiv, sondern er verfolge ein veraltetes, dysfunktionales Bild der digitalen Gesellschaft, woran „verschiedene Schulen und Strömungen“ der Datenschützer wegen ihrer „Unnachgiebigkeit“ „nicht völlig unschuldig“ seien. Diese „radikale Datenschutzfraktion“ mache den Interessenausgleich geradezu unmöglich, indem auf den Würdeschutz verwiesen werde, „weil Würde ja unverhandelbar ist“. Einen Beleg für diese Behauptung bleibt Lobo schuldig. Es gibt keinen solchen Beleg.
Als Verkörperung dessen, was Lobo „bigott“ nennt, hat er die „radikale schleswig-holsteinische Datenschutzschule“ ausgemacht, die „über Jahre mit dem metaphorischen Schrotgewehr gegen alle Formen sozialer Medien von bösen Digitalkonzernen geschossen“ habe, und dann – welche Verräter! – nichts gegen Vorratsdatenspeicherung einzuwenden habe.
Zwar ist mir als Datenschützer in Schleswig-Holstein nichts von der erwähnten Schule bekannt, wohl aber bin ich bestens vertraut mit der Politik des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz (ULD) in Kiel. Dieses verfolgt seit Jahrzehnten genau das, was Lobo gut finden müsste: einen klaren, grundrechtsausgerichteten und zugleich praxisorientierten Kurs. Dieser wurde von Helmut Bäumler in den 1990er Jahren begründet und wird bis heute durch seine Nachnachfolgerin Marit Hansen kontinuierlich fortgesetzt und weiterentwickelt.
Diese „Schule“ verfolgt das Ziel, Digitalisierung grundrechtskonform zu gestalten, Missstände aufzudecken und zu bekämpfen sowie datenschutzfreundliche Technik zu etablieren. Sie war und ist damit Vorreiterin von Datenschutzzertifizierungen, des Grundsatzes „privacy by design“ und Ideengeberin des „Standarddatenschutzmodells“. Das ULD geht dabei nicht gegen die Symptome von Fehlentwicklungen vor, sondern gegen deren Ursachen, weshalb sie zum Beispiel auch das illegale Geschäftsmodell von Facebook ins Visier nahm. Das ULD bekam dafür nach 11 Jahren vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) Recht, ohne dass Facebook bis heute seine illegale Praxis geändert hätte.
Es ist schon absurd, wenn Lobo sich zum Fürsprecher der „großen sozialen Medien“ gegen die langjährige – bisher im Ergebnis erfolglose – Kritik profiliert und damit ignoriert, inwieweit die sogenannten sozialen Medien nicht nur die Persönlichkeitsrechte von Betroffenen, sondern auch den demokratischen Diskurs in unserer Gesellschaft untergraben.
Dilettierende Digitalisierung und ministerieller Unwille
Es war das ULD, das schon vor mehr als zehn Jahren versuchte, die unversöhnliche Konfrontation zwischen Sicherheitspolitikern und fundamentalistischen Datenschützern mit Lösungsvorschlägen bei der Vorratsdatenspeicherung aufzubrechen. Das hat inzwischen Eingang in die Rechtsprechung des EuGHs und des deutschen Bundesverfassungsgerichts sowie in den aktuellen rot-grün-gelben Koalitionsvertrag gefunden. Es war das ULD, das sich schon in den 90er Jahren gegen eine Ärztelobby wendete, welche die Digitalisierung des Gesundheitswesens mit unseriösen „Datenschutz“-Argumenten bekämpfte. Und es war jüngst das ULD, die die technische Umsetzung des eRezepts stoppte, nachdem sich grundlegende Sicherheitslücken zeigten.
Wer Datenschutz als notwendig ansieht, der muss darauf hinwirken, dass datenschutzwidrige Praktiken frühzeitig verhindert werden. Mangels Einsicht hierin hat die dilettierende Digitalisierung in Deutschland immer wieder praktische und gerichtliche Schlappen einstecken müssen.
Die regelmäßigen Rückschläge bei der Umsetzung der Digitalisierung im Gesundheitsbereich, insbesondere bei den Anwendungen der Telematik-Infrastruktur, haben zwei wesentliche Gründe: Einerseits sind sie wirtschaftlichen Interessen und bürokratischer Inkompetenz zuzuschreiben, andererseits der Tatsache, dass Datenschutz nicht von Anfang an mitgedacht wurde.
Derzeit wird auf Bundesebene gemäß den Vorgaben des Ex-Gesundheitsministers Jens Spahn ein Gesundheits-Forschungsdatenzentrum aufgebaut, in dem gewaltige Designmängel stecken. Das Vorhaben zeigt exemplarisch, dass Gesundheitsforschung – etwa zu Corona – nicht am Datenschutz scheitert, sondern am ministeriellen Unwillen, angemessene Forschungsstrukturen aufzubauen und den gesetzlichen Rahmen an die europäische Datenschutz-Grundverordnung anzupassen.
Populistisch und selbstgerecht
Statt die „öffentlich empfundene Unnachgiebigkeit des Datenschutzes“ zu bejammern, täte auch Herr Lobo gut daran, dieses irrationale Empfinden anzugehen. Es mag eine weit verbreitete Praxis sein, mit steilen Thesen den Verkauf eigener Bücher anzutreiben. Doch wird diese Werbung schnell zum Rohrkrepierer, wenn sich diese als unseriös entpuppt.
Mit „dem Datenschutz“ hat Lobo ein Terrain gefunden, auf dem er sich populistisch und selbstgerecht austoben kann. Er reiht sich – auch wenn er das Gegenteil behauptet – in die Phalanx derer ein, die angesichts der sonstigen gesellschaftlichen Probleme meinen, digitalen Grundrechtsschutz nicht mehr ernst nehmen zu müssen, die Überwachung und digitale Ausbeutung propagieren und praktizieren.
Die heutige zentrale digitale Herausforderung besteht nicht darin, einige übereifrige Datenschützer – von denen es zweifellos einige gibt – zur Raison zu bringen. Sondern es sollte vielmehr darum gehen, in der globalen Auseinandersetzung mit dem Überwachungsstaat à la China und dem Überwachungskapitalismus à la USA in Europa eine grundrechtsfreundliche Alternative zu entwickeln.
Thilo Weichert, Jurist und Politologe, Vorstandsmitglied der Deutschen Vereinigung für Datenschutz e. V. (DVD) und Mitglied des Netzwerks Datenschutzexpertise, von 2004 bis Juli 2015 Datenschutzbeauftragter von Schleswig-Holstein und damit Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz (ULD) in Kiel.
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