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Artenschutz: Mit Technologie gegen das Massensterben

Rund eine Million Arten sind vom Aussterben bedroht. Ein Bericht sieht großes Potenzial von Künstlicher Intelligenz beim Artenschutz, Umweltaktivist:innen warnen dagegen vor technischen Scheinlösungen. Sie fordern auf der internationalen Ebene mehr politischen Einsatz.

Ein großer Elephant und ein junger Elephant im Wald.
Computer Vision kann die Elefantenpopulation überwachen. (Symbolbild) Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com paweldotio

Eine Million Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht. Das schätzen Expert:innen des Weltrates für Biologische Vielfalt (IPBES). Das aktuelle Massensterben läuft sehr schnell: Der IPBES geht davon aus, dass viele bereits in den nächsten Jahrzehnten verschwinden könnten.

Menschen und ihre kapitalistischen Wirtschaftspraktiken sind ganz besonders für das Artensterben verantwortlich, etwa indem sie Ökosysteme zerstören. Dabei speichern gesunde Wälder und küstennahe Gebiete auch Treibhausgase und Wasser und könnten so die Auswirkungen des Klimawandels abfedern. Die Klimakrise ist damit eng mit der schwindenden Biodiversität und dem Artensterben verbunden. Der aktuelle Bericht des Weltklimarats macht ebenfalls deutlich: Klimaschutz geht nicht ohne Artenschutz.

In den letzten Jahren suchen Artenschutz-Projekte vermehrt nach technischen Lösungen, um Informationen über bedrohte Spezies zu sammeln. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) sei dabei besonders vielversprechend. Zu diesem Ergebnis kommt das weltweite Netzwerk WILDLABS, das vergangenen Dezember seinen ersten Jahresbericht über Naturschutztechnologien veröffentlicht hat.

Aktivistische Umweltschutzbewegungen warnen hingegen vor technischen Scheinlösungen und machen deutlich, dass es beim Thema Artenschutz bisher vor allem an politischem Willen und der Unterstützung von Gesellschaft und Wirtschaft mangele. 

Technologie als „ideale Vision der Zukunft“

Laut der WILDLABS-Studie hat die Anwendung von Computer Vision und Maschinellem Lernen (ML) das größte ungenutzte Potenzial auf dem Gebiet der Artenschutztechnologien. Dabei versuchen die Systeme, Bild- oder Videomaterial zu erfassen und zu verstehen – etwa um bestimmte Tiermerkmale zu erkennen und dadurch auf die Art oder sogar die Identität des Tieres zu schließen.

Artenschützer:innen nutzen solche automatischen visuellen Erkennungssysteme, um bestimmte Tierarten zu überwachen. Die Systeme erkennen auf Kameraaufnahmen aus der Wildnis, welche Arten wo zu finden sind. Sie analysieren also Muster in der Tierwelt und können so Veränderungen in der Artenpopulation feststellen. Mit diesen Informationen können Forschende Wanderungsbewegungen von Tieren voraussagen oder letztlich das Aussterben gefährdeter Tierarten prognostizieren.

Neben besonders gefährdeten Arten lassen sich so auch Schlüsselarten überwachen. Schlüsselarten sind besonders wichtig, um ein Ökosystem vor dem Kollaps zu schützen. Dazu gehören etwa Bienen, die eine wichtige Rolle bei der Bestäubung von Pflanzen spielen.

Der Jahresbericht von WILDLABS sei nach eigenen Angaben eine „erste globale Bewertung“ des Potenzials von Naturschutztechnologien. An dieser Bewertung haben verschiedene Gruppen gearbeitet: Neben Menschen aus der Forschung, Biologie und dem Umweltaktivismus haben auch Ingenieur:innen und Entwickler:innen mitgewirkt.

WILDLABS hat derzeit über 6.000 Mitglieder. International bekannte Umweltschutzorganisationen, darunter der World Wildlife Fund (WWF) und die Wildlife Conservation Society (WCS), sitzen im Lenkungsausschuss von WILDLABS. Sie sind damit maßgeblich an der Arbeit des Netzwerks beteiligt. WILDLABS erhält von Tech-Riesen finanzielle Unterstützung – darunter Microsoft, ARM und Google.

