In den Vereinigten Staaten wird gerade ein Menschenrecht diskutiert: das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung und damit das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. In den USA legalisiert das Urteil Roe vs. Wade seit einem halben Jahrhundert bundesweit Abbrüche bis zur 24. Schwangerschaftswoche. Nun enthüllt ein geleaktes Dokument, dass der US-amerikanische Supreme Court dieses Abtreibungsrecht offenbar aufheben will.
Pro-Choice-Aktivist:innen sorgen sich vor gewaltigen Konsequenzen für ungewollt Schwangere, sollte in naher Zukunft das Abtreibungsgesetz aufgehoben werden. Voraussichtlich würden Schwangerschaftsabbrüche dann in etwa der Hälfte aller US-Bundesstaaten verboten sein. Die Aufhebung des Abtreibungsurteils würde nicht nur zu einer prekären Versorgungssituation von ungewollt Schwangeren führen, sondern hat auch digitale Konsequenzen. Sogar Edward Snowden hat für diese entscheidende Debatte seine monatelange Twitter-Pause beendet. Wir klären die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wie bringen Datenspuren ungewollt Schwangere in Gefahr?
Schwangere, die abtreiben möchten, hinterlassen oftmals Spuren im Netz, die auf einen potenziellen Schwangerschaftsabbruch hinweisen. Zum Beispiel, wenn die Person im Internet nach Abtreibungskliniken in der Nähe sucht oder sich über verschiedene Abtreibungsmethoden informiert. Der hinterlassene digitale Fußabdruck kann in Staaten, die Abtreibung kriminalisieren, von Strafverfolgungsbehörden genutzt werden und möglicherweise sogar als Beweismittel dienen.
Das zeigt eindrücklich der Fall von Latice Fisher, die im Jahr 2017 in Mississippi verdächtigt wurde, einen Schwangerschaftsabbruch begangen zu haben. Fisher hat während den Ermittlungen freiwillig ihr Handy an die Staatsanwaltschaft abgegeben. Diese erklärte ihre Internetsuche nach der Abtreibungspille „Misoprostol“ als Hinweis für eine Abtreibung, sie wurde wegen Mordes angeklagt. Inzwischen wurde ihr Fall eingestellt und die Mordanklage fallengelassen. Dennoch zeigt der Fall Fisher, dass Suchverläufe, in denen Abtreibungsmedikamente erwähnt werden, bereits als Hinweise für eine Abtreibung herangezogen wurden.
Wenn bald strengere Abtreibungsgesetze greifen sollen, werden sich mehr betroffene Menschen an Online-Angebote wenden, etwa um Abtreibungspillen zu bestellen. Es könnte dann vermehrt dazu kommen, dass der digitale Fußabdruck als Beweislast herangezogen wird.
Auch Gesundheitsdaten von Menstruation-Apps könnten dazu verwendet werden, um Menschen, die abtreiben wollen, strafrechtlich zu verfolgen, so Eva Galperin. Sie ist Direktorin für Cybersicherheit bei der gemeinnützigen Organisation Electronic Frontier Foundation. Galperin schreibt auf Twitter: „Wenn Sie in den Vereinigten Staaten leben und eine App zur Beobachtung der Periode verwenden, ist heute ein guter Tag, um sie zu löschen.“
Eine weitere Sorge von Pro-Choice-Aktivist:innen ist, dass mit strengeren Abtreibungsgesetzen auch die Selbstjustiz und Überwachung von Schwangerschaftsabbrüchen durch Abtreibungsgegner:innen steigt. So kam es bereits im Jahr 2016 zu Datenerhebungen von Anti-Choice-Organisationen, um gezielt Werbung an Menschen zu richten, die sich in Abtreibungskliniken aufhalten.
Standortdaten von Abtreibungskliniken
Eine aktuelle Recherche der Tech-Seite Motherboard von VICE zeigt, wie einfach Abtreibungsgegner:innen an sensible Informationen über potenzielle Abtreibungen gelangen können: mit dem Kauf von Standortdaten. Der Datenhändler SafeGraph verkauft Standortdaten von Personen, die unter anderem Abtreibungskliniken besuchen. Motherboard hat selbst ein Datenpaket mit Datensätzen von einer Woche für nur 160 US-Dollar von SafeGraph gekauft. Das Paket namens „Patterns“ enthält Daten von mehr als 600 Standorten der gemeinnützigen Organisation Planned Parenthood – einige ihrer Standorte bieten auch Schwangerschaftsabbrüche an.
