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Internet und Zivilgesellschaft: Der digitale Raum wird enger

Demonstration auf der Straße, Banner mit Schriftzug "Black Lives Matter"
Black Lives Matter ist ein Beispiel für die emanzipatorische Kraft des Netzes: Aus einem Hashtag ist eine Bewegung geworden Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Nicole Baster

Dieser Beitrag erschien erstmals im aktuellen „Atlas der Zivilgesellschaft“. Der Bericht zur weltweiten Lage der Grundrechte wird jährlich von Brot für die Welt veröffentlicht und beschäftigt sich dieses Jahr mit der Frage, welche Rolle Digitalisierung bei der Sicherung oder Einschränkung dieser Freiheiten spielt.


Es gibt eine alte Erzählung, die sagt: Das Internet ist unzensierbar. Die dezentrale Organisation der Infrastruktur mache sie immun gegen Kontrolle, glaubten viele. Die globale ­Vielfalt der Stimmen werde fast von allein für Demokratie sorgen, die Körperlosigkeit der Begegnungen für ein Ende von Diskriminierung. „Wir erschaffen eine Welt, in der jede:r Einzelne an jedem Ort die eigenen Überzeugungen zum Ausdruck ­bringen kann, ohne Angst, zum Schweigen oder zur Konformität ­gezwungen zu werden“, schrieb der US-Bürgerrechtler John Perry Barlow 1996 in seiner „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“.

Als 15 Jahre später der Arabische Frühling anbrach, schien es, als werde diese Utopie wahr. Durch die Straßen Nordafrikas und der Arabischen Halbinsel zogen damals nicht nur Zehntausende Demonstrant:innen und der ­Geruch von Tränengas, sondern auch die Idee dezentraler und vernetzter Massenproteste. Immer mehr Menschen taten im Netz ihren Unmut über repressive Politik und die katastrophale wirtschaftliche Lage kund, verabredeten sich zu Demonstrationen und ­teilten ­Bilder davon, die die staatlichen Medien ­zurückhielten.

Für einen ­Moment sah es so aus, als würde die arabische Welt mit Hilfe digitaler Medien alle autokratischen Herrscher abschütteln.

Immer weniger Internetfreiheit

Aus heutiger Sicht weiß man: Die Hoffnung, dass die ­Aufstände die politische Struktur der Region nachhaltig demokratisieren könnten, hat sich kaum erfüllt. Aktivist:innen aus der Region wurde zudem schnell deutlich, wie euro­zentrisch die westliche Rede von „Facebook- und Twitter-­Revolutionen“ war. Soziale Medien mögen als Verstärker des Protests gewirkt haben, doch das Rückgrat der Aufstände waren lokale Strukturen und oftmals ganz analoge Netzwerke des Widerstands.

Vor allem aber wirkten die Aufstände als Weckruf für die Diktatoren dieser Welt, ihre Regime digital aufzurüsten: Sie installierten Netzsperren und bemächtigten sich der digitalen Infrastruktur, erließen Zensurgesetze und kauften im Westen Überwachungstechnologie. Wo dies schon vorher geschehen war, wurden digitale Protestposts schnell zu Beweismitteln: Unzählige Blogger:innen und Online-Aktivist:innen ­landeten im letzten Jahrzehnt im Gefängnis. Zum zwölften Mal in Folge konstatierte die NGO Freedomhouse 2021, dass die Internetfreiheit gegenüber dem Vorjahr kleiner geworden ist.

Heute wissen wir, dass das Internet beides zugleich ist: Ein Medium der Freiheit und ein Medium der Kontrolle – je nachdem, wie es technisch, sozial und politisch gestaltet wird. In vielen demokratischen Staaten etwa hat das Internet zu einer weiteren Demokratisierung der Öffentlichkeit beigetragen. So viele Menschen wie noch nie haben heute einfachen Zugang zu Wissen, Kultur und Diskursen. Damit haben sich auch die Spielräume zivilgesellschaftlicher Akteur:innen für Organisation und Mobilisierung erweitert, konnten marginalisierte Gruppen sich Gehör verschaffen.

Internet: Sowohl Hilfe als auch Gefahr

Durch das ­Hashtag-Prinzip von Social-­Media-Plattformen wie Twitter konnten beispielsweise die vielen Einzelstimmen Schwarzer US-Amerikaner:innen zu einer politischen Bewegung werden. Vernetzt durch das Schlagwort #BlackLivesMatter waren sie ein mächtiger Chor, der Alltagsrassismus und Polizeigewalt anklagt. Ein anderes Beispiel für kollektive Kraft der Hashtags sind feministische Initiativen wie #Aufschrei in Deutschland, #ShutItAllDown in Namibia  oder #MeToo weltweit. Auch wenn sich dadurch ­allein noch nicht Verhältnisse ändern: Nie zuvor konnten Menschen ihren alltäglichen Erfahrungen mit ­sexualisierter Gewalt und Diskriminierung so erfolgreich Gehör verschaffen wie heute.