Das Netzwerk formuliert in seinem Bericht eine Vision für die Zukunft von Naturschutztechnologien, „in der Zusammenarbeit den Wettbewerb übertrumpft“. Unter anderem offene und interoperable Lösungen sollen es möglich machen, Erkenntnisse aus gewonnenen Daten schnell in Naturschutzmaßnahmen umzusetzen.

Artenschutz mit Algorithmen

Das Arten-Tracking ist keine vollkommen neue Methode. Bisher sind Forscher:innen meist selbst in die Wildnis gegangen und haben Tiere direkt markiert. Zum Beispiel indem sie das Fell der Tiere gefärbt haben. Nach einem gewissen Zeitraum haben die Forscher:innen die Tiere wieder aufgesucht und konnten anhand der Markierungen darauf schließen, welche Tiere gestorben sind und wie sich der Bestand entwickelt hat. Eine solche analoge Überwachung ist allerdings vergleichsweise aufwändig und greift in die Lebenswelt der Tiere ein.

Automatisierte Bildverarbeitung kann solche Zählungen deutlich erleichtern. Die Wissenschaftler:innen brauchen dazu nur Bilddaten, die immer leichter zugänglich sind. Theoretisch können alle Menschen Fotos von Tieren machen und in eine Datenbank hochladen. Maschinelle Lernsysteme würden dann automatisch die Tiere auf dem Material erkennen und kategorisieren, so die Idee des Netzwerkes. Dieser Vorgang sei deutlich effizienter als die bisher übliche Arbeit von Menschen.

„Wie ein Facebook für Tiere“

Die US-amerikanische Organisation Wild Me wendet bereits Computer-Vision-Methoden an, um Informationen über bedrohte Tierarten zu sammeln. Wild Me stellt die Open-Source-Plattform Wildbook bereit, mit der Forscher:innen Wildtiere identifizieren können. Laut Wild Me sei die Plattform „ein Facebook für Tiere“. Dahinter steckt der Grundgedanke, dass Profile für bestimmte Tierarten entstehen. Die Profile sollen Aufschluss darüber geben, wo die Tiere gesichtet wurden und wie sie sich verhalten. So gibt es etwa Profile von Giraffen, Schildkröten, Zebras, Delfinen und Haien.

Das Projekt hat dazu bereits über sieben Millionen Fotos aus der Wildnis gesammelt. Ein maschinelles Lernsystem verarbeitet diese Fotos und kann dann Arten zählen oder auch einzelne Tiere identifizieren. Jason Holmberg, Direktor von Wild Me, teilt netzpolitik.org mit: „Es hilft Wissenschaftler:innen, kostengünstige und leicht verfügbare Fotografien als Mittel zu nutzen, um einzelne Tiere anhand ihrer Flecken, Streifen und so weiter zu verfolgen.“ Diese seien einzigartig wie menschliche Fingerabdrücke. Holmberg betont, die lokale Forschung habe so Zugang zu einer konsistenten Datenverwaltungsplattform und Computer Vision, um die Verarbeitung der Fotos zu beschleunigen und zu skalieren.

Doch bevor das System detaillierte Informationen über die Tiere erheben kann, muss eine Software erstmal herausfinden, welche Tierart auf dem Bildmaterial festgehalten ist. Das Projekt nutzt dazu ein maschinelles Lernsystem namens „Wildbook Image Analysis (WBIA)„. Zunächst sucht es Tiere in einem Foto oder Video und leitet dann jedes erkannte Tier je nach Tierart an einen weiteren Erkennungsalgorithmus weiter, um das Tier zu identifizieren.

Technische Systeme, die Giraffen erkennen, sammeln wertvolle Informationen über die bedrohte Tierart. (Symbolbild) - Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com MARIOLA GROBELSKA

Ein solches maschinelles Lernsystem funktioniert allerdings nur, wenn genügend Trainingsdaten vorhanden sind. Das bedeutet, das System muss bereits umfassendes Bildmaterial des entsprechenden Tieres haben. Ist das nicht der Fall, kommt der Algorithmus „Hotspotter“ zum Einsatz. Hotspotter untersucht dazu die Texturen in einem Bild, um bestimmte Muster, sogenannte „Hotspots“, zu finden. Diese Muster vergleicht der Algorithmus dann mit anderen Bildern in der Datenbank und sucht Übereinstimmungen. Wildbook wendet dieses Verfahren etwa an, um Giraffen zu identifizieren.