Das Produkt „Patterns“ erfasst anonyme Standortdaten von Personen, die Informationen darüber liefern, wie oft Personen einen Standort besucht haben, wie lange sie dort geblieben sind, wo sie hergekommen sind und wohin sie dann gehen. Das Unternehmen schreibt auf seiner Website, dass die Daten das Verbraucherverhalten der Personen darstellen würde.
SafeGraph erhält die Standortdaten von gewöhnlichen Apps, die auf den Endgeräten der Nutzer:innen installiert sind. „Diese Daten sind nicht mit einem Namen oder einer E-Mail-Adresse verbunden“, so steht es auf der Website. Das Unternehmen arbeitet nach eigenen Angaben mit „anonymisierten und aggregierten Mobilitätsdaten“. Das heißt, die Bewegungsdaten beschreiben das Verhalten von Personengruppen und nicht von Einzelpersonen.
Dennoch sei es möglich, die Anonymität aufzuheben. Nämlich dann, wenn der Datensatz Informationen von einer sehr geringen Anzahl von Endgeräten umfasse. Das zeigt Motherboard in seiner Recherche. „Einige hatten nur vier oder fünf Geräte, die diesen Ort besuchten, wobei SafeGraph die Daten auch danach filterte, ob die Person ein Android- oder ein iOS-Gerät benutzte.“
Die Dokumentation von Patterns demonstriert, dass SafeGraph analysiert, wo die Besucher:innen eines Ortes wohl leben. Die Software von SafeGraph arbeitet dabei mit Datensätzen mit den Titeln „Besucher-Wohnort“ oder „Entfernungen-vom-Wohnort“. Das Softwareprogramm erfasst, wo sich die Endgeräte zwischen 18 Uhr und 7 Uhr überwiegend aufhalten.
Da die Standortdaten frei käuflich sind, können solche Datenerhebungen auch für politische Zwecke genutzt werden. Abtreibungsgegner:innen können so die Standortdaten nutzen, um Menschen zu erfassen, die potenziell eine Abtreibung vorgenommen haben. Cybersecurity-Forscher Zach Edward sagt gegenüber VICE:
So kann man jemanden, der über die Staatsgrenzen reist, um eine Abtreibung vorzunehmen, verdächtigen – so kann man Kliniken, die diese Dienstleistung anbieten, verdächtigen.
Wovon handelt der Streit in den USA?
Die feministische Bewegung fordert schon seit Jahrhunderten, dass es Schwangeren möglich sein solle, selbstbestimmt und frei über ihren Körper und eine Schwangerschaft entscheiden zu dürfen. Reproduktive Rechte sind inzwischen auf der völkerrechtlichen Ebene als Menschenrechte anerkannt und etwa in Artikel 16 der UN-Frauenrechtskonvention verankert. In den USA garantiert das Grundsatzurteil Roe vs. Wade seit 1973 den verfassungsrechtlichen Schutz der Abtreibungsrechte bis zur 24. Schwangerschaftswoche – und das in jedem einzelnen Bundesstaat. Im Jahr 1992 hat sich der Supreme Court erneut mit dem Abtreibungsrecht beschäftigt und es mit dem Urteil „Planned Parenthood v. Casey“ weiter aufrechterhalten.
Das Urteil Roe zählt zu den umstrittensten Entscheidungen, die der US-amerikanische Supreme Court bisher getroffen hatte. Als das Gericht den Präzedenzfall Roe entschieden hatte, war es mehrheitlich liberal besetzt. Nun ist der Gerichtshof wegen der ernannten Kandidaten von Ex-Präsident Donald Trump überwiegend konservativ besetzt. Pro-Choice-Aktivist:innen warnen deswegen schon länger davor, dass das Urteil aufgehoben werden könnte.
Nächsten Monat soll der Supreme Court entscheiden, ob Schwangerschaftsabbrüche weiterhin bundesweit legal bleiben sollen. Doch schon jetzt ist interne Information über die bevorstehende Entscheidung an die Öffentlichkeit geraten – und heizt die Diskussion damit erneut an.