Doch auch rechtspopulistische und rechtsextreme Akteur:innen wissen die neuen Möglichkeiten zu nutzen ‒ oft mit dem Ziel, jene Marginalisierten zum Schweigen zu bringen, die sich gerade erst ermächtigt sahen. Studien zeigen, dass im Netz insbesondere Frauen, queere Menschen und solche mit Migrationshintergrund angefeindet werden und sich immer öfter aus der digitalen Öffentlichkeit zurückziehen. Derweil hat wohl kein Politiker so sehr von den Sozialen Medien profitiert wie Ex-Präsident Donald Trump. Die Targeting-Werkzeuge der Plattformen halfen seinem Wahlkampf 2016, ­gezielt Schwarze US-Bürger:innen zu demobilisieren, Facebooks Algorithmen belohnten seine polarisierende Rhetorik und blanke Desin­formation mit unglaublicher Reichweite.

Dass im Ringen um die demokratische Öffentlichkeit am Ende nicht diejenigen Akteur:innen die Oberhand behalten, die die Demokratisierung am liebsten rückgängig machen würden, ist keineswegs ausgemacht. Die Situation wird dadurch erschwert, dass mit den Sozialen Medien die wichtigsten Arenen der Netzöffentlichkeit von wenigen hyperkapitalistischen Konzernen betrieben werden. Sie haben Diskurse lange Zeit nur nach eigenem Gutdünken moderiert, geleitet allein von Profitstreben. Seit Jahren ringt die Politik deshalb darum, wie Plattformkonzerne und mit ihnen die digitale Öffentlichkeit zu regulieren sind.

Nicht selten schießen sie dabei mit hehren Absichten über das Ziel hinaus. Deutschland etwa erhöht über das Netzwerkdurchsetzungsgesetz seit 2017 den Druck auf Facebook und Co., rechtswidrige Inhalte schnell zu löschen. Doch welche ­Äußerungen verboten sind und welche nicht, ist oft diffizil. Das abzuwägen, bleiben den Klickarbeiter:innen der Plattformen oft nur wenige Sekunden, im Zweifelsfall löschen sie lieber zu viel. Erst 2021 verpflichtete eine Reform des Gesetzes die Unternehmen, ihren Nutzer:innen geordnete Widerspruchsverfahren zu ermöglichen und zu Unrecht gelöschte Inhalte wiederherzustellen.

Unterdessen werden Innenminister:innen auch in Demokratien nicht müde, die staatliche Überwachung digitaler Räume auszubauen. Sie wollen Zugang zu verschlüsselten E-Mails und Messengern, verpflichten Telefon- und Internetanbieter zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung von Nutzungsdaten und versuchen, mit Gesichtserkennung und biometrischer Überwachung auch die analoge Welt noch besser im Blick zu haben.

Digitaler Aufruf, analoger Protest

Diesem wachsenden Kontrolldruck zum Trotz überwiegt in vielen liberalen Demokratien die emanzipatorische Wirkung des Internets. Bürger:innen dokumentieren mit Smartphones Polizeigewalt und rassistische Übergriffe, Aktivist:innen zwingen den Staat zu Transparenz und Blogger:innen schaffen ­zivilgesellschaftliche Gegenöffentlichkeiten.

Auch die Erfolge von globalen Umweltbewegungen wie ­Fridays for Future oder Extinction Rebellion wären ohne digitale Hilfsmittel kaum denkbar. Für die Planung von Aktionen, die Organisation von Ortsgruppen und die Koordination von Forderungen sind Messenger und kollaborative Online-Tools unersetzlich. Zudem verstehen die jungen ­Klimaaktivist:innen wie kaum jemand vor ihnen, analogen Protest und Aktionen des zivilen Ungehorsams mit digitalen Medien zu verbinden.

Auch in Ländern wie Uganda und Indien streiken junge Menschen für das Klima, auch dort bedienen sie sich geschickt der Sozialen Medien. Doch während die Aktivist:innen mit Fakten überzeugen wollen, sind die Sozialen Medien in vielen Ländern des Globalen Südens zur Brutstätte von Desinformation, Hass und Gewalt geworden. Denn dort gehen die Plattformen noch weniger effektiv dagegen vor als in den USA und in Europa.

Die Facebook Papers zeigten 2021 etwa, wie der Konzern in Indien oder Äthiopien versagt, irreführende Posts und Aufrufe zu Gewalt zu unterbinden. Das Unternehmen gibt schlicht nicht genug Geld für Faktenprüfer:innen, Moderator:innen und ­algorithmische Erkennungssysteme mit den richtigen Sprachkenntnissen aus. Weil ihre sortierenden Algorithmen Inhalte belohnen, die besonders emotional und polarisierend sind, wirken sie oft wie ein Brandbeschleuniger.

Nichtsdestotrotz finden Menschen in repressiveren Staaten immer wieder Wege, die Sozialen Medien auch für ihren Wider­stand zu nutzen. Im Iran etwa, wo Frauen auf ­Instagram Fotos und Videos von sich beim Tanzen und ohne Kopftuch posteten, um gegen die sexistische Moralpolitik des Mullah-Regimes zu protestieren. Oder in Nigeria, wo sich 2020 vor allem junge Menschen unter dem Hashtag #EndSARS auf Twitter zusammenschlossen, um auf Gewalt durch die Polizei­einheit Special Anti-Robbery Squad (SARS) aufmerksam zu machen und Proteste zu organisieren.