Das Projekt von Wild Me ist mit seiner Datensammlung ziemlich erfolgreich: Sogar die Internationale Union für die Erhaltung der Natur (IUCN) verwendet einen Teil der Wildbook-Daten als offizielle Zählungsdaten. Wildbook geht jetzt unter dem neuen Namen „Codex“ in die nächste Generation.

Open Source gegen das Massensterben

Wild Me möchte so gegen das sechste Massensterben vorgehen. Die gemeinnützige Organisation schreibt netzpolitik.org: „Um das Aussterben wirklich wirksam zu bekämpfen, brauchen wir datengestützte Erhaltungsstrategien, die schnell bewertet und verbessert werden können.“

Wild Me hebt hervor, den Code ihrer Arbeit auf der Code-Plattform GitHub bereitzustellen. Wild-Me-Direktor Holmberg erklärt: „Wir sind gerne gemeinnützig, und Open Source entspricht unseren Werten.“ Das Projekt ist von Microsoft gesponsert. Das Tech-Unternehmen schreibt auf seiner Website ebenfalls: „Microsoft unterstützt diese Bemühungen, indem es Wildbook auf Azure hostet und die Open-Source-Algorithmen von Wild Me als APIs verfügbar macht.“ 

Zwar ist der Code offen zugänglich, allerdings ist der Zugriff auf die einzelnen Tierdatenbanken geschützt. Interessierte müssen sich erst einen Account anlegen und dabei begründen, was sie mit diesen Daten erforschen wollen. Aufgrund des Wilderei-Risikos seien die Daten nicht offen verfügbar, schreibt Holmberg: „Wir geben die GPS-Koordinaten nicht an die Öffentlichkeit weiter.“ 

Neben Microsoft beteiligen sich auch andere große Tech-Unternehmen an Naturschutztechnologien. Zum Beispiel kooperiert Google mit der National Oceanic and Atmospheric Administration (Noaa), eine Organisation, die Wissen über die Umwelt bereitstellt.

Noaa hat gemeinsam mit Google AI ein maschinelles Lernsystem entwickelt, das den Gesang von Walen erkennen kann und so die Walpopulation überwacht. Unterwasser-Aufzeichnungsgeräte haben dazu 14 Jahre lang akustische Daten im Nordpazifik erfasst. Ein neuronales Netzwerk wurde dann so trainiert, dass es fähig ist, den Gesang von Walen aus diesen akustischen Daten zu identifizieren. Die erhobenen Daten würden laut dem Projekt eine umfassende Analyse der Meerestiere in den abgelegenen Inselregionen erlauben. Das Projekt stellt die erhobenen akustischen Datensätze als offene Daten bereit und Google hat das maschinelle Lernmodell zur öffentlichen Nutzung auf Google Cloud freigegeben. Die Forschung soll so auch für andere Zwecke nutzbar sein.

„Vertrauen in Technik ist rührend“

Eine Demonstration von Extinction Rebellion vor einem Gebäude auf dem der Schriftzug "Let's Change" angebracht ist.
Extinction Rebellion protestiert mit dem Symbol einer ablaufenden Sanduhr gegen das Artensterben. (Symbolbild) - Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Ehimetalor Akhere Unuabona

Einige Umweltorganisationen blicken kritisch auf Projekte, die Naturschutztechnologien als Lösung gegen das Artensterben preisen. Die Extinction-Rebellion-Aktivistin Manon Gerhardt warnt gegenüber netzpolitik.org vor Scheinlösungen der Industrie. Sie meint damit Technologien, die zwar eine Lösungsmöglichkeit für ein Problem suggerieren würden, dabei aber nur einen minimalen Effekt hätten oder sogar noch mehr Probleme schaffen.

