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Massenüberwachung: Vernichtende Kritik für die Chatkontrolle aus Verbänden und Politik

EU-Innenkommissarin Ylva Johansson
Bisher kam die Kritik an der Chatkontrolle nicht bei EU-Innenkommissarin Ylva Johansson an. Doch die Vehemenz hat sich nach der Präsentation der Pläne deutlich gesteigert. (Archivbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Frank Ossenbrink

Am Mittwoch hat die EU-Kommission ihre Pläne für eine „Chatkontrolle“ vorgestellt – die Reaktionen darauf aus Presse, Zivilgesellschaft und Politik sind vernichtend. In Berlin wurde sogar schon auf der Straße demonstriert. Die Pläne der EU-Kommission sehen vor, dass Internetanbieter private Kommunikationsinhalte durchsuchen sollen. Die Kommission will so gegen sexuelle Gewalt gegen Kinder vorgehen. 

Für den Deutschen Kinderschutzbund geht der Entwurf der Kommission zu weit. Der Vorstand des Vereins, Joachim Türk, äußert gegenüber dem Bayerischen Rundfunk Bedenken gegen die massenhafte Überwachung privater Chatnachrichten. Der Großteil von Kindesmissbrauchsinhalten werde über Plattformen und Foren geteilt. Das Scannen privater Nachrichten sei „weder verhältnismäßig noch zielführend.“

„Weder verhältnismäßig noch zielführend“

Der Deutsche Journalisten-Verband sieht im Vorhaben die „größte europäische Datenüberwachung aller Zeiten“ und fürchtet massive Eingriffe in Grundrechte wie die Presse- und Meinungsfreiheit. Der Verband fordert deshalb vom EU-Parlament und von den nationalen politischen Entscheidungsträger:innen, den Überwachungsplänen der Brüsseler Kommission die Zustimmung zu verweigern.

Auch die Bürgerrechtsorganisation Gesellschaft für Freiheitsrechte sagt, dass die EU-Kommission mit dem Vorschlag zur Chatkontrolle die Axt an die Grundrechte anlege. „Journalist:innen, Anwält:innen, Whistleblower:innen und alle anderen, die auf vertrauliche Kommunikation angewiesen sind, werden durch die Chatkontrolle erheblichen Risiken ausgesetzt, die grundrechtlich nicht zu rechtfertigen sind“, heißt es in einer Erklärung.

„Ausgeklügeltste Massenüberwachungs-Maschinerie außerhalb Chinas“

Matthew Green, einer der profiliertesten Forschenden zu Verschlüsselung, zeigt sich auf Twitter schier fassungslos über die Pläne der Kommission. Das Dokument beschreibe „die ausgeklügelteste Massenüberwachungs-Maschinerie, die je außerhalb Chinas und der UdSSR“ entwickelt worden sei.

Die Kommission will nicht nur nach bekannten und neuen Bildern suchen, sondern auch die Anbahnungsversuche im Text von Nachrichten ins Visier nehmen („Grooming“). Daher laufe das geplante Gesetz auf eine Massenüberwachung aller Nachrichten hinaus, so Green, ein „furchterregendes“ Szenario. Er bezeichnet es als „Science Fiction“, dass eine „Künstliche Intelligenz“ Nachrichten treffsicher auf solche Inhalte scannen könne und dabei die Privatsphäre der Betroffenen wahre. So etwas existiere heute schlicht nicht.

Der Kryptologe Alec Muffett weist darauf hin, was das geplante System konkret bedeuten würde: Viele Menschen kommunizieren via Messenger mit ihren Kleinkindern, Enkeln oder Nichten, sei es, um ihnen in der Badewanne etwas vorzusingen zur Schlafenszeit. Sie müssten davon ausgehen, dass die Bilder in Zukunft auf dem Schreibtisch von Behörden landen. Das würde auch Familien betreffen, die sich Fotos ihrer Kinder in Chatgruppen hin und her schicken, vielleicht vom Strand oder aus dem Freibad.