Die Reaktion der Regierenden auf solche Aktionen ist häufig gleich: Sie nutzen ihre Macht über die Telekommunikationsinfrastruktur und lassen den Zugang zu den Diensten sperren. Im Iran sind Facebook und Twitter seit langem nicht zu erreichen, auch Instagram war zwischendurch blockiert. In Nigeria ließ Präsident Muhammadu Buhari als Reaktion auf den Protest Twitter für einige Zeit sperren, in der Türkei war ­Wikipedia über Jahre unzugänglich. Einigen Menschen gelingt es, die Sperren mit Verschlüsselungs- und Anonymisierungswerkzeugen zu umgehen, doch gegen digitalen Massenprotest sind die Netzsperren oft ein wirksames Mittel.

Technisches Katz-und-Maus-Spiel

Immer wieder greifen Regierungen zu noch drastischeren Maßnahmen und lassen das Internet im Land oder einigen Regionen gleich ganz abschalten. 155 Shutdowns dieser Art zählte die NGO Access Now allein in 2020, von Belarus über Myanmar bis nach Indien, das die Liste mit 109 Internet­abschaltungen anführt. Insgesamt summierten sich die ­Shutdowns in dem Jahr auf mehr als 3.000 Tage ‒ insbesondere vor Wahlen oder während Protesten.

Kaum maßvoller sind die in vielen Staaten erlassenen Zensurgesetze für Soziale Medien und andere digitale Räume. Diese werden zwar häufig als Maßnahmen gegen Terrorpropaganda, Cyberkriminalität oder Fake News getarnt. Doch sie zielen mit schwammig formulierten Vorgaben und drastischen Sanktionsmöglichkeiten fast immer darauf ab, den Diskurs im Netz zu kontrollieren, ohne die Dienste gleich ganz sperren zu müssen. Nicht selten berufen sich Machthaber wie der russische Präsident Vladimir Putin oder der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan dabei explizit auf Deutschland und das Netzwerkdurchsetzungsgesetz als Vorbild. Allzu häufig fügen sich die US-Plattformkonzerne, weil sie nicht den Zugang zu lukrativen Märkten verlieren wollen.

Vervollständigt wird der Instrumentenkoffer der staatlichen Kontrolle digitaler Räume schließlich durch Überwachung. Etwa in Hongkong, wo die Demokratiebewegung ihre Proteste über verschlüsselte Messenger und Bluetooth-Kommunikation organisierte und die Geräte verhafteter ­Oppositioneller zur Analyse nach China geschickt wurden. Oder in Mexiko, wo mit dem Pegasus-Trojaner Oppositionelle, Journalist:innen und Geistliche überwacht wurden. Nicht erst seit diesem Skandal ist klar: Oft sind es Firmen aus dem Westen, auch aus Deutschland, die den Überwachungsstaat im Globalen Süden mit hochrüsten.

Die Verantwortung des Westens

Ein gutes Jahrzehnt nach dem Arabischen Frühling ist klar: Derlei vernetzte Massenproteste sind heute vielerorts kaum noch möglich. Zu fest haben die Autokraten das Internet im Griff, zu gut lassen sich digitale Technologien zur Kontrolle nutzen. Und doch blitzt das emanzipatorische Potenzial als Freiheitsmedium immer wieder auf. Viele Aktivist:innen ­liefern sich heute ein technisches Katz-und-Maus-Spiel mit den Behörden, umgehen Zensur mit Anonymisierungsdiensten und setzen auf verschlüsselte Messenger.

Dass emanzipatorische Möglichkeiten des Netzes ausgebaut werden, ist deshalb auch eine Aufgabe westlicher Staaten. Zu selten haben sie im Blick, dass sich die eigenen Regulierungsentscheidungen auf die digitalen Räume in weniger demokratischen Staaten auswirken.

Wenn etwa deutsche Behörden das Wissen über Schwachstellen in weit verbreiteten IT-Systemen horten, statt diese Sicherheitslücken zu schließen, weil sie sie für digitale Waffen benötigen, dann macht das auch Geräte von Oppositionellen in autoritären Systemen angreifbar. Wenn die Forderung europäischer Innenminister:innen nach Hintertüren zu verschlüsselten Messengern und E-Mails umgesetzt wird, dann gefährdet das auch die Kommunikationsfreiheit von Journalist:innen in repressiven Staaten. Und wenn die EU Plattformen verpflichtet, automatische Upload-Filter gegen Urheberrechtsverletzungen einzurichten, dann freuen sich illiberale Machthaber über die Etablierung einer Infrastruktur, die sich leicht für Zensur missbrauchen lässt.

Regierungen und Unternehmen in Europa und den USA tragen eine große Verantwortung für die digitalen Infrastrukturen weltweit. Wenn das Internet sein emanzipatorisches Versprechen weltweit einlösen soll, sind wir alle gefragt.

(Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Brot für die Welt. Alle Rechte vorbehalten.)


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