„Selbst die fortschrittsgläubigsten Wissenschaftler:innen behaupten nicht, dass allein mit technischen Möglichkeiten das Artensterben oder die Trinkwasserknappheit effektiv bekämpft werden könnten“, so die Klimaaktivistin gegenüber netzpolitik.org. „Das Vertrauen vieler Deutschen in die Allmacht der Technik ist rührend.“ 

Manon führt an, Extinction Rebellion sei der festen Überzeugung, dass die multiplen Krisen unserer Zeit auch multiple Antworten erfordern würden. Das heißt, es könne keine alleinige Lösung für alle Probleme geben. Stattdessen fordert die Klimagerechtigkeitsbewegung eine Kombination aus Verboten klimaschädlicher Wirtschaftspraktiken, der Förderung nachhaltiger Methoden und den Erkenntnissen aus Wissenschaft und Technik. 

Politischer Wille ist nicht ersetzbar

WWF-Experte Florian Titze sieht in innovativen Technologien zwar einen wichtigen Baustein, um die biologische Vielfalt zu erhalten, allerdings bräuchten auch die besten Technologien die richtigen Rahmenbedingungen, um das Artensterben zu stoppen. „Deswegen können technische Lösungen immer nur ein Teil der Lösung sein“, so Titze gegenüber netzpolitik.org. Er führt an:

Politischer Wille sowie die Unterstützung von Gesellschaft und Wirtschaft sind nicht ersetzbar. Und daran mangelt es uns gerade am meisten.

Er weist darauf hin, dass sowohl in Deutschland als auch weltweit politische Entscheidungen dringend dazu führen müssten, dass die direkten und indirekten Treiber des Artensterbens bis 2030 vollkommen adressiert werden würden. Solche internationalen Entscheidungen sollen laut Titze etwa darauf abzielen, die Übernutzung natürlicher Ressourcen zu beenden, die Umweltverschmutzung zu vermindern und die Klimakrise in den Griff zu bekommen. 

Zwar begrüße er die politische Richtung im deutschen Umweltministerium, es fehle ihm aber an politischem Einsatz auf der internationalen Ebene. Schließlich sei das Aussterben eine globale Krise, so Titze. 

Wie groß der internationale politische Wille ist, wird sich auf der anstehenden UN-Weltnaturkonferenz zeigen. Sie findet kommenden Dezember in Montreal statt. Der WWF-Experte fordert, die Weltnaturkonferenz bräuchte ein neues globales und ambitioniertes Abkommen zum Erhalt der Artenvielfalt. Titze erklärt: „Technologien können bei der Umsetzung des Abkommens helfen, doch entscheidend ist vor allem der politische Wille, endlich zu handeln.“

„Unsere Existenz steht auf dem Spiel“

Im Hinblick auf den UN-Weltnaturgipfel haben deutsche Wissenschaftler:innen jüngst die Berliner Erklärung unterzeichnet. Darin betonen sie die große Verantwortung von Deutschland im Bereich des Natur- und Artenschutzes. Deutschland müsse gemäß den Zusagen im Koalitionsvertrag handeln und die Investitionen in Biodiversität erhöhen, so die Unterzeichner:innen. „Nichts weniger als unsere eigene Existenz steht auf dem Spiel“, heißt es in der Erklärung.

Schließlich stünden schon jetzt viele Ökosysteme an dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gebe. Das hat UN-Generalsekretär António Guterres in seiner Rede zum neuen IPCC-Bericht bekannt gegeben. Fast die Hälfte der Menschheit lebe bereits in einer Gefahrenzone, schreibt Guterres auf Twitter. Er drängt: „Jede Sekunde zählt.“

In ihren Aussagen sind sich Umweltschutzexpert:innen und Aktivist:innen einig: Naturschutztechnologien allein reichen nicht, um das Massensterben zu verhindern. Sie können dabei helfen, Arten zu überwachen und damit ein möglichst genaues Bestandsbild für Wissenschaftler:innen liefern. Damit die Erkenntnisse aus dem maschinellen Lernen zu mehr Nachhaltigkeit beitragen können, braucht es konkrete Handlungen und den politischen Willen, etwas zu ändern.


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