Das Online-Magazin Politico hat vergangen Montag einen geleakten Entscheidungsentwurf veröffentlicht, der am 10. Februar im Supreme Court zirkulierte. In dem Entwurf schreibt der Richter Samuel Alito, dass der Supreme Court mehrheitlich dafür gestimmt habe, das Urteil Roe vs. Wade aufzuheben. „Roe war von Anfang an ungeheuerlich falsch“, schreibt Alito in dem 98-seitigen Dokument auf Englisch. „Wir sind der Meinung, dass Roe und Casey verworfen werden müssen.“
Laut Politico ist es das erste Mal in der jüngeren Geschichte, dass so ein Dokument schon vor der offiziellen Veröffentlichung vorliege. Abtreibungsbefürworter:innen demonstrieren nun gegen den inoffiziellen Urteilsentwurf des Gerichts und machen auf die Konsequenzen aufmerksam, wenn das Gericht nächsten Monat bei seiner Auffassung bleibt.
Auch Whistleblower Edward Snowden äußert sich, dafür beendet er sogar seine gut zwei Monate lange Funkstille auf Twitter. Snowden twittert: „Die Unterdrückung einer solch essenziellen Freiheit kann eine Zeit lang wirksam sein, aber sie kann nicht legitim sein.“ Biden bezeichnet das Urteil des Gerichts als eine ziemlich radikale Entscheidung. „Das ist ein grundlegender Wandel in der amerikanischen Rechtssprechung“, so Biden.
Was steht auf dem Spiel?
Entscheidet sich der Supreme Court kommenden Monat offiziell gegen das Urteil von Roe vs. Wade, kann jeder Staat selbst entscheiden, ob er das Abtreibungsrecht einschränkt oder abschafft. Das Guttmacher Institute gibt an, dass ohne das Roe-Urteil 26 US-Bundesstaaten Abtreibungen sicher oder wahrscheinlich verbieten werden.
In den letzten Jahren hat sich in den USA bereits abgezeichnet, dass der Schutz der reproduktiven Rechte vermehrt von konservativen republikanischen Politiker:innen angegriffen wird. Mehrere Bundesstaaten haben nach dem Grundsatzentscheid Gesetze erlassen, die das Abtreibungsrecht verschärfen oder sogar fast ganz abschaffen. Bisher konnten diese in den jeweiligen Staaten nicht greifen. Sobald das Roe-Urteil kippt, treten die sogenannten „Trigger-Gesetze“ automatisch in Kraft. Das ist etwa in Kentucky, Missouri und elf anderen Staaten der Fall.
Andere Staaten, etwa Alabama und Mississippi, haben Abtreibungsverbote und Beschränkungen, die bereits vor dem Präzendzfall Roe gegolten hatten, derzeit verfassungswidrig sind und nach Roe wieder greifen können.
In Texas ist das 6-Wochen-Abtreibungsgesetz bereits seit September 2021 eingeführt. Präsident Biden hat die Einführung des texanischen Abtreibungsgesetzes als „beispiellosen Angriff auf die verfassungsrechtlichen Rechte der Frau nach Roe v. Wade“ bezeichnet. Dennoch hat der Supreme Court vergangenen Dezember beschlossen, dass der sogenannte „Heartbeat Bill“ in Kraft bleiben soll. Die Klagen gegen das Gesetz laufen weiterhin.
Für Abtreibungsbefürworter:innen ist das strenge Abtreibungsgesetz in Texas ein bitterer Vorgeschmack auf eine mögliche Zukunft ohne das Roe-Urteil. Sie kritisieren etwa, dass das texanische Abtreibungsgesetz nicht ausreichend Zeit gebe, um eine potenzielle Abtreibung vorzunehmen. Erhebungen der Bürgerrechtsorganisation ACLU zeigen etwa, dass bei rund 85 bis 90 Prozent der Schwangeren in Texas ein Schwangerschaftsabbruch erst nach der sechsten Woche vollzogen wurde.
Schwangere Personen aus Texas, die eine Abtreibung vornehmen wollen, müssen dazu in einen anderen US-Bundesstaat reisen. Wenn nun der Fall von Roe kippt und die Hälfte der Bundesstaaten Abtreibungen verschärfen oder ganz kriminalisieren, könnte das die Realität von vielen Schwangeren werden, die abtreiben möchten.
„Menschen, die über Ressourcen verfügen, werden immer in der Lage sein, die von ihnen benötigte Versorgung zu erhalten“, sagt Neesha Davé auf Englisch gegenüber dem Texas Tribune. Sie ist stellvertretende Direktorin des Lilith Fund, einer Organisation für reproduktive Rechte in Texas. Schwangere aus marginalisierten Gruppen sind hingegen besonders hart von verschärften Abtreibungsgesetzen betroffen, da ihnen systematisch weniger Ressourcen wie Zeit oder Geld zur Verfügung stehen, um für eine Abtreibung meilenweit zu reisen. „Wir werden auf jeden Fall Menschen sehen, die gegen ihren Willen gezwungen werden, schwanger zu bleiben“, sagt Davé.