„Gefährlicher Tabubruch“

Auch einzelne Politiker:innen der Ampelparteien melden sich zu Wort und Verurteilen den Vorschlag der EU-Kommission. Die FDP-Politikerin und ehemalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger äußerte sich auf Twitter, der Entwurf überschreite „alle Vorstellungen“. Das Recht auf Verschlüsselung werde unmöglich gemacht. Auch die grüne Europaabgeordnete Alexandra Geese zeigt sich empört: „Kinder werden durch mehr Personal für Ermittler*innen und Jugendschutz geschützt, nicht durch systematisches Ausspionieren.“ Die Chatkontrolle sei ein gefährlicher Tabubruch.

Der SPD-Europaabgeordnete Timo Wölken bezeichnete den Entwurf auf Twitter als „Katastrophe“. Er sei „alles, was das Überwachungsherz begehrt“. Der digitalpolitische Sprecher der SPD im Bundestag, Jens Zimmermann, twitterte „Das gehört eher nach Russland, als nach Europa. #Zensursula lässt grüßen“. Der FDP-Europaabgeordnete Moritz Körner twitterte: „Von der Leyen will staatliche Schnüffelsoftware bereitstellen und Unternehmen verpflichten, ihre User zu überwachen.“

„Verschlüsselung wird obsolet“

Der grüne Innenpolitiker Konstantin von Notz bloggte zum Thema. Das Recht auf die anonyme und pseudonyme Nutzung des Internets würde mit dem Vorhaben offen in Frage gestellt, Verschlüsselung bewusst umgangen. Algorithmische Systeme seien völlig unausgereift. „Der Vorschlag legt somit die Axt an das Recht auf Vertraulichkeit der privaten Kommunikation.“

Der grüne Digitalpolitiker Tobias Bacherle sieht mit dem Entwurf das Grundrecht der EU-Bürger:innen auf Vertraulichkeit der privaten Kommunikation verletzt. Für dessen Schutz habe sich die Ampelkoalition im Koalitionsvertrag klar positioniert. Bacherle weiter: „Die Verordnung könnte schnell zu einer Vorlage und Blaupause für autoritäre Staaten werden, die sich sicherlich freuen diese Methode der Massenüberwachung ausgeweitet zu übernehmen.“

Henning Tillman vom netzpolitischen Verein D64 hält die EU-Pläne für „mehr als bedenklich“, sie müssten dringend gestoppt werden. Bei Load e.V. sieht man den Vorschlag ebenso kritisch, fürchtet um die anonyme Nutzung von Apps und geht davon aus, dass die Chatkontrolle Verschlüsselung „obsolet“ machen würde.

„Nicht mit europäischen Werten vereinbar“

Auch der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber geht mit dem Entwurf hart ins Gericht: Dieser sei „nicht vereinbar mit unseren europäischen Werten und kollidiert mit geltendem Datenschutzrecht.“ So bedrohe der Entwurf die Vertraulichkeit der Kommunikation, die absichtliche Schwächung von verschlüsselter Kommunikation öffne Missbrauch Tür und Tor. Zudem sei das anonyme Internet bedroht. Verpflichtende Alterskontrollen würden dafür sorgen, dass Nutzer:innen identifiziert würden

Beim Spiegel nennt Journalist Patrick Beuth das Vorhaben „Ein Gesetz aus dem Überwachungs-Phantasialand“. Der Entwurf stecke „voller Widersprüche und Wunschdenken“. Beuth fragt: „Wie weit muss die EU-Kommission gehen, um mit den Regierungen von China und Russland in einen Topf geworfen zu werden?“

Diesen Vergleich zieht auch Journalist Friedhelm Greis in seinem Golem-Kommentar „Ein totalitärer Missbrauch von Technik“: Chatkontrolle gebe es nicht einmal in China und Russland, heißt es dort. Die Pläne seien ein harter und beispielloser Angriff auf wichtige Grundrechte und könnten die Bahn für eine Totalüberwachung sämtlicher Kommunikationsinhalte brechen. „Eine solch anlass- und verdachtslose Überwachung der gesamten Bevölkerung kennt man eigentlich nur von autoritären und totalitären Regimes.“


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