Wie ist die Situation in Deutschland?
Abtreibungen sind in Deutschland seit 150 Jahren nach Paragraf 218 des Strafgesetzbuchs illegal und nur unter bestimmten Bedingungen straffrei. Außerdem galt lange Zeit nach Paragraf 219a ein sogenanntes Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche. Dieses möchte die Bundesregierung nun streichen. Sie weist in ihrem aktuellen Gesetzentwurf darauf hin, dass ein solches Werbeverbot den Zugang zu fachgerechter medizinischer Versorgung sowie die freie Arztwahl behindere. Die Bundesregierung schreibt: „Ärztinnen und Ärzte müssen Frauen unterstützen können, ohne eine Strafverfolgung befürchten zu müssen.“
Das Netzwerk Doctors for Choice Germany, das über Abtreibungen aufklärt, begrüßt das Vorhaben. Das Netzwerk betont aber in einer Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf, dass Ärzt:innen auch nach der Streichung des Paragrafen 2019a mit Diffamierungen und Anfeindungen rechnen müssten. Immer wieder belästigen und belagern Abtreibungsgegner:innen Organisationen und Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche unterstützen oder vornehmen. Abtreibungen sind also auch in Deutschland gesellschaftlich stigmatisiert.
Müssen sich ungewollt Schwangere davor sorgen, dass auch in Deutschland Datenhändler Standortdaten und Gesundheitsdaten, die im Zusammenhang mit Schwangerschaften stehen, verkaufen?
Wenn Nutzer:innen den Apps die Standortberechtigung erteilen, stimmen sie dabei der Datensammlung durch die Software zu. Die mobilen Anwendungen können die erhobenen Standortdaten von Deutschen zwar auch an Drittanbieter verkaufen, benötigen dafür aber eine Einwilligung der Nutzer:innen. Dennoch gibt es einzelne Apps, die gegen diese Einwilligungsregel verstoßen.
Zu diesem Schluss kommt das Informationsportal Mobilsicher. Das Portal untersucht Apps nach ihren Zugriffsrechten und welche persönlichen Daten die Apps erheben. Insgesamt enthält die Datenbank von Mobilsicher Testergebnisse von rund 30.000 Android-Apps. Mobilsicher hat bei circa 3.000 davon einen aufwändigen Volltest durchgeführt, der etwa untersucht, ob ein Standort übertragen wird.
Miriam Ruhenstroth von Mobilsicher sagt gegenüber netzpolitik.org:
Wir sehen in der Praxis durchaus Apps, die im deutschen Playstore zur Verfügung stehen und die Standortdaten der Nutzenden ohne Einwilligung an Drittanbieter weitergeben.
Allerdings sei das nur bei etwa 5 bis 10 von 3.000 mobilen Anwendungen der Fall, so Ruhenstroth. Als Beispiel nennt sie etwa die App „MyFuelLog2“, eine Tank-App, mit der Nutzer:innen etwa aufzeichnen können, wo sie ihr Fahrzeug getankt und wie viel sie dafür ausgegeben haben. Mobilsicher gibt an, dass die Software Standortdaten an die US-amerikanische Firma Foursquare übermittelt.
Foursquare analysiert ähnlich wie SafeGraph die Standortdaten und teilt die Besucher:innen anhand der Orte, die sie besuchen, in bestimmte Kategorien ein. Das Unternehmen verkauft diese Standortinformationen dann an andere Dienstleister weiter. Es ist also durchaus möglich, dass Datenhändler an Informationen über die Standortaufenthalte von Deutschen gelangen.
Es ist dennoch sehr unwahrscheinlich, dass Standortdaten von Deutschen, die Aufschluss über Besuche bei Kliniken oder Gynäkologen geben, weiterverkauft werden. Schließlich handle es sich dabei um Gesundheitsdaten, die durch die Europäische Datenschutzgrundverordnung besonders geschützt sind, sagt Ruhenstroth. „Für die Abfrage solcher Daten ist die Einwilligung, die Apps in der Regel einholen, auf keinen Fall ausreichend.“
In Deutschland ist also die Sorge kleiner, dass Abtreibungsgegner:innen Standortinformationen über unsere Aufenthalte in Abtreibungskliniken kaufen. Doch ein Blick auf die USA zeigt, wie wichtig es ist, sensible Informationen im Netz zu schützen.
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